Bei den Wahlen zum Verfassungskonvent in Chile setzten sich progressive Kräfte durch

Chile hat ausgeschlafen

Die Wahlen zum chilenischen Verfassungskonvent haben die Progressiven gewonnen, die konservativen Regierungsparteien erzielten nicht einmal eine Sperrminorität. Die Verfassung der Pinochet-Diktatur könnte schon bald Geschichte sein.

Vor mehr als anderthalb Jahren gingen in Chile über eine Million Menschen auf die Straße. Unter dem Slogan #ChileDespertó (Chile ist aufgewacht) protestierten sie gegen die neoliberale Regierungspolitik und brachten einen Prozess in Gang, der voraussichtlich nächstes Jahr zur Verabschiedung einer neuen Verfassung führen wird. Seit der Wahl, die Mitte Mai stattfand, steht nun fest, wer diese Verfassung ausarbeiten wird: vor allem Progressive und Parteiunabhängige.

Wer in Chile stimmberechtigt ist und am Wochenende des 15. und 16. Mai ein Wahllokal betrat, bekam vier Wahlzettel ausgehändigt: Je einen für die Wahlen der Kommunalregierungen, Stadträte und Bürgermeister – und den für die Wahl zum Verfassungskonvent. Über 1 300 Personen hatten für einen Sitz in dem Gremium kandidiert, das nun eine neue Verfassung für das Land ausarbeiten wird.

Dass es überhaupt zur Wahl dieses Konvents kam, ist ein Erfolg der Straßenproteste. Diese begannen am 18. Oktober 2019, als zuerst Schülerinnen und Schüler gegen Preiserhöhungen im öffentlichen Nahverkehr protestierten. Schon bald gingen große Teile der Bevölkerung gegen die neoliberale Regierungspolitik auf die Straße. Die Proteste dauerten monatelang an. Sie richteten sich nicht nur gegen die rechtskonservative Regierung von Präsident Sebastián Piñera, sondern gegen all jene Parteien, die seit dem Ende der Militärdiktatur im Jahr 1990 regiert, dessen neoliberale Politik aber unbeirrt immer weiter vorangetrieben hatten. So ist etwa das Renten-, das Gesundheits- und das Bildungssystem in Chile weitgehend privatisiert.

Grundlegend ändern könnte sich das alles nur mit einer neuen Verfassung – eine solche zu erarbeiten, war eine Hauptforderung der Protestierenden. Sie soll die Verfassung aus dem Jahr 1980 ersetzen, die unter dem Diktator Augusto Pinochet ausgearbeitet worden war und die politische Autonomie des Militärs sowie den Einfluss der konservativen Führungsschicht weit über das Ende der Diktatur hinaus ­sicherte.

Nach einem Monat landesweiter Proteste hatten die politischen Parteien am 15. November 2019 eingewilligt, ein Referendum über die Ausarbeitung ­einer neuen Verfassung abzuhalten. Im Oktober 2020 stimmten fast 80 Prozent der Wählerinnen und Wähler dafür, eine Verfassunggebende Versammlung einzuberufen. Fast ebenso viele stimmten dafür, diese Versammlung komplett mit eigens gewählten Mitgliedern zu besetzen und nicht etwa zur Hälfte mit den amtierenden Parlamentsabgeordneten – ein Novum in der chilenischen Geschichte. Der Verfassungskonvent wird außerdem zu gleichen Teilen mit Männern und Frauen besetzt, 17 der 155 Sitze sind für die indigenen Gemeinschaften reserviert.

Das Referendum war der Beginn eines einzigartigen Wahlkampfs. Neben Parteipolitikerinnen und -politikern kandidierten auch viele Unabhängige für den Konvent. Viele von ihnen kamen aus sozialen, feministischen oder ökologischen Protestbewegungen oder aus den Gewerkschaften. Das nun vorliegende Wahlergebnis beschrieben internationale Medien wie die spanische Zeitung El País als »politisches Erdbeben«. Keine Prognose hatte den großen Erfolg von Parteiunabhängigen vorausgesehen. Stattdessen befürchteten viele, die konservativen Regierungsparteien könnten mit ihrer Liste »Vamos por Chile« ein Drittel der Sitze und damit eine Sperrminorität ergattern. Das war nicht der Fall: 48 der 155 Sitze gingen an parteiunabhängige Listen, 40 weitere an unabhängige Kandidatinnen und Kandidaten, die auf Partei­listen angetreten waren. Die Konservativen, die vor allem in den zentralchilenischen Regionen und den wohlhabenden Vororten der Hauptstadt Santiago erfolgreich waren, erhielten zwar etwa 24 Prozent der Stimmen und 37 Sitze im Konvent, trotz einer aufwendigen Wahlkampagne jedoch keine Sperrminorität. Umgerechnet etwa sechs Millionen Euro hatte der Wahlkampf von »Vamos por Chile« gekostet, wie das Rechercheportal Ciper berichtet.

Die beiden linken Parteilisten Apruebo und Apruebo Dignidad werden 25 beziehungsweise 28 Plätze be­setzen. Die Regel der Geschlechterparität musste überraschend häufiger zugunsten der Männer angewendet werden: Wie Recherchen von Ciper zeigen, mussten sieben gewählte Frauen und vier Männer ihre Plätze an Kandidatinnen und Kandidaten des jeweils anderen Geschlechts abgeben. Dem Verfassungskonvent gehören nun 78 Männer und 77 Frauen an. Feministische Bewegungen hatten bei den Protesten von Anfang an eine große Rolle gespielt. Im März 2020 gingen zum Internationalen Frauenkampftag in Chile mehr Menschen auf die Straße als je zuvor.

Gewählt wurden auch die 17 Vertreterinnen und Vertreter der indigenen Gemeinschaften. Die Machi Francisca Linconao etwa – Machis sind traditionelle Heilerinnen und Heiler und eine indigene Autorität der Mapuche – personifiziert den Kampf um das Land der Indigenen in der Region Araucanía. Welche Rolle indigenen Gruppen in der neuen Verfassung zukommen wird, ist für viele eine der Kernfragen, die der Verfassungskonvent beantworten muss.

Das Wahlergebnis ist eine deutliche Absage an die etablierten Parteien, ­allen voran die der Regierung. Die Zeitung El Mostrador titelte gar: »Die Partei der Ordnung ist gestorben.« Dass so viele Parteiunabhängige es in den Verfassungskonvent geschafft haben, ermöglicht grundlegende Änderungen im politischen System des Landes.

Rechnungen chilenischer Medien zufolge gehören 77 der gewählten Vertreterinnen und Vertreter dem linken Lager an. Sie streben einen Wandel an, weg von dem auf Rohstoffausbeutung basierenden neoliberalen Wirtschaftsmodell, das in Chile unter der Militärdiktatur geradezu prototypisch entwickelt worden war, und hin zu einem Staat, in dem soziale Rechte gelten, soziale Bewegungen einen festen Platz in der Politik haben und die Rechte der indigenen Bevölkerung und anderer Minderheiten gestärkt werden. Ob und wie dies in einer Verfassung festgeschrieben werden kann, wird sich nun zeigen.

Der Konvent hat ab Juni zunächst neun, maximal aber zwölf Monate Zeit, um den neuen Verfassungstext aus­zuarbeiten. Entscheidungen erfordern eine Zweidrittelmehrheit. Der neue Verfassungstext muss der chilenischen Bevölkerung im kommenden Jahr zur Abstimmung vorgelegt werden. Stimmt die Bevölkerung ihr nicht zu, bleibt die Verfassung aus der Zeit der Diktatur weiter in Kraft. Doch die Hoffnung auf grundlegenden Wandel ist groß und der Prozess der Ausarbeitung einer neuen Verfassung so weit vorangeschritten wie noch nie.

Dass die Proteste die politische Stimmung auch abseits der Verfassungsfrage verändert haben, zeigen auch die Ergebnisse der Regionalwahlen. Bei ihnen feierten linke Parteien und Parteiunabhängige in mehreren Regionen Erfolge. Im November folgt die Präsidentschaftswahl. Dann wird sich zeigen, ob sich der progressive Siegeszug ­fortsetzt.