Die geplante, angeblich bedarfsgerechte Reform der Psychotherapie ist schädlich

Kassenkampf von oben

Kommentar Von Babsi Clute-Simon

Bundesgesundheitsminister Jens Spahn will die Psycho­therapie reformieren – Gutes ist davon nicht zu erwarten.

Als Gesundheitsminister hat Jens Spahn (CDU) es nicht leicht. Es war sicher nicht einfach, in einer Pandemie neben den eigenen kontinuierlichen Fehlentscheidungen auch noch das Auffliegen diverser Maskendeals zu verkraften. Zwischendurch findet er aber immer wieder Zeit, die Gesundheitspolitik dem eisernen Diktat der Kapitalinteressen unterzuordnen. Ein Änderungsantrag der Regierungsfraktionen im Entwurf des Gesundheitsversorgungsweiterentwicklungsgesetzes (GVWG) soll jetzt auch die Behandlung psychischer Krankheiten optimieren. Der Entwurf liest sich wie die feuchten Träume von Liberalen: Von Qualität ist da viel die Rede, Transparenz soll gewährleistet werden, Leistung (besser!), Vernetzung (stärker!), alles top!

In der Realität ist es eher das Gegenteil von Qualität, das intransparent durch den Antrag in den Gesetzentwurf hineingeschmuggelt wurde: die sogenannte Rastertherapie. Dahinter steckt die Idee, es sei ein Elend, dass, wer an einer psychischen Erkrankung leidet, teilweise jahrelang den Krankenkassen auf der Tasche liegt, und dass die Betroffenen mit mehr Druck schneller wieder zu nützlichen Mitgliedern der Gesellschaft werden könnten. Mit Sicherheit wird Spahn denselben Schwur wie alle in der CDU geleistet haben, bestehende Verhältnisse nur in Richtung weiterer Entmündigung zu verändern. Für die Entlastung der psychisch Kranken ist hier nichts zu erwarten.

Stattdessen wird mal wieder Planbarkeit zum Wert an sich erklärt, was vor allem die gesetzlichen Krankenkassen freuen dürfte. Laut Änderungsantrag zum Gesetzentwurf soll die Bewilligung von Psychotherapien künftig »bedarfsgerecht und schweregradorientiert« erfolgen. Das Bundesgesundheitsministerium will so nach eigener Darstellung die langen Wartezeiten auf eine Psychotherapie verkürzen. Psychotherapieverbände und Betroffene befürchten allerdings, dass sich hinter der Formulierung eine Festlegung und Beschränkung der Therapiestundenzahl verbirgt. Eine bestimmte Diagnose könnte künftig mit einer festgelegten Stundenzahl psychotherapeutischer Sitzungen behandelt werden – mittelschwere Depression: 20 Stunden, Wahnvorstellungen: 40 Stunden, oder so ähnlich. Wer dann noch nicht geheilt ist, hätte Pech gehabt.

Dass dies an der Realität psychischer Erkrankungen und den Möglichkeiten ihrer Heilung völlig vorbeigeht, war schnell allen außer dem Bundesministerium für Gesundheit klar. Ein Vertrauensverhältnis herstellen, sich Zeit nehmen und in Ruhe auf den genauen Ausdruck von Symptomen und den diesen zugrundeliegenden Ursachen schauen, all das würde so unmöglich gemacht. Stattdessen bliebe ein formalisiertes Verfahren, das für die Krankenkassen angenehm einfach planbar und abzurechnen ist. Das ist natürlich wichtiger als die Tatsache, dass es eines der Grundmerkmale psychischer Erkrankungen ist, dass ihre Verläufe stark individualisiert sind und eine erfolgversprechende Behandlung einer depressiven Episode beispielsweise viel mit der bisherigen Biographie zu tun hat.

In der Presse und von zuständigen ärztlichen Verbänden wird der Vorschlag dafür kritisiert, dass er die Lebensrealität der von ihm Betroffenen ignoriere und die Qualität von Psychotherapie in Deutschland nachhaltig verschlechtern würde. Eine Online-Petition gegen die Reform erreichte bis Redaktionsschluss mehr als 188 000 Unterschriften.

Auffällig ist, dass das Rastertherapiemodell immer wieder beschrieben wird als ein Rückfall in »düstere Vorzeiten,« wie beispielsweise die Schauspielerin Nora Tschirner auf Instagram formulierte. Dabei fügt sich der Änderungsantrag eher perfekt in den Geist der Gegenwart ein, der Werte wie Planbarkeit und Rationalisierbarkeit immer mehr auch auf das Innenleben der neurologisch und psychiatrisch erfassten Subjekte überträgt. Dazu kommen die Ähnlichkeiten zu einer der größten zeitgenössischen Verschlechterungen der Gesundheitspolitik, dem Fallpauschalenmodell in Krankenhäusern – statt eines Rückfalls also eher ein durchaus moderne Rationalisierung.

In Spahns Zeit als Minister ist es nicht der erste Vorstoß dieser Art. Im Rahmen des Terminservice- und Versorgungsgesetzes brachte Spahn vor zwei Jahren den Vorschlag ein, die Vergabe von Therapieplätzen besser zu organisieren, indem man diese über ein paar ­zentrale Erstkontakttherapeuten und -therapeutinnen verteilt. Gegen diesen Vorschlag einer zentralen Stelle, die Zugang eher erschwert als erleichtert, haben damals über 200 000 Menschen eine Petition an den Bundestag unterschrieben; ein Rekord für diese Art Petitionen. Das Gesetz wurde 2019 verabschiedet, doch zuvor war besagter Passus nach einem Einlenken Spahns auf Kritik von Öffentlichkeit, Ärztinnen und Bundesrat gestrichen worden.

Eine »Rastertherapie« wäre aber nicht nur ein Angriff auf die hilfsbedürftigen Individuen, wobei auch das schon viele sind: Allein als depressiv sind in Deutschland mehr als fünf Millionen Menschen diagnostiziert. Jede und jeder einzelne gesetzlich Krankenversicherte unter ihnen ist das Ziel dieser Maßnahme. Dass es eben vor allem die »armen Irren« trifft – eine Redewendung, die übrigens daher kommt, dass vor einigen Jahrhunderten noch die Armen wie die »Irren« in dieselben Anstalten weggesperrt wurden –, ist eben kein Zufall, sondern gewollt.