Die lange Flucht einer ­jungen Frau aus dem Senegal

Sechs Jahre im Transit

Die Suche nach einer besseren Zukunft verschlägt Rama Ba bis ans Mittelmeer. Ihren kleinen Sohn muss sie in der Heimat zurücklassen. Die schwierige Reise einer jungen Frau vom Senegal an die Grenze Europas.

Ohne Motor gleitet das Schlauchboot in die Dunkelheit über das Wasser, immer weiter auf das Meer hinaus. An Bord sitzen dicht gedrängt zwölf Passagiere, Männer und Frauen aus Guinea, dem Senegal und der Elfenbeinküste. Mitten in der Nacht sind sie aufgebrochen, in einer kleinen Bucht östlich von Tanger, im Norden Marokkos. Sie haben kaum Gepäck dabei. Nur wenige tragen Rettungswesten. Allein mit Holzpaddeln wollen sie das Mittelmeer überqueren, hier an der Straße von Gibraltar, wo keine 20 Kilometer die Küsten Nordafrikas und Südeuropas trennen. Das Meer ist ruhig. Als der Tag anbricht, zeichnen sich am Horizont die hügligen Umrisse des spanischen Festlands ab.

Wer das nötige Geld hat, bezahlt Schlepper, die mit der marokka­ni­schen Küstenwache Geschäfte machen. Den anderen bleibt nur die selbstorganisierte Fahrt in einem Schlauchboot.

So erinnert sich Rama Ba drei Jahre später, als sie von jenem Morgen Mitte 2017 erzählt. Damals war sie 24 Jahre alt. Nach sechs Stunden auf dem Meer tauchte vor ihnen ein spanisches Rettungsboot auf. Fast gleichzeitig bemerkte Rama Ba, dass sich von hinten ein graues Patrouillenboot näherte. Es trug die rote Flagge der marokkanischen Küstenwache.

Rama Ba heißt eigentlich anders, möchte ihre Lebensgeschichte aber nicht unter ihrem echten Namen erzählen. Sie wurde 1993 im Senegal geboren, einem der ärmsten Länder der Welt. Im jüngsten Human Development Index der Vereinten Nationen belegt das Land Platz 168 von 189, direkt gefolgt von Afghanistan und Haiti. Mehr als die Hälfte der senegalesischen Bevölkerung lebt in Armut.

Als Kind musste Rama Ba barfuß zur Schule gehen, mit ihren Schulheften in einer Plastiktüte. Sie wuchs in Sébikotane auf, einer Kleinstadt am Rand der Metropolregion von Dakar. Das Viertel, in dem sie sich ein sechs Quadratmeter großes Zimmer mit den Eltern und einer Schwester teilte, bestand aus Ziegelhäusern, Sandpisten, zwei Moscheen und ein paar Lebensmittelläden. Die Jugend zog weg, suchte Arbeit in der Hauptstadt. Viele träumten von Europa. Sébikotane liegt an der Nationalstraße N2, die Reisende nach Norden bringt, bis an die Grenze zu Mauretanien. Von dort führt die Fernstraße weiter bis ans Mittelmeer.

Auf der Suche nach einer Perspek­tive

Die Internationale Organisation für Migration (IOM) geht davon aus, dass jedes Jahr Tausende Senegalesinnen und Senegalesen nach Europa aufbrechen. Die meisten von ihnen sind junge Männer. Vor allem fehlende wirtschaftliche Perspektiven und Armut drängen die junge Menschen aus dem Senegal in die Migration, betont Usha Ziegelma­yer, die seit 2017 das Büro der Heinrich-Böll-Stiftung in Dakar leitet, in einer von der Stiftung herausgegebenen Analyse vom Dezember 2020. Auf dem Land gebe es kaum Möglichkeiten, etwas zu verdienen. Hinzu komme der Klimawandel, durch den sich die Lebens­bedingungen in vielen ländlichen Regionen weiter verschlechterten.

Küstenerosion, schwindende Fischbestände, Überflutungen und Dürren verstärkten die Landflucht, aber auch in den Städten finde die junge Generation oft genug keine Arbeit oder nur prekäre Verdienstmöglichkeiten im informellen Sektor, schreibt Ziegelmayer. Von den politisch Verantwortlichen fühlt sich die senegalesische Jugend im Stich gelassen, sagt die Autorin. Angesichts dieser Widrigkeiten erscheint der Traum, sich in Europa eine Existenz aufzubauen, vielen jungen Menschen das Risiko einer ungewissen Reise wert.

Rama Bas Reise beginnt 2015. Sie ist 22 Jahre alt und arbeitet als Hausangestellte einer Familie in Dakar. Ihr Lohn reicht nicht, um für sich und ihren eineinhalbjährigen Sohn zu sorgen. Zu dem Vater ihres Kindes hat sie keinen Kontakt mehr. Die junge Mutter muss allein klarkommen.

Sie beschließt aufzubrechen. Ihr Ziel ist Nouakchott. Die Hauptstadt Mauretaniens liegt 500 Kilometer nördlich von Dakar. Von Freunden hat sie gehört, dort sei es einfach, Arbeit zu finden. In einem Jahr, so ist sich Rama Ba sicher, ist sie wieder zurück. Ihren Sohn lässt sie bei ihrer Mutter in Sébikotane. Im Juni 2015 sieht sie ihn das vorläufig letzte Mal.

Knapp vier Monate später ist Rama Ba auf dem Weg nach Marokko. Die Suche nach Arbeit in Maure­tanien ist erfolglos verlaufen. Doch nach Hause zurückzukehren ist keine Option. Rama Ba hat entschieden, ihr Glück in Tanger zu versuchen. In der nordmarokkanischen Hafenstadt hat sie eine Freundin, bei der sie fürs Erste unterkommen kann.

Drei Nächte im Autowrack

Ende September 2015 erreicht Rama Ba die Stadt Nouadhibou an der Grenze zu der von Marokko besetzten Westsahara. Kurz nach Mitternacht kommt sie am Busbahnhof an. Rama Ba kennt niemanden in der Stadt, weiß nicht, wo sie schlafen soll. In der Nähe des Busbahnhofs spricht sie andere Migranten an, fragt nach Übernachtungsmöglichkeiten. Hilfe erhält sie keine, jedoch eine Warnung: Es sei keine gute Idee, in der Nacht als Frau allein unterwegs zu sein. »Wenn du hier draußen schläfst, werden die Araber Dinge mit dir tun, die dir nicht gefallen werden.« In dieser Nacht nimmt Rama Ba notgedrungen das Angebot eines Senegalesen an. Sie kann bei ihm übernachten. Dafür erwartet der Mann von ihr, mit ihm zu schlafen.

Früh am nächsten Morgen verlässt Ra­ma Ba die fremde Wohnung. Ein Sammeltaxi bringt sie zum Grenzübergang Guerguerat mitten in der Wüste. Am marokkanischen Grenzposten prüft ein Beamter ihre Dokumente. Ihr Reisepass ist nagelneu. Sie hat ihn kurz vor der Abreise aus dem Senegal bekommen. Ungestempelt reicht der Mann ihr den Pass zurück. Da es ihre erste Ein­reise nach Marokko ist, sei diese auf dem Landweg nicht möglich, sagt er ihr. Sie müsse zurück in den Senegal und ein Flugticket kaufƒen.

Ohne Unterkunft, über 1 000 Kilometer von Zuhause entfernt, sitzt Rama Ba in der Wüste fest. Im Niemandsland zwischen Mauretanien und Marokko stößt sie auf ein wildes Camp gestrandeter Migrantinnen und Migranten. Abseits der Straße, an der Schilder vor Minengefahr warnen, stehen im Wüstensand ausrangierte Autos ohne Räder, die zu Zimmern umfunktioniert wurden. Vor den zerschlagenen Fenstern hängen Tücher. Drinnen schlafen die Menschen auf zerschlissenen Sitzen oder alten Matratzen.

Sie trifft auf andere Frauen, die schon seit Monaten hier festsitzen. Aber es sind die Männer, die über die Autowracks verfügen. Als Frau ist man dazu gezwungen, sich mit einem dieser Männer einzulassen, wenn man nicht schutzlos draußen schlafen will. Drei Nächte verbringt sie im Autowrack zweier Senegalesen. Für Schutz und Schlafplatz auf dem Beifahrersitz verlangen die beiden sexuelle Gegenleistungen. Rama Ba hat keine Wahl.

Offizielle Zahlen zu sexueller Ausbeutung von und Gewalt gegen Migrantinnen auf den Migrationsrouten Richtung Mittelmeer gibt es nicht. Doch Erhebungen der Hilfsorganisationen Ärzte ohne Grenzen zeigen, dass die Dimensionen alarmierend sind. Emmanuel Mbolela, der Koordinator eines Rasthauses für Migrantinnen in Rabat, geht davon aus, dass die Mehrzahl der Frauen, die auf dem Landweg nach Marokko reisen, sexuelle Übergriffe erleidet. Hinzu komme, sagt Mbolela der Jungle World, dass es in Marokko kaum Strukturen gebe, um die Frauen bei der Bewältigung von Gewalterfahrungen zu unterstützten. Die Frauen seien dazu gezwungen, einfach weiterzumachen.

An ihrem vierten Tag in der Wüste versucht Rama Ba erneut, die Grenze zu überqueren – dieses Mal mit einer anderen Taktik. Aus ihrer Reisetasche sucht sie sich eine enge Jeans und ein freizügiges Oberteil aus. »Als der Chef der Grenzbeamten mich in diesem Outfit gesehen hat, hat er mich durchgewinkt und auf einen Kaffee eingeladen«, erinnert sie sich.

Auf der marokkanischen Seite geht es mit dem Fernbus weiter. Fünf Tage ist Rama Ba unterwegs, bis sie schließlich Tanger erreicht. Es ist ein Vormittag Anfang Oktober 2015; in vier Monaten hat sie 3 200 Kilometer zurückgelegt. Die Sonne scheint, als ihre Freundin sie am Busbahnhof abholt. Rama Ba ist sich sicher, dass ab jetzt alles besser wird. »Die Stadt war so schön, ich hatte das Gefühl, in Europa gelandet zu sein. Die schicken Gebäude, die neuen Autos auf den Straßen. Ich war mir sicher, ich würde hier viel Geld verdienen.«

Für Migrantinnen und Migranten aus den Ländern Westafrikas ist Marokko sowohl Ziel- wie auch Transitland. In den vergangenen Jahren haben rund 30 000 Migrantinnen und Migranten aus subsaharischen Ländern in zwei Wellen eine Aufenthaltserlaubnis erhalten, sie konnten sich dauerhaft in Marokko niederlassen. Doch leben noch schätzungsweise 40 000 bis 80 000 Menschen ohne legale Aufenthaltspapiere im Land. Die meisten von ihnen arbeiten im informellen Sektor. Als Haushalts- und Küchenhilfen oder Tagelöhner auf dem Bau versuchen sie, über die Runden zu kommen und per Geldtransfer ihre Familien Zuhause zu unterstützen.

Siebenmal bricht Rama Ba nachts auf. Ein Versuch kostet sie fast das Leben. Kurz nachdem sie ins Boot gestiegen ist, erfasst eine Welle das Schlauchboot.

 

Sieben Versuche, das Mittelmeer zu überqueren

In den ersten Monaten nach ihrer Ankunft in Tanger sucht Rama Ba vergeblich nach Arbeit. In dieser Zeit lernt sie viele Migrantinnen und Migranten kennen, die auf dem Weg nach Europa sind. Immer wieder hört sie von geglückten Mittelmeerüberquerungen. »Boza« nennen die Migrantinnen und Migranten die Ankunft in Europa – das Wort gibt es in verschiedenen westafrikanischen Sprachen und heißt so viel wie: »Sieg« oder »Gewonnen.« Angesichts ihrer prekären Situation reift in Rama Ba der Entschluss, die Überfahrt zu versuchen.

Wer das nötige Geld hat, bezahlt Schlepper, die mit der marokkanischen Küstenwache Geschäfte machen. Mindesten 1 000 Euro muss man dafür aufbringen. Den anderen bleibt nur die selbstorganisierte Fahrt in einem Schlauchboot. So auch Rama Ba. Für den nächtlichen Transport aus der Stadt zu den Buchten im Umland bezahlen sie und ihre Mitreisenden die »Automafia«, wie sie scherzhaft die Männer nennt, die viele Migrantinnen und Migranten in einen Kleinwagen quetschen und in der Dunkelheit zur Küste fahren. Ein Guide bringt sie dann auf verschlungenen Pfaden über die Felsen zum Wasser.

Insgesamt siebenmal bricht Rama Ba nachts auf. Ein Versuch kostet sie fast das Leben. Kurz nachdem sie ins Schlauchboot gestiegen ist, wird dieses von einer Welle erfasst, die sie ins Wasser schleudert. Sie schlägt mit dem Kopf auf einem Felsen auf. Der Guide rettet sie, indem er in die Wellen steigt und sie an Land zieht.

Eine Woche später versucht sie erneut ihr Glück. An jenem Tag Mitte 2017, als ihr Schlauchboot beinahe die Küste Spaniens erreicht und ein spanisches Rettungsboot in Sichtweite auftaucht, schneidet die marokkanische Küstenwache ihnen den Weg ab. Zusammen mit den anderen Männern und Frauen wird Rama Ba festgenommen, zum Hafen von Tanger gebracht und dort mehrere Stunden festgehalten. Nur knapp entgeht sie einer Deportation in den Süden.

Senegalesisches Essen aus dem Hinterzimmer

Während sie von einer Zukunft in Europa träumt, muss Rama Ba in Marokko über die Runden kommen – und Geld für ihren Sohn im Senegal verdienen. Seit sie aufgebrochen ist, ist das Telefon die einzige Möglichkeit, mit Souleymann in Kontakt zu sein.

Sie verdingt sich als Köchin in einem afrikanischen Restaurant. Als sich Anfang 2017 die Möglichkeit auftut, ein eigenes Lokal zu eröffnen, zögert sie nicht lange. In der Medina, der touristischen Altstadt von Tanger, eröffnet sie das »Mama Africa«, versteckt im hinteren Teil eines Cafés. Allein ein buntes Schild auf dem Platz davor verweist auf das kulinarische Angebot des kleinen Restaurants: Yassa, Hühnchen, gewürzt mit Zitrone, Knoblauch und Zwiebeln; Mafé, scharfer Erdnusseintopf; Thiéboudienne, gebratener Fisch mit Reis, Gemüse und Tomatensauce.

»Ich weiß, wie man ein gutes westafrikanisches Gericht zubereitet«, wird Rama Ba später selbstbewusst erzählen. »Das Geschäft lief von Anfang an gut.« Unter den Migrantinnen und Mi­granten von Tanger habe sich die Qualität ihrer Kochkünste schnell herumgesprochen. An zehn Plätzen bedient Ra­ma Ba täglich um die 50 Gäste, »vor allem Brüder und Schwestern aus Subsahara-Afrika, hin und wieder ein paar Touristen aus Europa.«

Köchin, Kellnerin, Geschäftsführerin: Im »Mama Africa« ist Rama Ba alles gleichzeitig. Jeden Morgen steht sie um sechs Uhr auf, um frische Zutaten auf dem Markt einzukaufen. Von dort aus geht es direkt in ihr Restaurant. Ohne Feiertag oder Ferien arbeitet sie sieben Tage die Woche, 16 bis 18 Stunden am Tag. Sie verdient umgerechnet zwischen 270 und 360 Euro im Monat – für sie ein kleines Vermögen. Sie kann Geld für ihren Sohn nach Hause schicken und sogar etwas sparen. In Rama Bas Leben kehrt für kurze Zeit so etwas wie Ruhe ein.

Als die marokkanische Polizei Mitte 2018 anfängt, strikt gegen undokumentierte Menschen aus Subsahara-Afrika vorzugehen, ist es damit vorbei. In Tanger und anderen Städten im Norden Marokkos werden Migrantinnen und Migranten auf der Straße oder in ihren Wohnungen willkürlich verhaftet, in Busse verfrachtet und an entlegene Orte an der algerischen Grenze und im Süden des Landes deportiert.

Marokko ist zu dieser Zeit vorübergehend das wichtigste Transitland auf den Migrationsrouten nach Europa. Zehntausende Migrantinnen und Migranten schaffen es über das Mittelmeer nach Spanien. Mit finanziellen Anreizen sorgt die EU dafür, dass Marokko die irreguläre Migration nach Europa eindämmt. Allein 2018 erhält die Regierung in Rabat dafür 148 Millionen Euro aus dem Nothilfe-Treuhandfonds der EU für Afrika.

Auch das Haus, in dem sich Rama Ba ein Zimmer mit einer Freundin teilt, ist von den Razzien betroffen. Sie trifft gerade in der Küche ihres Restaurants Vorbereitungen für den Tag, als ihre Mitbewohnerin sie anruft und erzählt, dass Polizisten in die Wohnung eingedrungen sind, ihr Zimmer verwüstet und alle Wertsachen mitgenommen haben. Alle Migrantinnen und Migranten, die zu dem Zeitpunkt im Haus waren, wurden verhaftet.

Die ständigen Polizeikontrollen auf den Straßen von Tanger leiten auch das Ende des »Mama Africa« ein. Nachdem die Polizei angefangen hat, Leute festzunehmen und zu deportieren, traut sich niemand mehr auf die Straße. Die Kundschaft bleibt schlagartig weg. Ra­ma Ba ist gezwungen, ihr Restaurant zu schließen und wieder von vorne anzufangen.

Hoffen auf die Zeit nach der Pandemie

Mitte Mai 2021 lebt Rama Ba immer noch in Tanger. Seit über einem Jahr gilt pandemiebedingt der Ausnahmezustand im Land. Die Landesgrenzen sind seit Monaten weitgehend geschlossen. Das autoritäre Regime reagierte auf die Coronakrise zunächst mit einem viermonatigen Lockdown. Seitdem werden immer wieder ganze Städte und Regionen abgeriegelt, um die Ausbreitung des Virus aufzuhalten.

Die Maßnahmen zur Pandemiebekämpfung treffen die überwiegend informell beschäftigen Migrantinnen und Migranten besonders hart. Hausangestellte wurden auf die Straße gesetzt, Restaurants und Baustellen geschlossen. Migrantinnen und Migranten, die das Geld für ihre Miete nicht mehr aufbringen können, landen in der Obdachlosigkeit. Am Telefon berichtet Rama Ba von verstärkten Polizeikontrollen in Tanger. Viele Migrantinnen und Migranten könnten nur noch durch Betteln am Straßenrand und mit Lebensmittelspenden von Hilfsorganisationen überleben.

Seit ihr Restaurant geschlossen ist, arbeitet Rama Ba als Straßenhändlerin. Doch seit Beginn der Pandemie verdient sie kaum noch etwas. Momentan ist sie froh, wenn sie am Monatsende die Miete zahlen kann. Geld für ihren Sohn konnte sie schon länger nicht nach Hause schicken. Sie sorgt sich um seine Zukunft. Ihre Mutter hat ihr erzählt, dass Souleymann Schwierigkeiten in der Schule hat. Nachhilfeunterricht können sie nicht bezahlen.

Rama Ba kann nicht sagen, wie es für sie in Tanger weitergeht. Sie sieht kaum Perspektiven in Marokko. Über das Mittelmeer nach Spanien zu gelangen, hält sie derzeit für fast unmöglich. Zu stark sei die Polizei- und Militärpräsenz an der marokkanischen Nordküste. »Alle, die es im Moment im Norden versuchen, werden festgenommen, sie verlieren alles«, erzählt sie.

Angesichts dieser Situation sehen sich viele Migrantinnen und Migranten gezwungen, die gefährliche Überfahrt von Südmarokko und der Westsahara aus zu den Kanarischen Inseln zu ris­kieren. Die Anzahl der Ankünfte auf den zu Spanien gehörenden Atlantikinseln ist 2020 um 756 Prozent im Vergleich zum Vorjahr angestiegen. Es war die tödlichste Migrationsroute in die EU, im vergangenen Jahr sind auf ihr mindestens 849 Menschen gestorben.

Rama Ba sagt am Telefon, dass sie ihr Leben nicht bei einer Überfahrt im Atlantik riskieren wird. Aber sie ist entschlossen aufzubrechen, sobald die Chancen im Norden besser stehen. »Ich warte auf einen besseren Moment. Sobald ich mitkriege, dass die Routen hier wieder auf sind, werde ich es versuchen.«

Zwei Stunden in der EU

Der richtige Moment scheint gekommen, als Marokko am 17. Mai 2021 die Grenzkontrollen zur spanischen Exklave Ceuta kurzzeitig zurückfährt. Innerhalb weniger Tage überqueren Tausende Menschen die Grenze, die Mehrzahl von ihnen junge Marokkaner. Als Rama Ba davon hört, bricht sie kurzentschlossen mit zwei Freunden nach Ceuta auf.

Am Morgen des 18. Mai erreichen sie die marokkanische Grenzstadt Fnideq. Es ist der zweite Tag des Ansturms auf die spanische Exklave. Hunderte Migrantinnen und Migranten sind am Strand auf der marokkanischen Seite der Grenzanlage zusammengekommen. Immer wieder gelingt es Gruppen von Menschen, auf die spanische Seite zu schwimmen.

Es ist kurz nach neun Uhr morgens, als Rama Ba und ihre Freunde die Grenze überqueren. Wo der Grenzzaun ins Meer ragt, klettern sie über das Steinfundament nach Ceuta. Am dortigen Strand angekommen, rennt Rama Ba los, wird aber nach wenigen Metern von spanischen Grenzschützern ergriffen und abgeführt.

Wenig später wartet sie auf einem umzäunten Gelände in Grenznähe mit Dutzenden anderen Migrantinnen und Migranten auf ihre Abschiebung nach Marokko. Die Vormittagssonne brennt vom Himmel, die Luft heizt sich auf. Gegen Mittag begleiten zwei spanischen Grenzbeamte Rama Ba auf die marokkanische Seite des Zauns. Keine drei Stunden war sie in der EU. Bis zum späten Abend bleibt sie in Fnideq, wartet auf eine zweite Chance, die Grenze zu überqueren, die sich jedoch nicht auftut. Erschöpft und enttäuscht kehrt sie nach Tanger zurück.

Als Rama Ba Anfang Juni das letzte Mal am Telefon spricht, bekräftigt sie, dass sie trotz der Rückschläge nicht aufgibt. Sie will erneut versuchen, nach Europa zu kommen. Wenn es so weit ist, wird sie ihre Rettungsweste nehmen und ihr Telefon in eine Plastiktüte wickeln und wasserfest abkleben. Sie wird nachts in einem vollgepferchten Auto Tanger verlassen und hoffen, dass sie unentdeckt an der Küste ankommt. Sie wird in einer Bucht in ein Schlauchboot steigen und beten, dass die See ruhig ist, dass die Küstenwache sie nicht aufspürt und dass sie dieses Mal endlich »Boza« rufen wird.