Bund und Länder lockern die Maßnahmen zur Eindämmung der Covid-19-Pandemie

Alles laufen lassen

Gegen alle Warnungen lockern Bund und Länder in hohem Tempo die Maßnahmen zur Eindämmung der Covid-19-Pandemie. Wie auch bei der Bekämpfung der Klimakatastrophe tut sich Unionskanzlerkandidat Armin Laschet dabei als besonders wissenschaftsfeindlich hervor.

Ende Juni war die Talsohle bei den Covid-19-Infektionszahlen erreicht. Von da an schien die Devise nur noch zu lauten: Corona ist vorbei – macht hoch die Tür, das Tor macht weit! Den Startschuss zur europaweiten Durchseuchungskampagne gab mal wieder der britische Premierminister Boris Johnson. Bereits zu Beginn der Pandemie Anfang 2020 hatte Johnson zunächst eine Immunisierung der Bevölkerung durch massenhafte Infektionen als akzeptabel erachtet, ehe er auf Druck der Öffentlichkeit und unter dem Eindruck seiner eigenen schwer verlaufenen Covid-19-Erkrankung doch Eindämmungsmaßnahmen erließ.

Nun sollte wegen der großen Fortschritte der britischen Impfkampagne der 21. Juni der »Tag der Freiheit« werden, an dem alle Beschränkungen komplett aufgehoben werden. Bereits Mitte Mai war ein Großteil der Maßnahmen zurückgenommen worden – obwohl zu dem Zeitpunkt bereits klar war, dass im Vereinigten Königreich die zuerst in Indien entdeckte hochansteckende Virusvariante Delta (B.1.617.2) kursier­te, die leichter übertragbar ist. Wenig überraschend stiegen die Infektionszahlen rasch wieder an.

Schon etwa eine Woche nach dem Erreichen der Inzidenz von fünf begannen die Infektionszahlen in Deutschland wieder zu steigen. Der Anstieg dürfte in erster Linie auf die Verbreitung der Delta-Variante zurückzuführen sein.

Gleichzeitig setzte der europäische Fußballverband Uefa durch, dass die Europameisterschaft im Männerfußball vom 11. Juni bis 11. Juli wie geplant in verschiedenen Ländern des Kontinents, darunter auch Großbritannien, mit Zuschauerinnen und Zuschauern in den Stadien (wenn auch mit reduzierter Kapazität) stattfand. Die Idee, mitten in der noch immer andauernden Pandemie ein mehrwöchiges, kontinentweites Massenevent zu veranstalten, erwies sich erwartungsgemäß als töricht. Schnell war klar, dass sich Tausende Fans insbesondere in den Spielorten London und Sankt Petersburg angesteckt hatten, meist mit der Delta-Variante.

Johnson verschob zwar schließlich seinen »Tag der Freiheit« um knapp einen Monat, doch gerade die Botschaft der Fußball-EM zeigte für ganz Europa in eine andere Richtung: Zehntausende feiernde, rufende, singende, sich umarmende Fußballfans in und vor den Arenen, wenige von ihnen mit Mund-Nasen-Schutz – das konnte doch nur bedeuten: Die Pandemie ist vorbei. Schließlich sind ja in den meisten europäischen Ländern immer mehr Menschen durch Impfung geschützt, der saisonale Effekt tut ein Übriges. Und zumindest in Deutschland deuteten doch auch die Statistiken darauf hin: Fast täglich sanken die Infektionszahlen. Am 2. Juli lag die Siebentageinzidenz in Deutschland bei 4,9 pro 100 000 Menschen. So niedrig war sie zuletzt am 30. Juli 2020 gewesen, also fast ein ganzes Jahr zuvor.

Erneut, wie schon am Ende der ersten und zweiten Welle, setzte eine gigantische Lockerungsorgie ein. Sie beruhte zum einen auf einem Denkfehler, der bereits gegen Ende der zweiten Welle begangen wurde. Damals verbreitete sich der Anteil der Variante B.1.1.7 (Alpha) bei zugleich schnell sinkenden Gesamtzahlen. Seriöse Virologinnen und Virologen warnten schon damals, dass man es praktisch mit zwei verschiedenen Pandemien zu tun habe. Während die Eindämmungsmaßnahmen dafür sorgten, dass der sogenannte Wildtyp von Sars-CoV-2 sich immer weniger verbreitete, befand sich die Alpha-Varian­te bereits im exponentiellen Wachstum.

Statt zu jenem Zeitpunkt die Zahlen weiter herunterzudrücken, so dass die wenigen Fälle, die es dann noch gegeben hätte, gut nachverfolgt und dadurch die Verbreitung hätte eingeschränkt werden können – als grobe Schätzung wurde dafür einst eine Siebentageinzidenz von 35 festgelegt –, wurde bereits im Winter wieder gelockert. Es ging mitten hinein in die dritte, von der Alpha-Variante befeuerte Welle. Nur wenige Monate später sind die Regierenden in Bund und Ländern nun im Begriff, diesen Fehler zu wiederholen.

Am stärksten fallen die Lockerungen wohl in Nordrhein-Westfalen aus, wo der CDU-Vorsitzende und Kanzlerkandidat der Union, Armin Laschet, Ministerpräsident ist. Ab einer Siebentageinzidenz von zehn und darunter gilt in dem Bundesland die »Inzidenzstufe null«. Doch anders als der Begriff suggeriert, handelt es sich dabei gerade nicht um eine Zero-Covid-Strategie. Keineswegs geht es darum, möglichst alle weiteren Ansteckungen zu verhindern, durch Abstand, Masken, Testen, strikte Nachverfolgung und vieles mehr. Im Gegenteil: In vielen gesellschaftlichen Bereichen sind nun kein Abstand, keine Masken, selbst keine Kontaktverfolgung mehr erforderlich.

»Wir werden alles tun, um mit Viren zu leben«, sagte Laschet am 2. Juli im nordrhein-westfälischen Landtag und sprach sich dagegen aus, jemals »wieder alles zu schließen«. Abgesehen davon, dass in Deutschland, anders als in anderen Ländern, in dieser Pandemie nie auch nur annähernd alles geschlossen war, ist die Rede davon, mit dem Virus zu leben, schon immer das Man­tra aller neoliberal-sozialdarwinistischen Durchseuchungspropagandisten gewesen. Wer bei diesem Unterfangen stirbt oder chronisch krank wird, hat halt Pech gehabt. Der irische Epidemiologe Mike Ryan, als Exekutivdirektor bei der Weltgesundheitsorganisation zuständig für die Bekämpfung der Covid-19-Pandemie, sagte mit Blick auf Laschets Vorbild Johnson: »Die Logik, dass mehr infizierte Personen besser seien, ist erwiesenermaßen moralische Leere und epidemiologische Dummheit.«

Das gilt erst recht, wenn es wirksame Impfstoffe gibt. Und die gibt es bekanntlich. Klar ist: Wer nicht geimpft ist, wird sich früher oder später (mit Delta eher früher) mit Sars-CoV-2 infizieren. In Deutschland sind etwa vier von zehn Menschen noch gar nicht geimpft, nur etwa jeder Zweite hat den vollen Impfschutz. Kinder unter zwölf Jahren werden faktisch noch gar nicht geimpft, Jugendliche von zwölf bis 17 nur in extrem schleppendem Tempo, weil es noch keine Impfempfehlung seitens der Ständigen Impfkommission gibt. »Wir müssen ein bisschen aufpassen, dass wir nicht zu früh in totale Euphorie verfallen. Wir sind noch nicht so weit mit unserem Impffortschritt«, warnte vor rund zwei Monaten der Virologe Christian Drosten von der Berliner Charité.

Schon etwa eine Woche nach dem Erreichen der Inzidenz von fünf begannen die Infektionszahlen in Deutschland wieder zu steigen. Der Anstieg dürfte in erster Linie auf die Verbreitung der Delta-Variante zurückzuführen sein, die im Vergleich zur vorher dominierenden Alpha-Variante einen nochmal deutlich höheren Reproduktionswert aufweist und möglicherweise zudem für schwerere Verläufe der Krankheit sorgt. Sie ist mittlerweile die in Deutschland vorherrschende Virusvariante. Andere Faktoren wie die Lockerungen werden mit zeitlichem Verzug zur Verschärfung der Situation beitragen. Hinzu kommt ab August in immer mehr Bundesländern das Ende der Sommerferien. Zugleich hat das Tem­po der Impfkampagne signifikant abgenommen.

Auch wenn Covid-19 bei jüngeren Menschen ohne Vorerkrankungen deutlich seltener zum Tod oder zu schweren Verläufen führt, zeigen Studien, dass viele Menschen, auch mit leichten Krankheitsverläufen, noch lange nach der eigentlichen Genesung mit teils ex­trem belastenden Spätfolgen zu kämpfen haben, sogenanntem Long Covid oder Post-Covid. Nebenwirkungen durch Impfungen wie Thrombosen oder Herzmuskelentzündungen treten hingegen äußerst selten auf.

Laschet, nach derzeitigen Umfrageergebnissen der neue Bundeskanzler in spe, stimmt dagegen, wie er selbst sagt, in puncto Wissenschaftsfeindlichkeit lieber der AfD zu: »Immer, wenn jemand ankommt und sagt, ›die Wissenschaft sagt‹, ist man klug beraten zu fragen, was dieser gerade im Schilde führt.« Er dagegen wolle als prospek­tiver Bundeskanzler nicht mehr nur die medizinisch-naturwissenschaftliche »Modellierung von irgendwelchen Kurven, wie schrecklich es alles wird«, in Auftrag geben.

Langfristig noch verheerender als bei der Pandemiebekämpfung dürfte Laschets kaum noch verhohlene Verachtung für seriöse Wissenschaft bei der Bekämpfung der Klimakatastrophe werden. Noch im Mai 2019 hatte sich Laschet gewundert: »Aus irgendeinem Grund ist das Klimathema plötzlich ein weltweites Thema geworden.« Als in der vergangenen Woche dann sein halbes Bundesland in den Fluten extremer Regenfälle versank, bei denen der Zusammenhang mit dem Klimawandel ziemlich offensichtlich ist und zahlreiche Menschen ums Leben kamen, antwortete der CDU-Politiker auf die Frage, ob die Katastrophe Einfluss auf seine Klimapolitik haben werde: »Weil jetzt ein solcher Tag ist, ändert man nicht die Politik.« Egal ob bei der Virenverbreitung oder bei der Erderwärmung – Laschet lässt es lieber laufen. Die Kapitalverwertung muss schließlich weitergehen.