Argumente gegen die Stimmenthaltung bei der Bundestagswahl

Unterlassene Hilfeleistung

Disko Von Felix Schilk

Bei der Bundestagswahl geht es nicht nur um Mandate, sondern auch um die Verteilung von Geldern und die politische Infrastruktur. Ein linker Wahlboykott hilft am Ende nur den Falschen.

Die allgemeine, unmittelbare, freie, gleiche und geheime Wahl, wie sie das deutsche Grundgesetz in Artikel 38 proklamiert, hat die Funktion, bürgerliche Eliten durch institutionalisierte und berechenbare Verfahren regelmäßig auszutauschen. Sie ist die zentrale Legitimationsquelle der politischen Ordnung der Bundesrepublik. Die Handlungsmöglichkeiten dieser Eliten sind durch Gesetz und Gewaltenteilung beschränkt, was mit Blick auf gegenwärtige autoritäre Tendenzen beruhigend erscheint. Zugleich schreibt das Grundgesetz in Artikel 14 die privatwirtschaftliche Eigentumsordnung fest, auf ­deren Fundament sich der Staatsapparat als »ideeller Gesamtkapitalist« (Friedrich Engels) erhebt.

Das allgemeine Wahlrecht war kein Geschenk des Liberalismus, sondern musste ihm erst mühsam abgerungen werden.

Die »bürgerliche Klasseneinheit ereignet sich nicht auf dem Markt und im Zirkulationsprozess. Sie bildet sich erst in ihrem Staat, der als Form die durch Partikularinteressen und die Marktkonkurrenz zerrissene Bourgeoisie wieder zusammenfügt«, fasste Johannes Agnoli die Funktion des »Staats des Kapitals« zusammen. Eine vulgäre Variante dieser materialistischen Staatskritik steckt noch im defätistischen Slogan: »Wenn Wahlen etwas ändern würden, wären sie längst verboten.« Ein kurzer Blick in die Geschichte zeigt jedoch, dass es durchaus einen Unterschied macht, wie genau eigentlich gewählt wird.

Das allgemeine Wahlrecht war kein Geschenk des Liberalismus, sondern musste ihm erst mühsam abgerungen werden. Nachdem die Französische ­Revolution 1789 die Idee der Gleichheit aller Menschen in die Welt gesetzt hatte, waren ein halbes Jahrhundert sozialer Kämpfe und eine weitere Revolution nötig, bis dieses Recht zumindest in Frankreich für den männlichen Teil der Bevölkerung durchgesetzt wurde. Konservative und Liberale bekämpften das gesamte 19. Jahrhundert hindurch gemeinsam die politische Emanzipation der eigentumslosen Massen und verbreiteten Horrorgeschichten vor der drohenden »Tyrannei der Mehrheit«.

Bis ins 20. Jahrhundert hinein war das Wahlrecht in allen Staaten an Vorbedingungen wie ein steuerfähiges Einkommen oder den Besitz der richtigen Geschlechtsorgane geknüpft. Auf der ganzen Welt kämpften progressive Bewegungen daher für seine Ausweitung. Die Einführung des Frauenwahlrechts in nahezu ganz Europa in den Jahren ab 1917 gilt als einer der größten Erfolge der internationalen Frauenbewegung, die Abschaffung diskriminierender Zugangshürden für Afroamerikaner durch den Voting Rights Act von 1965 als entscheidender Erfolg der US-amerikanischen Bürgerrechtsbewegung.

Manche dieser Zugeständnisse werden derzeit wieder in Frage gestellt. Die geplanten Wahlrechtsverschärfungen in einigen republikanisch regierten Bundesstaaten der USA (Demokratie in Gefahr) zeigen, dass das allgemeine Wahlrecht auch in bürgerlichen Demokratien immer wieder gegen konservative Interessengruppen verteidigt werden muss. In Deutschland fordert zwar bisher nur der lunatic fringe der extremen Rechten, wie der AfD-nahe Krisenprophet Markus Krall, ganz offen die Abschaffung des allgemeinen Wahlrechts. Es liegt aber auch an den wahltaktischen Überlegungen der konservativen Parteien, dass zum Beispiel Jugendliche und Millionen Menschen ohne deutsche Staatsbürgerschaft weiterhin von den zentralen Entscheidungsprozessen der Gesellschaft ausgeschlossen bleiben.

In Deutschland hat wohl keine Partei mehr zur Entwicklung der bürgerlichen Demokratie beigetragen als die SPD. Die Geschichte zeigt freilich auch, dass die Sozialdemokratie historisch für jede Schweinerei zu haben war, vom »Burgfrieden« im Ersten Weltkrieg bis hin zur Kommunistenhatz und dem Angriffskrieg gegen Jugoslawien, Hartz IV, der Austerität und der »Schwarzen Null«. Dass staatskritische und anarchistische Linke ihr Gewissen nicht mit einer Stimme für eine derartige Partei belasten wollen, ist eigentlich selbstverständlich. Im Zweifelsfall unterstützt die sozialdemokratische Direktkandidatin aber vielleicht doch das autonome Jugendzentrum, das dem CDU-Hardliner ein Dorn im Auge ist. Für die politische Sozialisation einiger Jugendlicher kann das ein großer Unterschied sein.

Wer Wahlen für völlig irrelevant hält, müsste außerdem eine überzeugende Antwort auf die Frage finden, warum die Wahlbeteiligung in allen demokratischen Ländern maßgeblich von der sozialen Lage der Wähler abhängt. Wer ein hohes Einkommen oder Vermögen hat, weiß in der Regel ziemlich gut, wie er seine materiellen Interessen verteidigt. Auch deshalb malen konservative Kräfte immer wieder das Schreckgespenst linker Regierungen an die Wand. Wenn man sieht, welche publizistischen Geschütze derzeit schon gegen die biedere grüne Kanzlerinnenkandidatin Annalena Baer­bock aufgefahren werden, kann man erahnen, wie viel Angst im konservativen Lager erst Parteien links der Grünen hervorrufen würden, wenn diese eine reale Machtperspektive hätten. Ist der Ausblick auf diese Angst nicht Argument genug, um eine solche Partei zu wählen?

Man braucht von einer linken Partei ja keine Wunder und noch nicht einmal eine Regierungsbeteiligung erwarten. Eine große linke Opposition ist aber in jedem Fall besser als eine kleine. Ohne Zugriff auf Informationen aus parlamentarischen Kontrollinstrumenten der Opposition wie Anfragen und Untersuchungsausschüssen hätten es kritischer Journalismus und antifaschistische Recherche deutlich schwerer. Ohne die beharrliche Arbeit der Linkspartei wären viele Skandale des NSU-Komplexes nicht an die Öffentlichkeit gelangt.

Wahlergebnisse sind auch Seismographen der politischen Stimmung und können den Rahmen öffentlicher Debatten verschieben. Ohne Zweifel hat der Aufstieg der AfD die deutschen Debatten über Asylrecht wesentlich beeinflusst. Die hohen Zustimmungswerte der Grünen zwingen die CDU immerhin zu rhetorischen Bekenntnissen in der Klimapolitik. Und die parallel zur Bundestagswahl stattfindende Wahl zum Berliner Abgeordnetenhaus ist auch ein Stimmungstest für wohnungspolitische Maßnahmen wie Mietregulierung und Enteignungen.

Wahlergebnisse klären aber auch Machtverhältnisse innerhalb der Parteien. Wer die Linkspartei aufgrund von Irrlichtern wie Sahra Wagenknecht für unwählbar hält, kann, wenn er nicht in Nordrhein-Westfalen wohnt, ihre innerparteilichen Gegenspieler unterstützen. Da die Zweitstimmen ausschließlich den Landeslisten der Parteien zugutekommen, wäre die Wahl der meist progressiven ostdeutschen Landeslisten auch eine empirische Falsifizierung von Wagenknechts linkspopulistischen Thesen.

Ein schlechtes Wahlergebnis der Linkspartei hätte dagegen zur Folge, dass die parteinahe Rosa-Luxemburg-Stiftung weniger staatliche Mittel erhält. Allein im Jahr 2020 waren das über 80 Millionen Euro, von denen 12,8 Millionen als Stipendien an Studierende und Promovierende weitergereicht wurden. Wohl kaum ein Leser der Jungle World wird nicht schon einmal auf die eine oder andere Weise von dieser Finanzierung profitiert haben, sei es als Besucher von durch sie ermöglichten Veranstaltungen oder direkt durch Honorare oder Publikationen. Dass ­einige der geförderten Projekte durchaus kritisch zu sehen sind, wiegt nicht auf, was dafür an anderer Stelle ermöglicht wird.

Ein Wahlboykott oder Schabernack wie die Abgabe eines ungültigen Wahlzettels mag in Diktaturen, in denen das Endergebnis ohnehin zusammengefälscht wird, eine widerständige Handlung sein. In der Bundesrepublik sind sie dagegen pseudoradikale Ohnmachtsgesten politischer Puristen, die keine Ambivalenzen ertragen wollen. Dass die symbolische Wahlenthaltung das System nachhaltig delegitimieren würde, dürften auch sie, wenn sie ehrlich sind, nicht ernsthaft glauben. Dass es keine richtige Wahl in der falschen gibt, heißt im Umkehrschluss doch nicht, dass die Nichtwahl richtiger wäre.

Mit der Wahl ist es wie mit der Gewerkschaftsmitgliedschaft, der Steuererklärung oder der Anzeige von Nazis bei der Polizei. Man kann sich all dem verweigern, um die linksradikale Iden­tität mit einem Gestus der Unversöhnlichkeit bestätigen. Gewonnen ist damit am Ende aber nichts, im Gegenteil: Bei Wahlen geht es auch um die Verteilung von viel Geld, das auf der falschen Seite eine Menge Schaden anrichten, auf der richtigen dagegen auch Möglichkeiten für radikalere Kritik eröffnen kann. Und würde einer der linken Nichtwähler tatsächlich auf staatliche Transferleistungen verzichten, nur weil man das dahinterstehende System aus guten Gründen grundlegend ablehnt?