Eine Dokumentation über den Klangforscher Matthew Herbert

Der Sound des Planeten

Der Filmemacher Enrique Sánchez Lansch begleitete über viele Jahre die faszinierenden bis verschrobenen Projekte des Klang­künstlers Matthew Herbert. »A Symphony of Noise« ist eine Hommage an den britischen Soundforscher, Produzenten und Aktivisten. Dessen Arbeit hätte allerdings auch Kritik verdient.

Im September 2008 erschien das zweite Studioalbum der Matthew Herbert Big Band mit dem Titel »There’s Me and There’s You«. Auf dem Cover bekannte sich die Band zu einer Musik, die politisch ist und nicht als Soundtrack zum Konsum dient. Sämtliche Musiker der Band hatten den Grundsatz mit ihrer Unterschrift bekräftigt. Diese Haltung prägt das gesamte Werk des 1972 geborenen britischen Musikers und macht es interessant, allerdings treibt sein Aktivismus bizarre Blüten.

Aufgewachsen mit Klavier- und Geigenunterricht, ist Herbert in der Klassik und im Jazz genauso zu Hause wie in der elektronischen Popmusik. Prägend für seine musikalische Sozialisation war das Aufkommen von Kassettenrekordern und Samplern, die für jedermann erschwinglich wurden und damit jedermann Tonaufnahmen ermöglichten. Bis zu dieser Revolution war Musik, wie Herbert sagt, purer Impressionismus. Was dargestellt werden sollte, musste von Musikern imitiert, wie beim Malen »getupft« werden. Vogelgesang etwa musste durch Tonfolgen einer Flöte nachempfunden werden. In den Achtzigern hingegen wurde es ohne größeren Aufwand möglich, nach draußen zu gehen und einen realen Vogel mitsamt seiner Umgebung aufzunehmen.

Der originäre Sound konnte zum Komponieren genutzt werden, er ließ sich in seine Bestandteile zerlegen, verändern und nach Belieben in Stücke einbauen. Herbert griff für die Popmusik die von dem französischen Komponisten Pierre Schaeffer in den vierziger Jahren entwickelten Ideen der musique concrète auf, die Klänge aus Natur, Technik und Alltag aufnimmt und montiert. Die Welt, wie sie klingt, scheint darauf zu warten, aufgenommen zu werden.

Längst ist Matthew Herberts musikalischer Output kaum noch zu überschauen: Als Doctor Rockit veröffentlichte er ab Mitte der neunziger Jahre jazzigen Elektro, als Wishmountain und als Radio Boy zelebrierte er wilde Techno-Performances, unter dem Namen Herbert forderte er die Crowds auf den Dancefloors der Welt dazu auf, zu House-Musik zu tanzen, mit seiner swingenden Bigband bespielte er Institutionen wie das »Haus der Kulturen der Welt« in Berlin oder die Elbphilharmonie in Hamburg, um gegen den EU-Austritt Großbritanniens Stellung zu beziehen. Zwischendurch entstanden Filmmusiken, unter anderem für Ridley Scott, sowie mehrere Themenalben.

Zu den Letztgenannten zählen das mit Samples von Körpergeräuschen arbeitende Werk »Bodily Functions« (2001) sowie »Plat du Jour« (2005) zu menschlichen Essgewohnheiten. Das Piepen von 24 000 Küken sowie die Geräusche von 30 000 Hühnern in einem Großstall sind in dem Stück »The Truncated Life of Modern Industrialised Chicken« ebenso zu hören wie die Tötung eines Hühnchens. Herbert schreckt auch vor drastischen Mitteln und linkem Populismus nicht zurück, um seine Botschaft an die Hörerschaft zu bringen.

Mittlerweile zählt seine Diskographie mehr als 30 Alben. 2005 veröffentlichte er sein musikalisches Manifest »Personal Contract for the Composition of Music (Incorporating the Manifesto of Mistakes)« mit Regeln für seine Musikproduktion, die unter anderem den Einsatz von Drummachines, Synthesizern sowie voreingestellten Settings untersagen. Und weil es Geräusche gibt, die er nicht aufnehmen kann, arbeitete er über viele Jahre an seinem Buch »The Music: A Novel Through Sound« (2018), in dem er auch diese Klänge zu kartographieren versucht.

Mit dem Dokumentarfilm »A Symphony of Noise – Matthew Herbert’s Revolution« hat nun der auf Musikthemen spezialisierte Filmemacher Enrique Sánchez Lansch dem Soundforscher, Produzenten und Aktivisten ein Denkmal gesetzt. Zehn Jahre hat er Herbert begleitet, ihm bei Tonaufnahmen im Wald und in Fish-and-Chips-Küchen über die Schulter geschaut, Workshops mit Publikumsbeteiligung, Proben, Studioarbeiten und Auftritte festgehalten, die Arbeit am Buch und dessen Präsentation beobachtet und Herbert immer wieder interviewt. Die Dramaturgie folgt den Bewegungen des Protagonisten.

Die Kamera bebildert Auszüge aus dem Buch, in denen es um den Sound von Kontinentalplattenverschiebungen geht, mit gleitenden Tauchfahrten und wechselt rhythmisch die Abstände zu den Objekten, die sie einfängt. Makroaufnahmen von windbewegten Grashalmen kontrastieren mit Stadtansichten in langen Brennweiten, die den Berliner Verkehr und seine Geräuschkulisse verdichten; auf Drohnenbilder einsamer Landschaften folgen Aufnahmen von Konzerten. Immer wieder saugt sich die Kamera am Gesicht des Musikers fest, um ihm beim Formulieren zuzusehen.

»Ich bin Komponist, Schriftsteller und jemand, der Sachen macht. Gern auch Unfug«, sagt Herbert und erklärt, dass es ihm darum geht, an Grenzen zu stoßen und bequeme Hörgewohnheiten zu verändern. So verwendet er das Geräusch einer Zahnextraktion als Basissample für einen Auftritt und empfiehlt allen, die das eklig finden, sich die Ohren zuzuhalten. Er möchte mehr bieten als Konsumware. In seiner Kunst soll es »um brennende Zoos oder das ­Finanzsystem gehen, um alles, was falsch läuft in der Welt«.

Wie er das erreichen und den Pop welthaltig machen will, verfolgt der Film am Beispiel mehrerer Produktionen, darunter das Album »One Pig« (2011), das den Lebenszyklus eines Schweins von der Geburt über die Schlachtung bis zum Verzehr in einer Serie von Field Recordings festhält. Neben der Haut des Tiers, aus der Trommelfelle entstehen, verwendet Herbert Geräusche wie Grunzen und Scharren, aber auch Aufnahmen des Aufschlagens des abgetrennten Kopfs auf einen Tisch, des Tropfens von Blut in einen Eimer und des Zersägens von Knochen. Das Album, das Herbert im Berliner Club »Berghain« vorstellte, rief die Tierschutzorganisation Peta auf den Plan, die dem Künstler Sensationsgier vorwarf. Hätte er das Schwein nicht mit seiner Musik begleitet, entgegnete Herbert, wäre es nicht ins kulturelle Gedächtnis eingegangen, sondern ein Wegwerfprodukt geblieben.

Das Erinnertwerden auf Tiere zu übertragen, ist allerdings mehr als fragwürdig. Der Künstler verteidigte die verschrobene Aktion als Hinwendung zum anderen. Seine Arbeiten sollen die Bereitschaft fördern, einander zuzuhören, und damit Toleranz, Freundlichkeit und Dialog. Allerdings dürfe bei der Soundauswahl nicht allein auf Drama und Konflikt fokussiert werden, da die Realität vor allem durch lange Pausen und Wartezeiten geprägt sei. Durch Übertreibungen und Auslassungen produziere man unweigerlich neue Lügen.

Leider hält Herbert sich selbst nicht daran. In poetischen Assoziationsketten beschreibt er in seinem Buch, wie die Musik der Welt klingen würde, könnte man alle Geräusche des Planeten und seines Lebens aufnehmen und nutzen. Insbesondere interessiert ihn der Klang der Liebe. Für ihn meint Herbert, ein besonders starkes Bild gefunden zu haben: Ikonisch drücke sich Liebe demnach in der Situation eines palästinensischen Vaters aus, der sein Kind betrauere, das nach einem israelischen Angriff im Gaza-Krieg tot in einer Gefriertruhe liege. Das mutet nicht nur krude an, sondern wird von Herbert zudem als politisch notwendiges Bekenntnis zur Solidarität mit den Palästinensern begriffen.

Bereits 2015 hatte er ein Manifest der »Artists for Palestine UK« unterschrieben, das zum Boykott Israels aufrief. Das mag im angloamerikanischen Kulturraum mittlerweile eher die Norm als die Ausnahme sein. Mit Toleranz, Freundlichkeit und Dialogbereitschaft haben die Praktiken der BDS-Bewegung allerdings wenig zu tun. Bei aller musikalischen Originalität und dem zu begrüßenden Willen, Pop politisch aufzuladen, hat das Werk Matthew Herberts doch einen unangenehmen Nachklang.

A Symphony of Noise. Matthew Herbert’s Revolution (D 2021). Regie: Enrique ­Sánchez Lansch. Filmstart: 2. September