Die algerische Regierung verbreitet Verschwörungsgerüchte über die Waldbrände

Lügen bis zum Lynchmord

Die algerische Regierung beschuldigt angeblich vom Ausland gesteuerte Terrororganisationen, die verheerenden Waldbrände im Land gelegt zu haben. In der Kabylei hat ein Mob einen freiwilliger Helfer gelyncht.

Von wegen Klimawandel – die Regierung in Algerien hat ihre eigenen Ideen, wer an den verheerenden Waldbrände der vergangenen Wochen schuld ist: Sie bezichtigt zwei »terroristische Organisationen«, die mit »Marokko und Israel« in Verbindung stünden. Die Brände forderten bislang mindestens 90 Tote und zerstörten Zehntausende Hektar Waldfläche. Unter den Todesopfern sind 33 Militärangehörige, die an Löschoperationen teilnahmen.

Am 9. August begann es, im Norden des Landes zu brennen. Hauptursache dafür war extreme Hitze. Am 12. August wurden in Algerien und Marokko um die 49 Grad Celsius, in Tunesien gar 50,3 Grad gemessen. Im gesamten Mittelmeerraum kam es zu Waldbränden. Mit hoher Wahrscheinlichkeit hängen die hohen Temperaturen mit dem Klimawandel zusammen. In ihrer neuen Strategie für die Anpassung an den Klimawandel, die im Februar verabschiedet wurde, geht die Europäische Kommission davon aus, dass dieser einen »starken Einfluss auf das Waldbrandrisiko« in Europa habe; für Nordafrika dürfte dasselbe gelten.

Die in sozialen Medien veröffentlichen Aufnahmen zeigen Ben Ismaïl in einem Polizei­fahrzeug sitzend, das von einer wütende Menge umzingelt wird.

In Algerien, dem der Fläche nach größten Staat Afrikas, sind nicht einmal zwei Prozent des Territoriums bewaldet. Bereits im Sommer 2020 gingen 44 000 Hektar Wald in Flammen auf. Im diesjährigen Sommer verzeichneten die Behörden an insgesamt 99 Orten Brandherde. In Einzelfällen dürfte Brandstiftung als Ursache nicht auszuschließen sein, etwa um auf kriminelle Weise Bauland zu erschließen. Doch das Ausmaß der Brände lässt sich dadurch nicht erklären. Die extreme Hitze und Trockenheit führen dazu, dass ein einzelner Funke Brände auslösen kann, sei es durch achtlos weggeworfene Zigarettenstummel oder durch Natur­erscheinungen wie Blitze oder Selbstentzündung der Bäume.

Die Regierung hingegen sucht die Schuldigen bei zwei Organisationen, die sie auch bezichtigt, die im Frühjahr wieder aufgeflammten Proteste gegen Autoritarismus, Klientelismus und Korruption angefacht zu haben (Die Repression nimmt zu). Diese Organisationen hätten sich daran beteiligt, die Mehrzahl der Feuer zu legen, um die Regierung zu »destabilisieren«. Dabei handelt es sich zum einen um die 2007 von ehemaligen Mitgliedern der verbotenen Partei Islamische Rettungsfront (Front islamique du salut, FIS) gegründete Vereinigung Rachad (Rechtschaffenheit), deren Hauptsitze sich in Genf und London befinden. Die islamistische FIS war nach ihrem Wahlsieg in den ersten freien Parlamentswahlen von 1991 verboten worden. Danach griffen ihre Anhänger, wie bereits vor der Parteigründung, erneut zu den Waffen; sie unterlagen allerdings in den späten neunziger Jahren im algerischen Bürgerkrieg.

Zum anderen verdächtigt die Regierung unter Premierminister Aïmene Benabderrahmane die separatistische Bewegung für die Autonomie der Kabylei (Mouvement pour l’autonomie de la Kabylie, MAK), die entgegen ihrem Namen eher für eine staatliche Unabhängigkeit der wichtigsten berbersprachigen Region eintritt. Die Regierung verknüpft in ihrer Propaganda die beiden einander eher feindlich gesinnten Organisationen miteinander. Marokko und Israel wiederum nähern sich seit einigen Monaten diplomatisch tatsächlich wieder an; dass beide zusammen den MAK und Rachad finanzieren, ist jedoch reine Erfindung.

Am 17. August, als die bislang letzten Brände in Algerien gelöscht werden konnten, meldete das algerische Fernsehen, durch Festnahmen sei ein »Netzwerk« aufgespürt worden, das für die Brände verantwortlich sei und mit den beiden Organisationen in Verbindung stehe. Erstmals hatte am 12. August Präsident Abdelmadjid Tebboune persönlich die Festnahme von 22 angeblichen Brandstiftern vermeldet. Mehrere der Beteiligten hätten bei polizeilichen Verhören ihre Zugehörigkeit zum MAK zugegeben, hieß es fünf Tage später dazu.

Ob das der Wahrheit entspricht, ist zweifelhaft; Folter ist in Algerien nicht ungewöhnlich. Die Algerische Liga zur Verteidigung der Menschenrechte (Ligue algérienne pour la défense des droits de l’homme, LADDH) spricht in einer Presseerklärung bereits davon, dass den Festgenommenen ein »politischer Prozess« drohe. Der stellvertretende Vorsitzender der LADDH, Saïd Salhi, forderte gegenüber der französischen Nachrichtenagentur AFP »einen fairen Prozess«.

Die Hauptursache dafür, dass die Brände sich derart ausbreiten konnten, liegt darin, dass die Behörden auf katastrophale Art unvorbereitet waren. Es fehlt an Feuerwehrleuten und Material. Marokko bot Algerien Ausstattungshilfe an, die jedoch aus Gründen der politischen Rivalität zum Nachbarstaat ausgeschlagen wurde.

Zwei Löschflugzeuge aus Frankreich, eines aus Spanien sowie russisches Material akzeptierte die algerische Regierung jedoch. Es gingen allerdings drei wertvolle Tage verloren, bis die beiden Flugzeuge vom Typ Canadair aus Frankreich einfliegen durften. Denn um symbolpolitisch die Unabhängigkeit von der früheren Kolonialmacht zu demonstrieren, insistierte die algerische Regierung darauf, erst in einem bürokratischen Verfahren ein Handelsabkommen mit der EU in Brüssel über die Zurverfügungstellung der Flugzeuge abzuschließen. Löschflugzeuge waren zuvor aus Marseille direkt angeboten worden. Die algerischen Machthaber behaupteten indes, wegen der Brände in Griechenland habe es mehrere Tage gedauert, bis Material in Europa verfügbar gewesen sei.

Statt der Regierung organisierte vor allem die Zivilgesellschaft unbürokratische Hilfe. In Frankreich, wo viele Menschen algerischer Herkunft leben, ­wurden sehr schnell Hunderttausende Euro Hilfs­gelder gesammelt. In Algerien spendeten die Menschen ebenfalls viel Geld sowie dringend benötigte Hilfsgüter und Medikamente wie Brandsalben und das Asthmamedikament Ventoline gegen Atembeschwerden aufgrund von Rauch­entwicklung. Die Protestbewegung Hirak nutzte ihre diversen Online-Kanäle, um die Hilfe zu organisieren, während in allen Landesteilen das Behördenversagen angeprangert wird.

Auch Freiwillige aus anderen Regionen reisten teils Hunderte Kilometer an, um zu helfen. Einer von ihnen bezahlte das mit dem Leben. Der 38jährige Djamel Ben Ismaïl aus der Stadt Mili­ana wurde am 11. August von einem Mob in der kabylischen Kleinstadt Larbaâ Nath Irathen gelyncht. Seine Leiche wurde verbrannt, während Jugend­liche dabei Selfies aufnahmen. Zu dem kollektiven Gewaltausbruch hatte das Gerücht geführt, der Helfer habe in der Gegend Feuer gelegt. Derartige ­Gerüchte begünstigt auch die Regierungspropaganda über angebliche Brandstifter.

Der arabischsprachige Algerier Ben Ismaïl konnte sich nicht in der Berbersprache Kabylisch verständigen. Die in sozialen Medien veröffentlichen Aufnahmen zeigen Ben Ismaïl in einem Polizeifahrzeug sitzend, das von einer wütende Menge umzingelt wird. Die Polizisten liefern den vermeintlichen Delinquenten schließlich aus. Die Behörden tragen also eine Mitverantwortung. Inzwischen wurden 61 Personen festgenommen, denen eine Beteiligung am Lynchmord vorgeworfen wird; ­unter ihnen befindet sich mindestens ein Anwalt, auch andere Honoratioren werden verdächtigt.

Mittlerweile wird allgemein anerkannt, dass Ben Ismaïl als freiwilliger Helfer, keinesfalls als Brandstifter, in die Kabylei gekommen war. Die Regierung versucht, die Empörung und das Entsetzen, die der Mord bei vielen ausgelöst haben, gegen die traditionell aufsässige Kabylei und den MAK zu instrumentalisieren. Die Bewegung reagierte mit einem Video ihres »Exilpräsidenten«, des Sängers Ferhat Mehenni, in welchem er dem Regime in ­Algier Provokation und Propaganda zu Lasten des MAK vorwirft und Ben ­Ismaïl als Opfer politischer Machenschaften darstellt.

Der Vater des Opfers aus der arabischsprachigen Region Miliana meldete sich ebenfalls mit einem Video zu Wort, das in den sozialen Medien vielfach geteilt wurde. Darin spricht er sich gegen jegliche Spaltung in Araber und Berber aus und äußert die Hoffnung, der Tod seines Sohnes möge dazu führen, dass »die Algerier zusammenrücken«.