Der Bundestagswahlkampf ist kaum zu ertragen

Kein schöner Herbst in dieser Zeit

Die offensichtliche Inkompetenz der Parteien in PR-Fragen ist das Quälendste an diesem Bundestagswahlkampf.

Zugegeben, es sieht schon hübsch aus, wenn sich die Blätter an der Schwelle zum Vergehen trotzig bunt färben. Ansonsten aber ist der deutsche Herbst eine eher mistige Jahreszeit: Die unausweichliche Beschwörung nationalen Ungeists rund um Einheitsfeier und Mauerfalljubiläum, herabfallendes Laub, das sich heimtückisch über Hundehaufen legt, dazu schwindendes Tageslicht und all diese grässlichen Viren von Grippe bis Sars-CoV-2, die unsere Schleimhäute zu Brutstationen für ihre noch fieseren Mutantenbabys machen. Und als wäre das alles nicht schlimm genug, findet seit 1990 auch noch alle vier Jahre die Bundestagswahl in dieser unerfreulichsten aller Jahreszeiten statt.

Dass es im Wahlkampf weniger um Inhalte als um persönliche Verfehlungen oder Vorzüge der Kandidaten geht, liegt in der Natur der Sache.

Die Wahl selbst ist ein Ärgernis, das man durchaus verschmerzen könnte. Sie dauert ja nur einen Tag, und bis sie konkrete Auswirkungen zeitigt, gibt es gewöhnlich etwas Karenzzeit, um sich emotional darauf einzustellen. Deutlich schlimmer ist der Wahlkampf. Als ­würden unsere Augen durch die täglich zunehmende Dichte quietschbunter Funktionsklamotten noch nicht genug beleidigt, starren nun von jeder Straßenlaterne Menschen herab, denen man auch ohne »AHA-Regeln« kaum freiwillig die Hand geben würde. Immerhin, dazu zwingt einen niemand. Man soll nur mit seiner Erststimme ­einen von denen zu seinem Interessenvertreter im deutschen Bundestag wählen.

Dass diese Vertretung von vornherein zum Scheitern verurteilt ist, weil der Vertreter von den tatsächlichen Interessen des durch ihn zu Vertretenden gar nichts wissen kann und will – geschenkt. Es gibt ja noch die Zweitstimme, mit der man über die Sitzverteilung der Parteien im Bundestag mitbestimmen darf. Hierbei kann man sich für »Klima schützen. Jobs schaffen« (CDU) oder »Klimaschutz mit Wirkung: sichere Arbeitsplätze« (Grüne) entscheiden, für »Jetzt sichere Arbeit und Klimaschutz« (SPD) oder »Emissionen senken. Arbeitsplätze erhalten« (FDP), ja, vielleicht sogar für »Soziale Sicherheit, Frieden und Klimagerechtigkeit« (»Die Linke«).

Wem diese Slogans austauschbarer erscheinen als die früherer Wahlkämpfe, der hat recht und unrecht zugleich. Recht insofern, als alle größeren Parteien trotz ihrer gemeinsamen Basis neoliberaler Wirtschaftsdogmen diesmal so unsicher sind, mit wem sie am Ende eventuell koalieren müssen, dass sie in Detailfragen lieber so vage wie möglich bleiben. Unrecht, weil das Grundproblem trotzdem kein neues, sondern vielmehr systemisch bedingt ist, wie Erich Mühsam bereits vor über 100 Jahren feststellte: »Jedes Parlament, ob seine Mehrheit links oder rechts vom Präsidenten sitzt, ist seiner Natur nach konservativ. Denn es muss den bestehenden Staat wollen (…). Es kann nichts beschließen, was den Bestand der heutigen Gesellschaft gefährdet, also auch nichts, was denen, die unter der geltenden Ordnung leiden, nützt.«

Der Anarchist Mühsam war selbstverständlich überzeugter Nichtwähler, und bis heute hadern viele Linke mit dem Kreuzemachen, wie der Beitrag von Felix Klopotek zeigt. Wer aber von der Sinnlosigkeit des Wählens reden will, darf von der Sinnlosigkeit des Nichtwählens nicht schweigen. Es gibt in Deutschland nämlich keine Mindestwahlbeteiligung, deren Unterschreitung die Wahl ungültig werden ließe. Auch leisten einzelne Abgeordnete, wie Felix Schilk argumentierte, jenseits des Parlaments gute politische Arbeit, die man mit seiner Stimme unterstützen kann.

Vor allem aber hat die Geschichte gezeigt, dass es so ganz egal eben doch nicht ist, wer regiert. Auch wenn die großen, richtungsweisenden Entscheidungen oft gerade von Parteien exekutiert wurden, deren Anhänger sie aus gegenteiligen Gründen gewählt hatten. So wird sicher kaum jemand 2002 sein Kreuzchen bei SPD oder Grünen gemacht haben, um damit Arbeitslose in ein brachiales Repressions- und Entmündigungssystem zu zwingen. Und welcher konservative Stammtisch ­hätte schon erwartet, dass eine CDU-geführte Regierung den institutionalisierten Jägerzaun kleinbürgerlicher Moralvorstellungen, die Ehe, für gleich­geschlechtliche Paare öffnen könnte?­ ­Insofern ist Wählen also nicht gar so wirkungslos, wie der Vergleich der Wahl­slogans suggeriert, aber die Wirkung ist schwer bis gar nicht kalkulierbar.

Für einigermaßen treffsichere Prognosen, was einem in der nächsten Legislaturperiode blühen könnte, genügt es nicht, sich intensiv mit den Wahlprogrammen der Parteien zu befassen. Man müsste zudem eruieren, welche Parteiströmung welchen Passus darin stark gemacht hat und welche Chancen sie hat, einen ihrer Vertreter in einem entsprechenden Amt zu platzieren. Außerdem müsste man sich anschauen, welche Wahlkampfforderung in welcher denkbaren künftigen Koa­lition am ehesten zur Disposition stünde. Insgesamt ist das eine Rechnung mit so vielen Unbekannten, dass selbst gestandene Politjournalisten davor zurückscheuen.

Der gemeine Wähler hat eh anderes zu tun, zumal wenn er prekär beschäftigt ist, Kinder hat, womöglich gar alleinerziehend oder – wie die meisten – einfach nur heillos verirrt auf der Suche nach ein bisschen persönlichem Glück durch die bunte Welt des Konsumismus geistert. Dieser Wähler wird sein Kreuzchen am Ende immer bei einer Person oder Partei machen, die ihm aus unerfindlichen Gründen sympathischer oder glaubwürdiger als die anderen erscheint.

Mag die von Federica Matteoni beklagte Empörungsunkultur, mit der die sozialen Medien die klassische Berichterstattung vor sich hertreiben, noch so nerven: Dass es im Wahlkampf weniger um Inhalte als um persönliche Verfehlungen oder Vorzüge der Kandidaten geht, liegt in der Natur der Sache. Und so ist denn die offensichtliche Inkompetenz der Parteien in PR-Fragen das Quälendste in diesem Wahlkampf.

Zwar wird aller Voraussicht nach jede neue Regierung, genau wie ihre Vorgängerinnen, in erster Linie Verwaltungsaufgaben unter dem Primat der Wirtschaft wahrnehmen und also weder in der Arbeits- und Sozialpolitik noch beim Klimaschutz radikal umsteuern. Aber auf dieser Verwaltungsebene gibt es einen gewissen Spielraum, den die eine Partei möglicherweise ein bisschen besser nutzen würde als die andere. Diesbezügliche Kompetenz lässt sich in der Öffentlichkeitsarbeit jedoch kaum transportieren. Da geht es ausschließlich um Personen und Sympathien.

Ein Beispiel aus dem parallel zum Bundestagswahlkampf stattfindenden Wahlkampf für das Berliner Abgeordnetenhaus: Derzeit führt hier in den Umfragen die SPD, weil ihre Spitzenkandidatin Franziska Giffey von vielen Berlinern seltsamerweise als sympathisch wahrgenommen wird. Daran kann weder die Nachricht, dass sie nachweislich nicht nur bei ihrer Doktorarbeit, sondern sogar schon bei ihrer Masterarbeit betrogen hat, etwas ändern, noch dass sie der Vergesellschaftung großer Immobilienkonzerne, über die in Berlin zugleich mit der Bundestagswahl abgestimmt wird, unabhängig vom Ausgang dieses Volksentscheids schon vorab eine klare Absage erteilt hat. Um also die Nase vorn zu behalten, muss die SPD Giffey wohl nur weiter siegesgewiss von den Laternen herablächeln lassen.

Zumal die Linkspartei, die mit Spitzenkandidat Klaus Lederer immerhin den mit Abstand beliebtesten und kompetentesten Senator ins Rennen schickt, offenbar keinen Personenwahlkampf führen will und lieber ihren aus früheren Wahlkämpfen hinreichend ­bekannten Forderungskatalog plakatiert. Und zumal die Grünen, derzeit auf Platz zwei in den Umfragen, sich von einem vermutlich blinden Graphiker überzeugen ließen, es sei eine gute Idee, das Gesicht ihrer weitgehend unbekannten Spitzenkandidatin Bettina Jarasch so rahmspinatkotzegrün einzufärben, dass man schon eisenharter Shrek-Fan sein müsste, um die unterm Farbfilter kaum zu Erahnende als sympathisch wahrnehmen zu können.

So bizarr es anmuten mag, ausgerechnet die schon oft für tot erklärte SPD erweist sich derzeit als PR-strategisch geschickteste Partei – nicht nur in Berlin, auch im Bund. Auf diesem Spielfeld nämlich hat es ihr vollständig profilloser Kandidat Olaf Scholz inzwischen geschafft, als seriösester Bewerber fürs Kanzleramt zu erscheinen, indem er einfach nur nichts sagt und nichts tut, während die anderen beiden sich von einem PR-Gau zum nächsten stolpernd um Kopf und Kragen stottern.

Das ist das Schlimmste an diesem Wahlkampf, nicht der frühe Herbsteinbruch, nicht die begrenzte Wirkmacht der Politik oder die umfassende Inkompetenz derer, die dennoch um sie ­buhlen. Nicht die ewige Frage nach der Sinnhaftigkeit des Wählens oder die steil ansteigende Inzidenzkurve der social media-Empörung. Nein, das Schlimmste ist diese doppelte Wiedergeburt der ältesten, verlogensten und zugleich ödesten aller Parteien aus der Geistlosigkeit eines untoten Kassenwarts und einer skrupellosen Narzisstin. Lieber würde man mit einer Endlosschleife dieser vermutlich von waldorfgeschulten Motivationstrainern zur grünen Wahlkampfhymne für globulisedierte Funktionsjackenrentner ­umgedichteten Version des alten Lieds »Kein schöner Land in dieser Zeit« in den Ohren im herbstlichen Blättermatsch beherzt von Hundehaufen zu Hundehaufen hüpfen, als dieser Groteske beizuwohnen.