Das literarische Werk Reto Hännys

Ausufernde Wortverkettungslust

Anfang der achtziger Jahre wurde der Schriftsteller Reto Hänny als Chronist der Zürcher Jugendrevolte bekannt. Sein Bericht »Zürich, Anfang September« wurde zum Schlüsseltext der Bewegung, aber sein literarisches Werk hat so viel mehr zu bieten.

Reto Hänny ist ein Autor der Extreme. Sein Stil ist radikal, seine Haltung unversöhnlich. Obgleich er seinem Herkunftsland, der Schweiz, kritisch gegenübersteht, scheint er mit einer knorrigen Widerständigkeit, die seine Literatur prägt, doch dem Klischee des Eidgenossen zu entsprechen. 1947 im Kanton Graubünden geboren, wuchs Hänny auf dem elterlichen Bergbauernhof auf, besuchte das Lehrerseminar in Chur und arbeitete nach seinem Abschluss einige Jahre als Volksschullehrer. Bevor er Ende der siebziger Jahre in Zürich ein Studium der Germanistik und Ethnologie begann, bereiste er ausgiebig Europa, Nordafrika sowie den Nahen und Mittleren Osten.

»Sturz« ist ein experimenteller Entwicklungsroman mit autobiographischen Zügen, ein Bericht über die Kindheit und Jugend eines Bergbauernsohns, der als Legastheniker gilt und zum renommierten Schriftsteller wird.

Anfang der achtziger Jahre wurde er als Chronist der Zürcher Jugendbewegung bekannt, die gegen Wohnungsnot, Drogenmisere und die allgemeine Ödnis rebellierte und kulturelle Autonomie samt dazugehörigem Jugendzentrum forderte. Als Zeuge der Proteste in der Zeit der sogenannten Opernhauskrawalle wurde Hänny am 6. September 1980 von Polizisten verprügelt und verhaftet. Noch in derselben Nacht verfasste er einen galligen Text über den Übergriff, der im Magazin des Tages-Anzeigers erscheinen sollte, aber von der Verlagsleitung abgelehnt wurde. Einige Mitarbeiter der Zeitung verbündeten sich mit Hänny, druckten das Manuskript in eigener Verantwortung und verteilten 5 000 Exemplare. »Zürich, Anfang September« wurde zu einem Kulttext der linken Szene. Die Solidarität mit Hänny reichte weit über die Jugendbewegung hinaus, zugleich wurde er aber auch zum Feindbild rechter Kreise. Die Boulevardzeitungen nahmen ihn aufs Korn, Hänny wurde angepöbelt und bedroht. Seine Klage gegen die Polizei wurde abgeschmettert. Enttäuscht vom Rechtsstaat kehrte er der Schweiz den Rücken und zog nach Berlin, wo er viele Jahre verbrachte. Inzwischen lebt der Autor wieder in Zollikon (Kanton Zürich) und Graubünden.

Das literarische Werk Hännys ist selbstbezüglich und überschaubar. Kennzeichnend für seine Arbeitsweise ist das Verfahren des Übermalens. So veröffentlichte er den 1979 erstmals bei Suhrkamp erschienenen Text »Ruch. Ein Bericht« 1984 im selben Verlag in einer Neufassung. Auch seinen Roman »Flug«, erstmals 1985 veröffentlicht, übermalte Hänny; er erschien 2007 in einer Neufassung. Der kürzlich erschienene Collagenroman Buch »Sturz« ­beruht auf diesem Text. »Wie jeder dichterische Text ist ›Sturz‹ nicht mehr und nicht weniger als ein Spiel mit Rhythmen und Lauten«, erläutert Hänny im Vorwort. Sein Text bewegt sich in sehr langen Bögen; die Sätze wollen kaum enden, erstrecken sich zumeist über mehrere Seiten und werden über Partizipialkonstruktionen, Einschübe und Aufzählungen vorwärtsgetrieben. Dabei entsteht eine ganz eigene Musikalität: »In den abgeschatteten Räumen im hastenden Gedränge auf Schritt und Tritt gelenkt wie abgelenkt von einer sich auf der Netzhaut einbrennenden Collage aus Dingen, die auf den ersten Blick nicht zusammengehören: Füllfederhalter, Lippenstifte, die wie Projektile aussehen, Kotflügel, Kühlerhauben, Körperteile, Schlünde von Orchideenblüten, nackte Haut, von der eingeölt, eben den Fluten entstiegen, in Schwarzweiß Wasser perlt … « Trotz dieser ausufernden Wortverkettungslust ist Hänny außerordentlich präzise in seinen Beschreibungen. Seine Collage umfasst verschiedene Textsorten und Fremdtexte. Literarische Anleihen, Zitate, ­Dialektworte, Dialogfetzen, Fachsprachen, Musik- oder Literaturkritisches werden eingepasst in den episch fortlaufenden Strom der Sprache, der ihm den Vergleich mit James Joyce eingebracht hat. Es gibt keinen Erzähler im eigentlichen Sinne, niemanden, der ordnend eingreift, nur ab und an lugt ein »ich« hervor, das sich dann immer wieder verflüchtigt. Oft ist distanziert von »dem Jungen« die Rede.

»Sturz« ist ein experimenteller Entwicklungsroman mit autobiographischen Zügen, ein Bericht über die Kindheit und Jugend eines Bergbauernsohns, der als Legastheniker gilt und zum renommierten Schriftsteller wird. Als Kind erfährt der Junge das harte Leben in den Alpen, deren landschaftlicher Schönheit er zugleich verbunden bleibt. Seine Einbildungskraft erlaubt es ihm, der rauen Realität zu entfliehen. Auf den Schwingen der Phantasie erkundet er das Reich der Literatur und der Musik. Doch der Junge wird immer auf den Boden der Tatsachen zurückgeholt, vor allem durch die strenge Familie. Man hat ihm vom Jahrmarkt einen Spielzeugpropeller mitgebracht, der flugbegeisterte Junge spielt damit übermütig, bis der Großonkel, davon entnervt, das Spielzeug zerbricht. Hier zeigt sich der Lebenskonflikt des Erzählers. Er möchte träumen, in die Ferne schweifen und Grenzen überschreiten. Doch sein Vater sagt: Die Arbeit wird auf dem Boden gemacht, nicht in den Wolken.

Die Schulzeit ist eine Qual, der Lehrer erzieht die Kinder mit brutalen Prügelstrafen. Als der Junge die weiterführende Schule in Chur besucht, lebt er in einer Pension bei einer Herbergsmutter. Bald leidet der Bergbauernsohn unter der Missachtung seiner großstädtischen Klassenkameraden, die ihm zeigen, dass er nicht in den bürgerlichen Kreisen dazugehört. Ein Lehrer erkennt die Begabung und eröffnet dem Jungen den Zugang zum Wissen über das Kino und die Literatur. Auch die Beschäftigung mit Musik und Bildender Kunst wird mit den Jahren immer intensiver, der verfeinerte Geschmack und die Kennerschaft, insbesondere das wachsende Verständnis für die Neue Musik werden zum Distinktionsmerkmal, um sich von der verhassten schweizerischen Bourgeoisie mit ihrem tradierten Klassikverständnis und dem Repräsentationsbedürfnis abzusetzen.

Doch es ist nicht nur eine ästhetische Kluft, die sich auftut, sondern auch eine politische. Immer wieder spielt der Bericht auf die krypto-­faschistische Neigungen der feinen Gesellschaft an, die »ihr marschdurchbebtes, stiefeldurchstochenes Walhall erstehen lassen«. So erwähnt der Bericht auch die »Eingabe der Zweihundert«. 1940 bekundeten darin 173 Personen des rechtskonserva­tiven Lagers in der Schweiz ihre Sympathie und Solidarität mit dem nationalsozialistischen Deutschland. ­Diese Kräfte, so stellt es der Autor im Roman dar, sind auch nach 1945 weiterhin einflussreich. Ein Vertreter dieses Milieus ist der Vater eines Schulkameraden, der den Bauernjungen eines Abends zur Rede stellt. Die beiden Heranwachsenden haben beim Alkoholtrinken über die Stränge geschlagen. Der Junge wird hervorragend bewirtet und anschließend in die Bibliothek geführt und darf die Gemäldegalerie bewundern. Die ganze Inszenierung dient nur als Vorspiel, um dem Erzähler den weiteren Umgang mit dem Sohn zu verbieten. Diese Eröffnung garniert der Vater mit Drohungen, dem Jungen andernfalls die Zukunft zu verbauen und ein Studium zu verhindern.

Ein wiederkehrendes Motiv ist das des Fliegens. Es geht um den Menschheitstraum vom Fliegen, der, kaum dass er wahr geworden war, in den Alptraum der Luftschlachten und Bombardements des Ersten Weltkriegs mündete; den Kinderträumen von der Schwerelosigkeit und den Flugreisen des jungen Mannes, der die Welt erkundet. Der Bericht endet mit dem Kapitel »Fieberflug«, das von der Gegenwart erzählt. Als Passagier eines Flugzeugs sieht der Erzähler von oben auf die Schweizer Landschaft herab.

Dabei hat er einen Koffer mit den Texten, die als Vorlage für die Arbeit an dem Roman dienen. Der Schluss ist nahezu wortgleich mit dem Ende des »Flug«-Textes in der Fassung von 2007. Damit endet »die uralte Geschichte des Hansli, der in die Welt hinausgeht und das Fürchten und das Staunen lernt«. Die Art und Weise, wie Reto Hänny sie erzählt, ist einzigartig. »Sturz« ist eine gewaltige, sprachmächtige Rhapsodie in Worten.

Reto Hänny: Sturz. Matthes & Seitz, Berlin 2020, 579 Seiten, 36 Euro