Das ­politische System der Schweiz

Von AHV bis Zauberformel

Eine direkte Demokratie ist eine komplizierte Angelegenheit. Diese Einstiegshilfe erklärt das politische System der Schweiz mit seinen Fachbegriffen und Fallstricken.

AHV
Die drei Buchstaben stehen für Alters- und Hinterlassenenversicherung, die obligatorische Rentenversicherung der Schweiz; sie stellt das wichtigste Sozialwerk des Landes dar. Weil die AHV viel Geld von den Reichen zu ärmeren Beitragszahlenden umverteilt, ist sie ein beliebtes Angriffsziel der rechten Parteien. Bisher konnte sie den meisten Versuchen von Kürzungen und Einschränkungen trotzen.
Welche weitere wichtige öffentliche Institution ebenfalls mit drei Buchstaben abgekürzt wird > Service Public

Bürgerrecht
Rund ein Viertel der in der Schweiz lebenden Menschen ist vom Bürgerrecht und damit von der Mitbestimmung ausgeschlossen. Teilweise besitzen nicht einmal Personen, deren Großeltern eingewandert sind, den roten Pass mit dem weißen Kreuz. Verschiedene politische Vorstöße zielen derzeit darauf, das eklatante Defizit der gerne zur Vorzeigedemokratie verklärten Schweiz zu beheben.
Warum der Ausschluss Tradition hat > Frauen­­stimmrecht

CVP
Historisch besonders wirkmächtig war der Gegensatz zwischen den Konfessionen. Tendierten die Protestanten eher zum liberalen Lager, zählten die Katholiken überwiegend zum konservativen. 1847 siegten die Liberalen im sogenannten Sonderbundskrieg, die moderne Schweiz wurde 1848 gegründet. Der Bedeutungsverlust der Konfessionen zeigt sich in den Parteinamen. Die katholische Christ­demokratische Volkspartei (CVP) nennt sich seit neuestem auf Bundesebene »Die Mitte« und hat sich dazu mit der Bürgerlich-Demokratischen Partei (BDP) zusammengetan.
Wer wie viel Einfluss hat > Zauberformel

Direkte Demokratie
Die wichtigsten Instrumente der Bürgerbeteiligung heißen Initiative und Referendum. Wer 100 000 Unterschriften sammelt, kann mit einer Initiative eine Verfassungsänderung vorschlagen. 50 000 Unterschriften genügen für ein Referendum gegen eine Gesetzesänderung. Von der Abschaffung der Armee bis zur Enthornung von Kühen gibt es kaum ein Thema, über das noch nicht abgestimmt wurde. Abstimmungen sind auch auf Kantons- und Gemeindeebene möglich.
Welches Thema sich gerne wiederholt > Europafrage

Europafrage
An Schweizer Geldautomaten können fast überall zwei Währungen bezogen werden: Franken und Euro. Das zeigt im Alltag, wie eng das Land mit der EU verflochten ist und wie es gleichzeitig tunlichst nichts mit dem Staatenverbund zu tun haben will. Letzte Station in der ewigen Diskussion über das Verhältnis zur EU war das sogenannte institutionelle Abkommen: Weil es den Lohnschutz geschwächt hätte, den in der Schweiz relativ streng beachteten Grundsatz also, dass für gleiche Arbeit am gleichen Ort auch der gleiche Lohn gezahlt werden müsse, scheiterte es unter anderem am Widerstand der Gewerkschaften.
Wie sich die Schweiz sonst in der Welt sieht > Uno

Frauenstimmrecht
Erst vor 50 Jahren war es so weit: Die Frauen erhielten das Stimm- und Wahlrecht. Ein Grund dafür, warum es so lange dauerte, ist die direkte Demokratie: Wurde das Frauenstimmrecht andernorts durch Regierungen eingeführt, musste in der Schweiz die Mehrheit der Männer zustimmen. Nur dank einer starken Frauenbewegung gelang es 1971 nach mehreren zuvor gescheiterten Anläufen, das Frauenwahlrecht in die Verfassung aufzunehmen; auf Kantonsebene dauerte es teilweise bis in die neunziger Jahre, das Frauenstimmrecht durchzusetzen.
Worüber sonst noch alles abgestimmt wurde > Direkte Demokratie

Gummischrot
Lieblingsmittel der Polizei, um Proteste auf der Straße zu beenden. In vielen europäischen Staaten verboten, werden die gefährlichen Geschosse in der Schweiz vorzugsweise gegen Linke und Fußballfans eingesetzt. Historisch gewürdigt wurden sie von Vertreterinnen und Vertretern der Jugendbewegung von 1980, die in einer damaligen Talksendung ironisch noch größere Patronen forderten. Die anwesenden Politikerinnen und Politiker verloren die Contenance.
Was direkt zum Lieblingsschimpfwort führt > Tubel

Herrliberg
In der Ortschaft an der Goldküste des Zürichsees logiert der Milliardär Christoph Blocher, der mit der Schweizer Volkspartei (SVP) zu einem Vorreiter des Rechts­populismus in Europa wurde. »Herrliberg hat gesprochen« bedeutet umgangssprachlich, dass in der angeblichen Volks­partei stets Blocher das letzte Wort hat. Zu seiner Villa gehört auch ein unterirdisches Museum mit Gemälde­sammlung.
Zu wessen Schaden Blocher einst Bundesrat wurde > CVP

IKRK
1863 vom Genfer Geschäftsmann Henri Dunant initiiert, engagiert sich das Internationale Komitee des Roten Kreuzes seither für den Schutz von Menschen in bewaffneten Konflikten. In Sonntagsansprachen dient das IKRK gerne als Beleg für die »humanitäre Tradition« der Schweiz. Dass es mit dieser nicht mehr allzu weit her ist, zeigen die restriktive Asylpraxis oder auch die rekordverdächtig hohen Rüstungsexporte.
Wie die Schweiz Geflüchtete behandelt > Nothilfe

Jura
Der letzte Kanton, der 1979 als Abspaltung vom Kanton Bern entstand. Die separatistische Bewegung bezog sich auf Ideale der Selbstbestimmung; die Verfassung schrieb das Recht auf Arbeit, Wohnung sowie das Streikrecht fest. Der Jura, wo sich im 19. Jahrhundert die sogenannte Juraföderation bildete, eine syndikalistische Gewerkschaft, die zum anarchistischen Flügel der Ersten Internationale gehörte, ist bis heute ein linker Sehnsuchtsort geblieben.
Woran sich Linke sonst gerne orientieren > Landesstreik

Konkordanz
Wohlklingender Grundsatz, wonach Entscheidungen nicht nach dem Mehrheitsprinzip, sondern im Einvernehmen aller relevanten Kräfte getroffen werden. Eine Folge der Konkordanz ist das Kollegialitätsprinzip. Hat der siebenköpfige Bundesrat, die Regierung, einen Beschluss gefasst, müssen ihn alle Mitglieder nach außen vertreten. Einen Ministerpräsidenten kennt die Schweiz nicht, das Amt des Bundespräsidenten, also der Vorsitz im Bundesrats, wechselt im jährlichen Turnus.
Warum der Zwang zum Einverständnis systematisch bedingt ist > Opposition

Landes­streik
Am Ende des Ersten Weltkriegs trat die Arbeiterschaft am 12. November 1918 in den Generalstreik. Die Armeeführung hatte zuvor demonstrativ Truppen nach Zürich geschickt, um Aufstände niederzuschlagen. Auch wenn der Streik nur drei Tage dauerte, formulierte er mit seiner Forderung nach Frauenstimmrecht, Altersvorsorge und Vermögenssteuer für die Besitzenden ein Programm, das Jahrzehnte nachwirkte.
Wie heute gegen Protestierende vorgegangen wird > Gummischrot

Miliz­system
Politisches Organisationsprinzip, das auf der Vorstellung beruht, dass politische Mandate im Nebenamt ausgeübt werden können. Für Kantone und Gemeinde wird es im Milizsystem immer schwieriger, genügend Interessierte zu finden. In der nationalen Politik verbessern derweil immer mehr Parlamentarierinnen und Parlamentarier ihre Einkünfte mit Verbands- und Verwaltungsratsmandaten.
Wie es um die Transparenz steht > Parteien­finanzierung

Nothilfe
Kriminalisiert Menschen mit prekärem Aufenthaltsstatus. Wer einen negativen Asylbescheid erhalten hat, aufgrund der Situation im Herkunftsland aber nicht ausgewiesen werden kann, muss von der Nothilfe leben, die circa acht Franken pro Tag beträgt. Die Nothilfe zeigt exemplarisch, wie in einem der reichsten Länder der Welt systematisch Armut produziert wird.
Wer mit rassistischen Kampagnen dafür mitverantwortlich ist > Herrliberg

Opposition
Die Schweiz kennt keine Opposition. Oder anders gesagt: Parteien, die in der Regierung sind, befinden sich gleichzeitig in der Opposition. Und Parteien, die keinen Sitz in der Regierung haben, verhalten sich oft staatstragender als diese selbst. Der Grund liegt im Instrument des Referendums: Weil jede Partei auf dem Wege der Volksbefragung potentiell ein Gesetz zur Abstimmung bringen kann, wird sie besser von Beginn an in die Entscheidungsfindung einbezogen.
Wer noch mächtiger ist als die Parteien > ­Verbände

Parteienfinanzierung
Im Gegensatz zu Deutschland und den meisten anderen europäischen Ländern kennt die Schweiz keinerlei Transparenz von Parteifinanzen, auch Budgets für Abstimmungskampagnen müssen nicht offengelegt werden. So bestimmen zahlungskräftige Geldgeber die Politik. Dem Sonderfall ein Ende setzen könnte die Transparenzinitiative, die unter anderem von der SP (Sozialdemokratische Partei der Schweiz) und den Grünen lanciert wurde und im Juni dieses Jahres zur Verabschiedung von Transparenzregeln führte.
Was es sonst mit dem Lobbyismus auf sich hat > Wandelhalle

Quoten
Trotz der späten Einführung des Frauenstimmrechts verwarf die Politik bisher Quoten zur Gleichberechtigung. Eine spezielle Form der Quote gibt es dafür bei Abstimmungen über Volksinitiativen. Diese gelten nur als angenommen, wenn nicht nur mehr als die Hälfte der Bevölkerung, sondern auch der Kantone zustimmt. Das sogenannte Ständemehr bevorzugt ländliche Gebiete, weil sie die Mehrheit der Kan­tone darstellen. Zuletzt scheiterte die Abstimmung über eine Initiative, die Konzerne auch für die sozialen und öko­logischen Wirkungen ihrer Auslandsgeschäfte zur Verantwortung ziehen wollte, am Stände­mehr.
Warum die Kantone sowieso zu viel Macht besitzen > XY-unbekannt

Röstigraben
Benannt nach einem Kartoffelgericht, bezeichnet der Röstigraben die Grenze zwischen deutsch- und französischsprachiger Schweiz. Als Erklärung wird er gern angeführt, wenn es um Unterschiede im Abstimmungsverhalten geht: Die Westschweiz stimmt in der Regel sozialer ab und gewichtet die Rolle des Staates höher. Inzwischen sind die Unterschiede zwischen Stadt und Land bedeutender. So verhinderten zuletzt die ländlichen Regionen ein CO2-­Gesetz, das die Reduktion von Treib­hausgasemissionen verbindlich gemacht hätte.
Wie der liebste französischsprachige Kanton der Linken heißt > Jura

Service Public
Der französische Begriff bezeichnet öffentliche Dienste wie Schulen, Krankenhäuser oder die Energieversorgung. Und natürlich auch den beliebten öffentlichen Verkehr mit den Schweizerischen Bundesbahnen (SBB). Auch weil Service Public so vertrauensbildend klingt, konnten die meisten Privatisierungsbestreben bisher verhindert werden.
Wie die französische Sprache sonst die Politik beeinflusst > Röstigraben

Tubel
Lieblingsschimpfwort quer durch alle politischen Lager. Es bezeichnet einen störrischen, als blöd empfundenen Menschen. In der deutschen Hochsprache ist es vergleichbar mit Idiot. Bei besonderer Wut lässt es sich auch steigern: »Du huere Tubel!«
Warum in der Schweiz eher selten laut geflucht wird > Konkordanz

Uno
Die Schweiz inszeniert sich gerne als Schauplatz von großen Gipfeltreffen auf neutralem Boden. Zahlreiche internationale Institutionenfinden sich hier, von der Uno bis zum als privater Verein besteuerten Fußballwelt­verband Fifa. Die Schweiz gibt sich am liebsten unbeteiligt, wenn es nicht ge­rade um die eigenen Geschäfte geht: Der Uno trat sie erst 2002 bei.
Wer sich neben der Uno in Genf befindet > IKRK

Verbände
Weil ihnen das Referendum eine Einspruchsmöglichkeit gegen Gesetze ­ermöglicht, haben sich seit Ende des 19. Jahrhunderts die Verbände als mächtige Kraft in der Schweizer Politik herausgebildet. Zu den Interessenorganisationen gehören der Bauernverband, der Gewerbeverband, der Unternehmerverband Economiesuisse sowie die Gewerkschaften.
Worüber sich die Verbände am liebsten streiten > AHV

Wandelhalle
Vorzimmer des Parlaments, das aus dem Nationalrat mit gewählten Vertreterinnen und Vertretern der Bevölkerung und dem Ständerat mit Abgesandten aus den Kantonen besteht. In der Wandelhalle anzutreffen sind neben Politikerinnen und Politikern vor allem Lobbyisten von Verbänden, Firmen und PR-Agenturen. Angesichts der Tatsache, dass das Schweizer Parlament seit 1848 von konservativen Kräften dominiert wird, kann man die Bezeichnung Wandelhalle durchaus ironisch verstehen, denn eine Halle des gesellschaftlichen Wandels war sie nie.
Warum der Lobbyismus so stark ist > Milizsystem

XY-unbekannt
Dank dem Schweizer Bankgeheimnis konnten Steuerhinterzieher hierzulande lange unbekannt bleiben. Erst nach der Finanzkrise 2008 und durch internationalen Druck schloss sich das Steuerschlupfloch. Die Drohung des damaligen deutschen Finanzministers, Peer Steinbrück (SPD), die Alpenapachen mit der Kavallerie zur Räson zu rufen, ist von vielen unverziehen. Die Schweiz beteiligt sich munter weiter am Steuerwettbewerb. Die Unternehmenssteuern sind im internationalen Vergleich rekordverdächtig niedrig. Das liegt auch an der hohen Steuerautonomie der Kantone: Sie trägt zu einem race to the bottom bei.
Warum es den Konzernen auch sonst gut geht > Quoten

Zauberformel
Alchemistische Regel, wonach sich der Bundesrat, die siebenköpfige Bundesregierung, nach den jeweiligen Wahl­ergebnissen der großen Parteien zusammensetzt. Derzeit verfügen SP, FDP und SVP über je zwei Sitze, die Partei »Die Mitte« hält einen. Außen vor bleiben Grüne und Grünliberale.
Ebenso wie jene, die kein Stimmrecht haben > Bürgerrecht


Anna Jikhareva und Kaspar Surber sind ­Redakteure der Schweizer Wochenzeitung »Woz«.