An der Bosporus-Universität in ­Istanbul gehen die Proteste weiter

Diplom in Widerstand

Seit Januar gibt es an der Bosporus-Universität in Istanbul Proteste gegen den von Präsident Erdoğan ernannten Rektor und das autoritäre Regime in der Türkei. Mehrere die Proteste unterstützende Dozierende wurden entlassen, darunter der Filmemacher Can Candan.

Mehr als 260 Tage lang und kein Ende in Sicht. Seit dem 4. Januar protestieren Dozierende und Studierende an der renommierten Boğaziçi Üniversitesi (Bosporus-Universität) in Istanbul. Auslöser war die Ernennung Melih Bulus von der islamisch-konservativen Partei für Gerechtigkeit und Aufschwung (AKP) zum Rektor durch ein Präsidialdekret Recep Tayyip Erdoğans (Protest gleich Blasphemie).
Trotz der langen Dauer der Proteste fällt den Protestierenden immer wieder etwas Neues ein. Am 8. September feierten sie ihre eigene, mit über 1 000 Menschen bestens besuchte Abschlussfeier als Alternative zur von der Universitätsleitung offiziell organisierten. Auf der alternativen Feier wurden den Studierenden »Widerstandsdiplome« überreicht, die freilich nicht vom Rektor unterzeichnet worden waren, und man zelebrierte den andauernden Protest.

In einem offenen Brief kritisierten über 300 internationale Akademikerinnen und Akademiker die Entlassung Candans.

Dieser geht weit über Kritik an der Besetzung des Rektorpostens hinaus. Ein erster Erfolg war, dass Erdoğan Bulu am 15. Juli abberief, sein bisheriger Stellvertreter Mehmet Naci İnci rückte nach. Doch auch dieser vertritt eine autoritäre und islamisch-konservative Linie. Das harte Vorgehen der Regierung gegen die Protestierenden, die zahlreichen Festnahmen und andere Repressalien zeigen, dass der Kampf noch lange nicht zu Ende ist. Es ist ein Kampf gegen das ultrareligiöse, rassistische, autokratische und homophobe System in der Türkei.

Von vielen türkischen Prominenten und Politikern, darunter die Journalisten Ahmet Şık und Can Dündar sowie der Bürgermeister von Istanbul, Ekrem İmamoğlu (Republikanische Volkspartei, CHP), haben die Protestierenden mittlerweile Zuspruch erhalten, und auch von Dozierenden und Studierenden anderer Universitäten der Türkei, die ihrerseits Missstände anklagen. Beispielsweise initiierten im Frühjahr Studierende der Türkisch-Deutschen Universität in Istanbul, die auch mit deutschen Steuergeldern unterstützt wird, den Hashtag »Kein Platz für Homophobie an der Uni« und forderten die Kündigung des Politikwissenschaftlers Muhammet Tacettin Kutay, der neben seiner Lehrtätigkeit als Journalist AKP-Positionen vertritt. Er hatte mit mehreren homophoben und rassistischen Tweets für Empörung gesorgt.

Der Rektor gab nach Intervention der Bundesregierung und des Deutschen Akademischen Austauschdiensts (DAAD) an, es sei ein Disziplinarverfahren gegen den Dozenten eingeleitet worden. Das teilte der parlamentarische Staatssekretär Michael Meister auf eine Anfrage des Grünen-Politikers Kai Gehring am 31. März mit. Der Ausgang ist jedoch offen und am 6. August war Kutay an einem Einführungsseminar für potentielle neue Studierende an der Fakultät Politikwissenschaft und Internationale Beziehungen beteiligt.

An der Bosporus-Universität mussten hingegen mehrere Dozierende gehen, die sich mit den Protesten solidarisiert oder sich der Leitung auf andere Weise missliebig gemacht hatten. Bereits Ende April wurde Cemre Baytok in den unbezahlten Urlaub entlassen, die als Koordinatorin im Büro gegen Sexuelle Belästigung (CİTÖK) arbeitete. Dem Rektorat zufolge bestehe kein Bedarf mehr an einer solchen Dienstleistung und es seien auch keine anderen Stellen für Baytok verfügbar. Ende Mai wurden die Kurse des seit 2013 an der Universität unterrichtenden Filmwissenschaftlers Feyzi Erçin nicht genehmigt, der daraufhin seine Seminare unter freiem Himmel veranstaltete. Bulu seinerseits hatte versucht, die Proteste an der Bosporus-Universität gegen ihn zu verhindern, indem er mehrfach den Zugang zum Campus von Sicherheitsdienst und Polizei komplett versperren ließ.

Sein Nachfolger İnci versucht weiterhin, den Protest an der Universität zu ersticken. Am 16. Juli, einen Tag nach Bulus Abberufung, wurde der Vertrag des Filmemachers und Dozenten Can Candan nach 14 Jahren Lehrtätigkeit gekündigt. Mitte September wurden auch die Jazz-Kurse von Seda Binbaşgil annulliert, die bereits 16 Jahre an der Universität unterrichtet hatte. Die ­Begründungen des Rektorats für die Entlassungen sind hanebüchen: Die Benotung von Studierenden sei ungerecht, einzelne Kurse würden ein schlechtes Licht auf die Universität werfen, das Lehrdeputat sei nicht erfüllt oder es sei ein Disziplinarverfahren eingeleitet worden.

Candan hatte den Protest an der Bosporus Universität monatelang filmisch begleitet und sich öffentlich auf die Seite der verhafteten Protestierenden gestellt. Zudem war er Mentor des LGBTI-Clubs »BÜLGBTİ+« an der Universität – bis zu dessen Verbot durch Bulu im Februar. Von Candan stammen mehrere wichtige Filme und Dokumentationen. Der 52jährige, der unter anderem in den USA studiert und unterrichtet hat, war auch mehrfach Gast auf Filmvorführungs- und Diskussionsveranstaltungen in Deutschland.

Gegen die Entlassungen protestieren Studierende und Dozierende der Bosporus-Universität ebenfalls. In einem offenen Brief kritisierten über 300 internationale Akademikerinnen und Akademiker die Entlassung Candans; eine Kampagne auf der Online-Plattform Change.org sammelte mittlerweile fast 10 000 Unterschriften. Candan selbst hat Klage gegen seine Entlassung eingereicht.

Am 11. September wählte die Mitgliederversammlung des 1989 gegründeten Hochschulfakultätsverbands ÜNİVDER ihren neuen Vorstand und nahm Candan in ihren Ehrenrat auf. Ein ehemaliger Student betont im Gespräch mit der Jungle World, dass Candan ein Lehrer mit Leib und Seele sei, der sowohl Theorie als auch Praxis beherrsche. Den Protest an der Universität dokumentiert Candan weiterhin unermüdlich. In der Sendung »ÖFG TV« auf dem Youtube-Kanal des im Juli aus der Haft entlassenen Menschenrechtlers und HDP-Abgeordneten Ömer Faruk Gergerlioğlu sagte Candan am 14. September, dass er sich derzeit nicht alleine fühle, da er an der Universität viele Unterstützerinnen und Unterstützer habe. Mit einer Antwort auf seine Klage rechne er jederzeit. Er gehe zudem davon aus, dass seine Kurse am 6. Oktober, zu Beginn des neuen Semesters, wieder anfangen.