Small Talk mit Konstantin Behrends von der Initiative »zweiteroktober90« über die Welle rechter Gewalt in der Nacht auf den 3. Oktober 1990

»Teils pogromartige Geschehnisse«

Small Talk Von Jens Winter

Die Initiative »zweiteroktober90« möchte dokumentieren, was 1990 im Schatten der Feierlichkeiten zur so­genannten Wiedervereinigung geschah. In über 29 Städten versammelten sich damals Neonazis und Rechte und überfielen gezielt Linke und besetzte Häuser sowie Migrantinnen und Vertragsarbeiter. Die »Jungle World« sprach mit Konstantin Behrends, der das Online-Projekt mit ins Leben gerufen hat.

Was geschah am 2. Oktober 1990?

In der Nacht vor Inkrafttreten des Einigungsvertrages haben mindestens 1 500 Neonazis, Rechte und andere Leute Migranten, People of Color, Linke und deren Wohnorte angegriffen, teilweise als Mobs mit über 200 Leuten, bewaffnet mit Molotow-Cocktails, Baseballschlägern und Schreckschusspistolen. Das Geschehen nahm teilweise ein pogromartiges Ausmaß an. Polizei und Behörden haben es weitgehend zugelassen und sehr spät reagiert, obwohl sie oftmals schon vorher über die bevorstehenden Gewalttaten informiert waren. Die Täter, wenn sie überhaupt festgenommen oder angezeigt wurden, sind meist glimpflich davongekommen.

Am 3. Oktober – also nur einen Tag später – hat die Staatsmacht aber bewiesen, dass sie doch sehr beherzt eingreifen kann, als ein riesiges Polizeiaufgebot auch mit Polizisten aus Westdeutschland die große linke Demonstration gegen die Wiedervereinigung am Alexanderplatz in Berlin zerschlagen hat. Wie seid ihr auf diese Geschehnisse gestoßen?

Durch Gespräche mit älteren Autonomen, Hausbesetzern und Linken, die damals die Wiedervereinigung in Thüringen erlebt haben. Dabei fiel uns auf, dass in derselben Nacht drei besetzte Häuser in Thüringen angegriffen wurden, teilweise von sehr großen Nazimobs. Wir fingen an zu recherchieren, mit Initiativen zu reden, in die Archive zu gehen, alte Zeitungen durchzublättern, und sind so auf ganz viele Vorfälle gestoßen, die wir dann rekonstruieren konnten.

Wie erklärt ihr euch, dass die Vorfälle größtenteils verschwiegen und vergessen wurden?

Zum einen, weil sich für viele, die es traf, schon damals niemand interessiert hat und die Vertragsarbeite­rinnen nach der Vereinigung oftmals das Land verlassen mussten. Und von den betroffenen Linken wollte man viele Jahre auch nichts hören. Dass die Diskussion über die Gewalterfahrungen der Linken in den neunziger Jahren so hochgekommen ist, ist ja erst eine jüngere Entwicklung.

Ihr schreibt auf eurer Website, dass die Gewaltaus­brüche »angekündigt und absehbar« waren. ­Inwiefern war das so?

Vielen war klar gewesen, dass es in dieser Nacht zu Angriffen kommen würde. Die Linken hatten sich in ihren besetzten Häusern verbarrikadiert, die Migrantinnen in ihren Unterkünften. Teilweise haben sie den ganzen Tag das Haus nicht verlassen. Sie wussten, dass sie angegriffen werden würden. Auch die Stadtverwaltungen und die Polizei wussten davon. Sie hatten Informanten und haben teilweise sogar in der Presse veröffentlicht, dass es zu Ausschreitungen kommen wird, sie jedoch nicht die Kapazitäten haben würden, um einzugreifen.

Könnt ihr einen der Angriffe beschreiben?

In Zerbst belagerten mindestens 200 Neonazis über mehrere Stunden – von der Presse angekündigt und in der Anwesenheit eines Polizisten – ein besetztes Haus. Die Besetzerinnen waren zum Großteil jünger als 18 Jahre. Nachdem die Angreifer das Haus in Brand gesetzt hatten, sind die Jugendlichen aufs Dach geflüchtet, um nicht zu sterben. Die Feuerwehr konnte sie in letzter Minute retten.