Zum Trauermarsch für Siegfried »SS-Siggi« Borchardt kamen 500 Nazis nach Dortmund

Mentor und Maskottchen

Der langjährige Neonazikader Siegfried »SS-Siggi« Borchardt ist gestorben. Für einen Trauermarsch kamen am Samstag 500 Rechtsextreme nach Dortmund, unter ihnen zahlreiche Nazis mit Terrorverbindungen. In Dortmund hinterlässt Borchardt eine Szene im Abschwung.

Der letzte Kampf von Siegfried Borchardt ging um Bänke. Im August waren auf dem Wilhelmplatz im bei Nazis beliebten Dortmunder Stadtteil Dorstfeld einige Bänke abgebaut worden. Sie sollten instand gesetzt werden. Borchardt witterte ein politisches Manöver gegen sich und seine Kameraden. Er nutzte die Bänke auf dem Platz gerne, saß hier regelmäßig mit einem Bier in der Hand. Auf seinem Telegram-Kanal echauffierte sich Borchardt, dass die Bänke den älteren und national gesinnten Bürgern genommen würden. Sein Kampf war nicht vergeblich: Vor wenigen Wochen kamen die Bänke zurück. Jetzt allerdings bunt angemalt und mit antifaschistischen Slogans versehen. Borchardt, der gemeinhin nur »SS-Siggi« genannt wurde, war das egal. Sobald die Bänke wieder standen, verbreitete er Bilder von sich auf dem Wilhelmplatz. In der Nacht zum 3. Oktober starb Borchardt im Alter von 67 Jahren.

Der Kampf um die Bänke lässt Borchardt als lächerliche Figur erscheinen – ein alter Mann, der um seinen Trinkort ringt. Wenig schmeichelhaft war er bei Dortmundern, die weder ­seinen Namen noch seinen gebräuchlichen Spitznamen kannten, auch als »der Säufernazi« bekannt. Diese Bezeichnung wirkt allerdings viel zu harmlos, wenn man Borchardts jahrzehntelanges Wirken bedenkt.

Über den Hooliganismus politisiert – Borchardt war Mitglied der »Borussenfront« –, durchlief er eine Vielzahl neonazistischer Organisationen. In den achtziger Jahren war er Mitglied der Aktionsfront Nationaler Sozialisten/Nationale Aktivisten (ANS/NA), einer von Michael Kühnen geleiteten Nazi-Gruppierung. Nach deren Verbot folgte die Freiheitliche Deutsche Arbeiterpartei (FAP), und als auch diese verboten wurde, die Organisierung in neonazistischen Kameradschaften. 2012, nach dem Verbot des »Nationalen Widerstands Dortmund«, ging Borchardt mit seinen Kameraden in die Partei »Die Rechte«. Diese agiert klüger als seine früheren Parteien, tritt zu Wahlen an und erschwert so ein Verbot.

2014 erzielte Borchardt sogar einen kommunalpolitischen Erfolg. Er zog in den Dortmunder Stadtrat ein. Am Wahlabend suchten Neonazis vor dem Rathaus die Eskalation. Die Neonazis feierten ihren »Rathaussturm« mit einem Bild Borchardts und dem Spruch »Mit einem Schlag ins Rathaus«.

Rechte Gewalt bestimmte das Leben Borchardts. Als Hooligan der »Borussenfront« jagte er bei Spielen des BVB und der deutschen Nationalmannschaft Migrantinnen und Migranten sowie Linke noch lieber als gegnerische Fans. Auch in den letzten Jahren agierte der Neonazi immer wieder gewalttätig. Im Zweifel nutzte er dafür den Gehstock, den er seit geraumer Zeit bei sich trug. Hinzu kamen zahlreiche ­Verurteilungen für typische Nazi-Vergehen: das Zeigen verbotener NS-Symbole sowie Volksverhetzung. Borchardt saß immer wieder Haftstrafen ab.

Die haben auch viele hinter sich, die knapp eine Woche nach Borchardts Tod an einem Gedenkmarsch für ihn teilgenommen haben. 500 Neonazis und Hooligans versammelten sich dafür am Samstag vor dem Dortmunder Hauptbahnhof. Unter ihnen waren Rechtsextreme, die sich seit Jahren nicht bei Aufmärschen sehen ließen, wie Daniela Wegener, eine ehemalige Kameradschaftsführerin aus dem Sauerland, und Stephan Haase, der ehemalige Landesvorsitzende der nordrhein-westfälischen NPD. Hinzu kamen Szene-Prominente wie Christian Worch, Thomas Wulff und Thorsten Heise.

Heise, der derzeit wegen eines Gerichtsprozesses, bei dem es unter anderem darum geht, dass sein Sohn gemeinsam mit einem weiteren Nazi zwei Journalisten verprügelt haben soll, in der Öffentlichkeit steht, durfte auch die Totenehrung für Borchardt abhalten. Dabei zitierte er mit viel Pathos ein leicht abgewandeltes Lied der Hitlerjugend und lobte Borchardt als Kameraden, der keiner Auseinandersetzung aus dem Weg gegangen sei. Heise gilt als einer der führenden Köpfe des militanten Neonazismus in Deutschland. So ­wundert es nicht, welche einschlägig Bekannten außer ihm noch am Trauermarsch teilgenommen hat: William Browning gilt laut der Rechercheplattform Exif als Europa-Führer der in Deutschland verbotenen Nazi-Terrorgruppe »Combat 18«, Stanley Röske als Anführer von deren trotz Verbot bestehenden deutschen Sektion. Auch terroraffine Neonazis aus der Schweiz und Ungarn nahmen an dem Aufmarsch teil.

Wenig überraschend weisen Indizien auch auf eine weitere Verbindung zu Borchardt hin: In einem Versteck der Terrororganisation Nationalsozialistischer Untergrund (NSU) fanden Ermittelnde ein Päckchen mit Munition, das die Aufschrift »Siggi« trug. Eine Nazi-Kneipe befand sich nur wenige Hundert Meter vom Tatort des NSU-Mordes an Mehmet Kubaşık in Dortmund entfernt.

Für den Dortmunder Neonazi Alexander Deptolla, der sich in letzter Zeit vor allem als Veranstalter des Kampf­sportevents »Kampf der Nibelungen« hervortat, war Borchardt ein »Mentor«. In seiner Trauerrede beschrieb Deptolla, wie Borchardt ihm und anderen Nachwuchsnazis vor einigen Jahren den ­Rücken freigehalten hatte, als sie sich als »Autonome Nationalisten« ­organisierten. Borchardt habe ihnen geholfen und sie mit den nötigen Kontakten versorgt.

In den vergangenen Jahrzehnten hatte Borchardt federführend dafür gesorgt, dass sich in Dortmund eine der aktivsten Neonaziszenen der BRD entwickeln konnte. Skinheads fühlten sich in ihr genauso aufgehoben wie Rechtsrocker oder Kader, die vor allem ein Interesse an rechtsextremer Kommunalpolitik pflegten. Doch der Einfluss von Borchardt ging allmählich zurück und der Repressionsdruck durch die Polizei, die nach Jahren des Wegsehens begann, das Problem ernst zu nehmen, nahm zu.

Heute ist die Dortmunder Naziszene ein Schatten früherer Tage. Mehrere wichtige Kader haben die Stadt in Richtung Ostdeutschland verlassen. Verbliebene Rechte wie Deptolla können zwar auf Borchardt als »Mentor« verweisen, die Stadtpolitik zu beeinflussen, ist ihre Sache allerdings nicht. Dem stehen die persönlichen Interessen entgegen, den »Kampf der Nibelungen« und den Merchandise-Handel voranzu­treiben. Auch sonst gibt es wohl keinen Neonazi, der die Rolle von Borchardt einnehmen könnte.

Und so werden die Bänke auf dem Wilhelmplatz in Zukunft wohl öfter leer bleiben. Der »Nazi-Kiez« Dorstfeld befindet sich seit längerer Zeit auf dem absteigenden Ast. Mit Borchardt verlieren die Nazis einen, der zwar die Aktivitäten nicht mehr steuerte, aber bei Bedarf viele Neonazis zusammenrufen konnte. Abzuwarten bleibt, in welcher Weise Borchardts Obsession mit dem Nationalsozialismus bei der anstehenden Beerdigung inszeniert wird. Seine alten Kameraden kündigten jedenfalls eine Beteiligung an.