In Afghanistan droht eine ökonomische Katastrophe

Emirat am Abgrund

Die Taliban beherrschen ein wirtschaftlich zerrüttetes Land. Der Kampf gegen den »Islamischen Staat« stärkt auch in der Taliban-Regierung die besonders extremen Islamisten.

In kurzer Zeit hatten die Taliban in diesem Sommer die Kontrolle über Afghanistan übernommen. Dementsprechend hastig bildeten sie Anfang September eine Interimsregierung für ihr international nicht anerkanntes Islamisches Emirat Afghanistan. Bereits jetzt herrscht in der islamistischen Regierung offener Streit zwischen Pragmatikern, die rhetorisch moderater auftreten, und Extremisten wie dem Innenminister Sirajuddin Haqqani, dem Anführer des von seinem Vater gegründeten Haqqani-Terrornetzwerks, das unter anderem mit zahlreichen Anschlägen gegen die vorherige afghanische Regierung und westliche Truppen gekämpft hatte. Das US-Außenministerium bietet für Hinweise, die zu seiner Verhaftung führen, bis zu zehn Millionen US-Dollar.

Einer der Streitpunkte ist das Verhältnis zum Nachbarstaat Pakistan. Die Unterstützung des pakistanischen Geheimdiensts ISI verhalf den Taliban zu militärischen Erfolgen, zum Beispiel Anfang September beim Kampf gegen die Truppen von Ahmad Massoud im Panjshir-Tal, wo Berichten zufolge sogar die pakistanische Luftwaffe zum Einsatz kam. Am Donnerstag vergangener Woche versprach Pakistans Außenminister Shah Qureshi den Taliban humanitäre Unterstützung in Höhe von etwa 25 Millionen Euro. Gleichzeitig wollen sich die Taliban vom übermächtigen Nachbarn emanzipieren und als Herrscher über einen unabhängigen Staat wahrgenommen werden. Pakistan sei, auch wenn das Land sich offiziell Islamische Republik nenne, kein islamischer Staat, tönten einige Vertreter der Taliban. Worte, die bedrohlich nach imperialen Kalifatsvorstellungen klingen.

20 Jahre nach Beginn des »Kriegs gegen den Terror« sieht die Bilanz ernüchternd aus: In Afghanistan hat sich der IS etabliert, der Innenminister der Taliban hat enge Verbindungen zu al-Qaida.

Die Taliban stehen jedoch vor gewaltigen inneren Herausforderungen. Die afghanische Wirtschaft ist von Geldströmen aus dem Ausland abhängig. Vor der Machtübernahme der Taliban wurden drei Viertel des staatlichen Budgets durch ausländische Finanzhilfen gedeckt; bleiben diese aus, droht ein Zusammenbruch der Geldwirtschaft und die weitere Verelendung der Bevölkerung. Um 30 Prozent werde die afghanische Wirtschaft dieses Jahr schrumpfen, schätzt der Internationale Währungsfonds (IWF). So stehen die westlichen Länder und besonders die USA, die unter anderem zehn Milliarden US-Dollar der afghanischen Zentralbank eingefroren haben, vor einem Dilemma: Blockieren sie den Zugriff der Taliban auf die Guthaben und finanzieren sie das Regime nicht, verschlimmert sich das humanitäre Desaster.

Auch um die militärische Kontrolle des Landes kämpfen die Taliban weiter. Terroranschläge des »Islamischen Staats Khorasan« (IS-K) häuften sich zuletzt. Die Herausforderung durch die von ehemaligen Taliban gegründete Terrorgruppe treibt die Taliban dazu, ihren islamisch begründeten Führungsanspruch noch deutlicher zu vertreten. Sie müssen befürchten, dass weitere ihrer Fußsoldaten zum IS-K überlaufen, wenn sie selbst als zu liberal oder angesichts der Terroranschläge hilflos wahrgenommen werden.

20 Jahre nach Beginn des US-geführten »Kriegs gegen den Terror« sieht die Bilanz ernüchternd aus: Auch in Afghanistan hat sich der IS etabliert, Innenminister Haqqani hat enge Verbindungen zu al-Qaida, weshalb auch deren Wiedererstarken in Afghanistan nur eine Frage der Zeit scheint. Über al-Qaida und das vom Innenminister geführte Haqqani-Netzwerk heißt es in einem Bericht des UN-Sicherheitsrats vom Juni: »Die Verbindungen der zwei Gruppen ist nach wie vor eng, sie basiert auf ideologischen Übereinstimmungen und persönlichen Beziehungen, die durch gemeinsame Kämpfe und Eheschließungen zwischen den Gruppen gestärkt wurden.«

Am 19. Oktober trat der US-Sondergesandte für Afghanistan, Zalmay Khalilzad, zurück, der das im Februar vergangenen Jahres in Doha unterzeichnete Abkommen zwischen den USA und den Taliban maßgeblich mitverhandelt hatte. Statt der dort vereinbarten »inklusiven Regierung« unter Beteiligung verschiedener afghanischer Bevölkerungsgruppen streben die Taliban weitestgehend eine Alleinherrschaft an. Mädchen gestattet das Islamische Emirat gegenwärtig nur Grundschulunterricht bis zur fünften Klasse. Mit vier Tadschiken, zwei Usbeken, einem Turkmenen, einem Hazara und einem Nuristani sind zwar im auf 55 Mitglieder erweiterten Kabinett der Übergangsregierung auch Repräsentanten einiger ethnischer Minderheiten vertreten, doch Frauen und ehemalige Politiker der vom Westen unterstützten Regierungen sucht man vergebens.

Die Dürre dieses Jahres lässt die Preise für Lebensmittel in die Höhe schnellen. Im Winter verschärft sich die Situation zusätzlich. Dem Rotem Kreuz zufolge sind 30 Prozent der Afghanen von Unterernährung bedroht. Stromausfälle häufen sich, der Ölpreis steigt, Trinkwasser verknappt sich. Sanktionen der USA verhindern den Zugriff der Taliban auf die Währungsreserven der Zentralbank, der IWF blockiert die Notfallreserven, die EU stornierte Entwicklungshilfe. Den Banken im Land geht das Geld aus. Lehrer und Lehrerinnen, Ärzte und andere vormals mit Geld aus dem Ausland finanzierte Berufsgruppen warten seit drei Monaten vergebens auf ihre Gehälter. In einem neuen Modellprojekt der Taliban in Kabul zum Bau von Regenwasserreservoirs werden 40 000 Arbeitslose mit Weizen entlohnt. Brückenbau soll eine weitere Maßnahme im Kampf gegen die grassierende Arbeitslosigkeit werden.

Unterdessen geht die Taliban gegen Drogenkonsumenten vor, bei Razzien wurden Hunderte festgenommen. Afghanistan produziere zwischen 80 und 90 Prozent des Opiums auf dem Weltmarkt, schätzt das Büro der Vereinten Nationen für Drogen- und Verbrechensbekämpfung (UNODC), weltweite Lieferketten sind seit Jahrzehnten etabliert. Auch Crystal Meth ist in dem Land verbreitet. Erst 2017 entdeckten Afghanen eine Methode, mit der sich aus dem wild wachsenden Gebirgsstrauch Meerträubel ein Grundstoff für die Meth-Herstellung gewinnen lässt. Einigen Schätzungen zufolge werden in Afghanistan mit dieser preisgünstigen Methode rund 1 000 Tonnen Meth pro Jahr produziert.

Elf Prozent der Afghanen konsumieren regelmäßig Drogen, rund fünf Prozent gelten als abhängig. Gerade Meth ist günstiger als Lebensmittel und wirkt effektiv gegen Hungergefühle. Nun drohen Drogenkonsumierenden 45 Tage zwangsweisen Entzugs, wegen des Medikamentenmangels zumeist kalt. Im nächsten Schritt dürften die Bauern, die Schlafmohn anbauen, es mit den Taliban zu tun bekommen, die Ernte steht in den kommenden Wochen bevor. Die Bauern sollen deutlich härter bestraft werden, kündigten die Taliban an. Andere Razzien gelten Menschen, die mit ausländischen Armeeangehörigen kollaborierten oder über Einfluss in der Vorgängerregierung verfügten. Verfolgt werden auch Menschenrechtler, Journalisten und Musiker.

Von den Minderheiten Afghanistans sind insbesondere die Hazara durch die Talibanherrschaft bedroht. Die zu Teilen schiitische ethnische Gruppe macht rund zehn Prozent der afghanischen Bevölkerung aus. Nach der Machtübernahme der Taliban kam es zu systematischen Vertreibungen in Daikondi und vier weiteren Provinzen, zu außergerichtlichen Verhaftungen und zu Folter. Vom Iran unterstützte Hazara-Milizen wie die Fatemiyoun kämpfen gegen den IS sowohl in Syrien als auch in Afghanistan. Mitte Oktober töteten Selbstmordattentäter des IS-K in der größten schiitischen Moschee Kandahars während des Freitagsgebets mindestens 47 Menschen. Eine Woche zuvor hatte ein IS-K-Selbstmordattentäter 55 Menschen in einer schiitischen Moschee in Kunduz getötet.

Die Hazara sind durch die Konkurrenz zwischen Taliban und Islamischem Staat besonders gefährdet. Die IS-K-Anschläge auf Hazara folgen einer Strategie: Stellen sich die Taliban allzu schützend vor die Hazara, können sie dafür nach islamistischen Kriterien angefeindet werden. So wird der Islamismus insgesamt radikaler. Jeder weitere Anschlag des IS-K stärkt die Hardliner in den Reihen der Taliban, insbesondere Innenminister Haqqani, der Mitte Oktober im Fünfsternehotel Intercontinental in Kabul Familien von Selbstmordattentätern feierlich Geldzahlungen und Landbesitz versprach.

Unklar ist, in welcher Form die USA zukünftig in Afghanistan militärisch intervenieren werden. US-Präsident Joe Biden hatte angekündigt, auch nach dem Truppenabzug die Möglichkeit zu erhalten, mit »Antiterroreinsätzen« in Afghanistan zu intervenieren. Derzeit verhandelten die USA mit Pakistan über die Nutzung von Luftwaffenstützpunkten, auch um Afghanistan mit Drohnen überwachen zu können, berichtete der Nachrichtensender CNN am Samstag unter Berufung auf Quellen mit Kenntnis einer nichtöffentlichen Unterrichtung im US-Kongress. Das pakistanische Außenministerium dementierte die Berichte jedoch. Im Juni hatte der pakistanische Ministerpräsident Imran Khan in einem Interview mit der US-Nachrichtenwebsite Axios deutlich ausgeschlossen, US-Militärstützpunkte auf pakistanischem Boden zu erlauben.