Nur wenige der aufnahmeberechtigten Afghanen haben es nach Deutschland geschafft

Auf sich allein gestellt

Zehntausende Afghaninnen und Afghanen haben das Recht, in Deutsch­land aufgenommen zu werden. Doch bisher haben es nur wenige von ihnen aus Afghanistan heraus geschafft. Die Bundes­regierung unternimmt kaum etwas, den übrigen zu helfen.

Als die Taliban am 15. August Kabul einnahmen, schaute die Weltöffentlichkeit schockiert nach Afghanistan. Bilder von Menschen, die sich verzweifelt an Flugzeuge klammerten, gingen um die Welt. Besondere Sorge galt neben Frauenrechtlerinnen den sogenannten Ortskräften, also Afghaninnen und Afghanen, die im Land für die internationale Koalition gearbeitete hatten. Sie mussten Racheakte der Taliban fürchten, da sie diesen als Verräter gelten.

Auch Deutschland hat viele Ortskräfte beschäftigt. Im Sommer wurde parteiübergreifend die schnelle Evakuierung und Aufnahme der Betroffenen sowie ihrer Familien gefordert. Annalena Baer­bock von den Grünen sprach im ARD-Sommerinterview von 50 000 Menschen, die aufgenommen werden müssten.

Die Sicherheitslage in ganz Afghanistan ist extrem schwierig, Menschenrechtlerinnen und ehemalige Ortskräfte sind besonders bedroht.

Doch mittlerweile ist Afghanistan weitestgehend aus den Medien verschwunden, das Thema Ortskräfte scheint kaum noch jemanden zu interessieren. Dabei versuchen immer noch Tausende Menschen verzweifelt, Afghanistan zu verlassen. Die wenigsten der potentiell Aufnahmeberechtigten sind tatsächlich nach Deutschland ausgereist. Dem Bundesinnenministerium (BMI) zu­folge sind seit dem 16. August, dem Beginn der Evakuierung aus Kabul, nur 674 Ortskräfte und ihre Familienangehörige in die Bundesrepublik geflogen worden, insgesamt 2 752 Personen – die meisten von ihnen in den allerersten Tagen nach der Eroberung Kabuls. Seit dem Ende der Luftbrücke im August hat es nur einen einzigen deutschen Evakuierungsflug gegeben. Dieser brachte am vergangenen Mittwoch 329 Menschen nach Deutschland.

Wie viele Personen genau von den deutschen Behörden als potentiell aufnahmeberechtigt erachtet werden, ist schwer zu sagen. Das BMI, das bei entsprechenden Anträgen das letzte Wort hat, stellte auf Nachfrage der Jungle World keine Zahlen zur Verfügung. Axel Steier vom Verein Mission Lifeline, der Betroffene in Afghanistan unterstützt, kritisiert im Gespräch mit der Jungle World, dass die zuständigen Behörden versuchten, den Kreis der Berechtigten möglichst klein zu halten. So sind Ortskräfte prinzipiell nur auf­nahmeberechtigt, wenn sie nach 2013 für die Bundesrepublik gearbeitet ­haben. Auch darf sie nur ihre Kernfamilie begleiten, nicht einmal volljäh­rige Kinder dürfen mitkommen.

Zudem werden nicht alle Arbeitsverträge anerkannt, wie zuletzt etwa im Fall von zehn ehemaligen Fluglotsen, die jahrelang für die Bundeswehr am Flughafen Mazar-i-Sharif gearbeitet hatten. Der »Tagesschau« sagte ein Sprecher des Bundesverteidigungsministeriums noch vor zwei Wochen, es handele sich um sogenannte Werkverträge, und diese »fallen nicht unter die Regelungen nach dem sogenannten Ortskräfteverfahren«. Erst auf öffentlichen Druck hin und nachdem einer der Betroffenen angekündigt hatte, die Bundesrepublik zu verklagen, teilte das BMI mit, man werde die Fälle erneut prüfen.

Doch selbst nach diesen restriktiven Kriterien geht Steier von mindesten 40 000 Personen aus, die aufnahmeberechtigt sind, Afghanistan aber bisher nicht verlassen konnten. Zum Vergleich: Das Auswärtige Amt teilte der Jungle World mit, dass es seit dem Ende der Luftbrücke im August nur etwas mehr als 300 Personen die Ausreise per Flugzeug ermöglicht habe. Weitere 1 600 Personen habe man bei der Ausreise auf dem Landweg unterstützt. Für circa 2 100 Personen seien in den Nachbarländern Afghanistans Visa für Deutschland ausgestellt worden. Diese Zahlen schließen nicht nur Ortskräfte, sondern auch »besonders Schutzbedürftige« ein. Bei Letzteren handelt es sich um etwa 2 600 vom BMI ausgesuchte Personen wie etwa Menschenrechtlerinnen.

Um eine Aufnahmezusage zu erhalten, müssen sich Ortskräfte eigenständig »an ihren jeweiligen ehemaligen Arbeitgeber wenden, der gegenüber dem BMI eine Gefährdungsanzeige stellt«, so das Auswärtige Amt. Das Prozedere dauert häufig lange. Wird eine Aufnahmezusage erteilt, erhalten die Ortskräfte und ihre Kernfamilie Visa für die Bundesrepublik. Da die deutsche Botschaft in Kabul geschlossen wurde, werden diese Visa allerdings nicht in Afghanistan ausgestellt, sondern in Nachbarländern, derzeit vor allem in der pakistanischen Hauptstadt ­Islamabad. Die Ortskräfte müssen also zunächst aus Afghanistan ausreisen.

Das Auswärtige Amt beteuert: »Die Bundesregierung arbeitet auch nach dem Ende der militärischen Evakuierungsoperation weiterhin unablässig daran«, Ortskräften und besonders Schutzbedürftigen »eine sichere Ausreise aus Afghanistan und eine Aufnahme in Deutschland zu ermöglichen.« Faktisch sind die Ortskräfte jedoch auf sich alleine gestellt. Unterstützung durch die Bundesrepublik erhalten sie erst, wenn sie Islamabad erreichen.

Bis dahin stehen sie vor enormen Problemen. Die Sicherheitslage in ganz Afghanistan ist extrem schwierig, Menschenrechtlerinnen und ehemalige Ortskräfte sind besonders bedroht. Anfang November war die Leiche der 29jährigen Frauenrechtsaktivistin ­Frozan Safi in Mazar-i-Sharif identifiziert worden. Sie war am 20. Oktober verschwunden. Zuvor hatte sie einen Anruf erhalten, der besagte, dass sie sich mit Unterlagen, die ihre Aktivitäten belegen, zu einem safe house begeben solle. Wie der britische Guardian berichtete, ging Safi davon aus, dass ihr Asylantrag für Deutschland bearbeitet worden sei. Das Auswärtige Amt konnte eine Aufnahmeberechtigung nicht bestätigen.

Viele ehemalige Ortskräfte haben außerdem erhebliche finanzielle Schwierigkeiten. Flüge von Kabul nach Islamabad sind selten und teuer, die Preise lagen zuletzt bei 2 500 US-Dollar. Die Nachrichtenagentur Reuters hatte zudem berichtet, dass die pakistanische Airline PIA, die als einzige noch Linienflüge auf der Strecke anbot, im Oktober den Dienst einstellte. Als Grund gab die Fluggesellschaft an, die Taliban hätten sie zwingen wollen, die Preise zu senken.

Selbst wenn es einen Flug gibt, können sich die meisten Betroffenen kein Ticket leisten. Viele ehemalige Ortskräfte mussten sich seit der Machtübernahme der Taliban verstecken und können deshalb nicht arbeiten. Sie leben von Erspartem oder sind auf Unterstützung angewiesen.

Seit August haben die Nachbarländer Grenzübergänge zeitweise geschlossen, oft werden Flüchtlinge zurückgewiesen. Überdies besteht bei der Ausreise die Gefahr, als »Verräter« identifiziert zu werden. Die Einreise in ein Nachbarland ohne ein deutsches Visum ist sehr schwierig, auch weil viele Betroffene keine Reisepässe besitzen. Deren Ausstellung kostet Geld, weshalb Mission Lifeline Spenden sammelt, um Ortskräften eine Passausstellung zu ­ermöglichen. Finanzielle Unterstützung durch die Bundesrepublik gibt es nicht, das Auswärtige Amt verweist auf seiner Website lediglich auf Hilfsorganisationen vor Ort.

Die Bundesrepublik könnte den Ortskräften die Einreise erleichtern, indem sie elektronische Visa ausstellt. Dadurch könnte zumindest einem Teil der Ortskräfte eine direkte Ausreise über den Luftweg nach Deutschland ermöglicht werden. Dem Auswärtigen Amt zufolge fehlt für die Ausstellung solcher Visa aber eine Rechtsgrundlage.

Derweil wird die Situation für Ortskräfte in Afghanistan immer prekärer. Das Warten zermürbt nicht nur finan­ziell, sondern auch psychisch. »Die Angst und die Unsicherheit machen die Leute fertig«, so Axel Steier. Er betreut derzeit etwa 120 Personen und versucht, sie mit Anwälten und Geld bei der Ausreise zu stützen. »Wir bekommen viel mehr Anfragen von Menschen aus Afghanistan, als wir bearbeiten können. Die Bürokratie stellt ein Hindernis für Lebensrettung dar.« Darunter befänden sich auch Personen, die von der Bundeswehr während der Evakuierungsmission zum Flughafen Kabul beordert, dann aber nicht mitgenommen worden seien: »Die sind von den Ereignissen am Flughafen traumatisiert.«

Am Mittwoch vergangener Woche war der erste deutsche Evakuierungsflug seit August in Kabul gestartet. Derzeit soll eine »Task Force« des Bundesentwicklungsministeriums daran arbeiten, zukünftig 200 Menschen pro Woche nach Deutschland auszufliegen. Sollte es dazu wirklich kommen, würde es bei 40 000 Aufnahmeberechtigten vier Jahre dauern, alle auszufliegen. Steier bezeichnet die Bemühungen der Bundesrepublik daher als reine Inszenierung: »Man hilft in homöopathischen Dosen. Ein tatsächliches Interesse an der Rettung von Menschenleben besteht nicht.«