In den USA wird am Obersten Gerichtshof das Abtreibungsrecht verhandelt

Fundamentalisten v. Entscheidungsfreiheit

In den USA steht das Recht auf Abtreibung erneut zur Debatte. Abtreibungs­gegner sind zwar gesellschaftlich in der Minderheit, aber besonders dogmatisch.

In den kommenden Monaten wird in den USA das Urteil des Obersten Gerichtshofs im Fall »Dobbs v. Jackson Women’s Health Organization« erwartet – und die Debatte über das Recht auf Abtreibung in den USA spitzt sich merklich zu. Vor drei Jahren unterschrieb Phil Bryant, der damalige Gouverneur des US-Bundesstaats Mississippi, den Gesetzentwurf »House Bill 1 510« (HB 1 510), besser bekannt als »Gestational Age Act« (Gestationsaltergesetz), mit dem Ziel, »Abtreibungen in Mississippi zu beenden«, so Bryant. In der Tat ist HB 1 510 eines der restriktivsten Abtreibungsgesetze der USA. Es verbietet fast alle Abtreibungen nach der 15. Schwangerschaftswoche, mit begrenzten Ausnahmen für fötale Anomalien und medizinische Notfälle. Nicht vorgesehen sind Ausnahmen in Fällen von Inzest oder Vergewaltigung. Wer dennoch eine Schwangerschaft abbricht, sei es als Patientin oder als medizinische Hilfskraft, kann mit bis zu zehn Jahren Haft bestraft werden. Wegen einer Klage der Jackson Women’s Health Organization, der einzigen Abtreibungsklinik in Mississippi, trat das Gesetz jedoch bislang noch nicht in Kraft; nun soll der Oberste Gerichtshof darüber entscheiden.

Gesetzesvorhaben zu Dingen wie Elternzeit, Kindergeld oder kostengünstigen Kita-Angeboten haben die Republikaner im Kongress immer wieder blockiert.

Bereits zwei US-Bezirksgerichte haben HB 1 510 für verfassungswidrig erklärt; sie bezogen sich auf den bekannten Präzedenzfall »Roe v. Wade« aus dem ­Jahre 1973, der ein Recht auf Schwangerschaftsabbrüche bis zur Lebens­fähigkeit des Fötus anerkennt, die bei etwa 24 Wochen liegt. Das neue Abtreibungsgesetz von Mississippi liegt mit 15 Wochen deutlich unter dieser Grenze und stellt somit einen klaren Verstoß gegen »Roe v. Wade« dar. Eine öffentliche Anhörung am 1. Dezember lief jedoch für die pro choice-Seite, die das Recht der Schwangeren auf eine freie Entscheidung verteidigt, nicht gut. Julie Rikelman, die Anwältin der Jackson Women’s Health Clinic, sah sich von Seiten des konservativen Flügels des Obersten Gerichtshofs mit feindseligen Fragen konfrontiert.

Was das für die Urteilsfindung letztlich bedeutet, lässt sich nicht abschätzen, aber viele Aktivistinnen in den USA sind nervös. Denn sollten mindestens fünf der neun Bundesrichterinnen und -richter des Obersten Gerichtshofs das Gesetz aus Mississippi bestätigen, so würde dies bedeuten, dass »Roe v. Wade« nicht mehr als Präzedenzfall gilt und landesweit Folgen nach sich ziehen. Etwa ein Dutzend Bundesstaaten haben bereits sogenannte Trigger-Gesetze verabschiedet, die automatisch in Kraft treten würden, sollte der Oberste Gerichtshof »Roe v. Wade« kippen.

Für Frauen in Bundesstaaten wie Kalifornien, New York, Oregon oder Washington, die von Demokraten regiert werden, würde sich nichts ändern; das Recht auf Abtreibung ist in den jeweiligen Verfassungen festgeschrieben. Für diejenigen aber, die in republikanisch regierten Bundesstaaten leben, würden in Zukunft Abtreibungen noch viel schwieriger werden. In Texas ist mit der sogenannten heartbeat bill sogar schon seit dem 1. September ein Gesetz in Kraft, das eine Abtreibung nur noch bis zur sechsten Schwangerschaftswoche zulässt. Das Besondere an diesem Gesetz ist neben seiner extrem kurzen Frist, dass Privatpersonen jeden Menschen, der eine illegale Abtreibung ausführt oder ermöglicht, auf mindestens 10 000 US-Dollar gesetzlich festgelegten Schadensersatz verklagen können. Zwar wird das Gesetz in mehreren Klagen angefochten, es bleibt jedoch nach einem im Oktober gefällten Urteil des Berufungsgerichts für den fünften Bundesgerichtskreis, der Louisiana, Mississippi und Texas umfasst, bis zur weiteren Überprüfung im Berufungsverfahren in Kraft. Am 9. Dezember urteilte der texanische Richter David Peeples, das Gesetz verstoße gegen die texanische Verfassung und solle nicht vor Gericht durchgesetzt werden. Betroffen von seiner Anordnung sind jedoch nur die 14 Klagen in einem Fall, dem Peeples selbst vorgesessen hat. In seinem Urteil gehe es nicht um das Recht auf Abtreibung, betonte er, sondern es betreffe die Art, wie das Gesetz durchgesetzt werde, nämlich per Zivilverfahren. Sollte das Gesetz als verfassungskonform angesehen werden, befürchte er, dass »Jahr für Jahr neue und kreative Reihen von Gesetzen auftauchen könnten, die von eifrigen ideologischen Klägern durchgesetzt werden könnten, die in ihren Heimatbezirken Klage erheben, wo die Richter ihre verfassungsmäßige Pflicht erfüllen und das Gesetz durchsetzen würden«, so Peeples.

Rikelman argumentierte bei der Anhörung am 1. Dezember, der derzeitige Rechtsstandard, der sich an der Lebensfähigkeit des Fötus mit etwa 24 Wochen orientiert, sei »objektiv nachprüfbar und erfordert nicht, dass der Gerichtshof die philosophischen Fragen klärt, um die es hier geht«, so die Juristin.

In den republikanisch regierten red states der USA wird der Widerstand gegen »Roe v. Wade« oft mit Verweisen auf die Bibel untermauert und Schwangerschaftsabbruch mit Mord gleichgesetzt – so erklärt sich der erbitterte Widerstand der Konservativen gegen Abtreibung. Dass diese Position jedoch auf einer äußerst fragwürdigen Interpretation der Bibel beruht, legt die Rabbinerin Danya Ruttenberg schlüssig dar: Im Buch Exodus ist Abtreibung ausdrücklich nicht als Mord eingestuft, ein Fötus hat zumindest in der talmudischen Tradition keine oder nur begrenzte Persönlichkeitsrechte. »Sie benutzen meinen heiligen Text, um zu rechtfer­tigen, dass sie mir meine Rechte wegnehmen«, so Ruttenberg in einem Interview mit der Zeitung USA Today.

Das Thema Abtreibung gilt in den USA als umstritten, aber das entspricht nicht ganz der Wahrheit. Einer Umfrage des renommierten Meinungsforschungsinstituts Pew Research Institute zufolge vertreten nur 13 Prozent der Befragten die Meinung, dass Abtreibung in allen Fällen verboten gehöre. 59 Prozent finden, dass Abtreibung »in den meisten Fällen« legal bleiben sollte – eine klare Mehrheit. Doch vertritt eine lautstarke Minderheit der Gesellschaft auf Basis einer religiösen Fehlanalyse eine dogmatische Meinung, und das könnte gravierende Auswirkungen haben. Der Fall, der derzeit vor dem Obersten Gerichtshof der USA verhandelt wird, berühre »die Autonomie, die Freiheit und die Menschenwürde von Frauen, die die grundlegendsten Entscheidungen ihres Lebensweges selbst treffen wollen« – so formulierte es die Bundesrichterin Elena Kagan bei der Anhörung am 1. Dezember.

Sollte der Oberste Gerichtshof »Roe v. Wade« tatsächlich kippen, würde das für die USA einen zivilisatorischen Rückschritt darstellen, während in immer mehr anderen Ländern – darunter auch in stark religiös geprägten wie Irland oder Mexiko – das Recht auf Abtreibung anerkannt wird. Frauenrechtlerinnen in den USA sehen unter anderem die Gefahr, dass es dann zu mehr medizinischen Notfällen bei illegalen Schwangerschaftsabbrüchen kommen würde. Bundesrichterin Sonia Sotomayor erinnerte zudem daran, dass Schwangerschaft und Geburt selbst nicht ungefährlich sind, vor allem für arme Frauen, »und das sind 75 Prozent aller Frauen, die abtreiben lassen«. Das mit der Vollendung einer Schwangerschaft bis zur Geburt verbundene Risiko, an medizinischen Komplikationen zu versterben, sei 14mal höher als bei einer medizinisch korrekt durchgeführten Abtreibung.

Besonders bemerkenswert ist das Bestehen der Republikaner auf dem Austragen unerwünschter Schwangerschaften, da die Gesetzgeber in den republikanisch regierten Bundesstaaten der USA nicht nur gegen Abtreibung sind, sondern auch vehement gegen eine familienfreundlichere Politik. Gesetzesvorhaben zu Dingen wie Elternzeit, Kindergeld oder kostengünstigen Kita-Angeboten haben die Republikaner im Kongress immer wieder blockiert. Statt um eine Politik, die es Schwangeren leichter macht, sich für ein Kind zu entscheiden, scheint es den wenig bibelfesten US-amerikanischen Konservativen vor allem um eines zu gehen: die strafrechtliche Verfolgung derjenigen, die sich entscheiden, eine Schwangerschaft abzubrechen.