Die politische Krise in Tunesien

Das verflixte zwölfte Jahr

Kommentar Von Bernd Beier

Elf Jahre nach dem Beginn des sogenannten Arabischen Frühlings hat der tunesische Präsident Kaïs Saïed einen politischen Fahrplan zur »Korrektur« der Revolution vorgelegt.

Einmal ist kein Mal. Getreu diesem Sprichwort fanden in Tunesien am Freitag voriger Woche das zweite Mal in diesem Jahr staatlich induzierte Revolutionsfeierlichkeiten statt. Das hatte Präsident Kaïs Saïed Anfang Dezember per Dekret festgelegt.

Nicht mehr der 14. Januar 2011, der Tag, an dem die autoritäre Herrschaft des Präsidenten Zine al-Abidine Ben Ali endete, soll nunmehr gefeiert werden, sondern der Auslöser der gesellschaftlichen Dynamik, die zu seinem Sturz führte: Am 17. Dezember 2010 hatte sich der Straßenhändler Mohammed Bouazizi in Sidi Bouzid, einer Kleinstadt im vernachlässigten Süden des Landes, mit einer brennbaren Flüssigkeit übergossen und in Brand gesetzt. Die davon ausgelösten Unruhen breiteten sich übers ganze Land bis in die Hauptstadt aus, die Polizei erschoss immer mehr Protestierende, aus lokalen Streiks wurden lokale Generalstreiks wie am 12. Januar 2011 in Sfax. Zwei Tage später flog Ben Ali nach Saudi-Arabien, um nicht mehr zurückzukehren.

Aber die aufständische Dynamik und insbesondere daran mehr oder weniger beteiligte Organisationen wie liberale und linke Parteien sowie der mächtige Gewerkschaftsbund UGTT sind Kaïs Saïed suspekt. »Das Volk hat sich am 17. Dezember aufgelehnt, das ist das Datum der wirklichen Feier der Revolution. Der 14. Januar ist das Datum des Fortbestehens des verborgenen (occulte) Systems«, dekretierte er.

Doch zum Feiern war am 17. Dezember kaum jemandem zumute. Einige Dutzend Anhänger des Präsidenten sammelten sich im Zentrum von Tunis und skandierten unter anderem: »Das Volk will die Korrumpierten verurteilen«; etwas mehr als 1 000 Leute, vor allem Anhänger der islamistischen Parteien al-Nahda und al-Karama, demonstrierten als »Bürger gegen den Staatsstreich«, etwa 200 folgten dem Aufruf dreier Parteien im Rahmen einer sozialdemokratischen Front zur Verteidigung der Demokratie gegen den Kurs Saïeds.

Gut eine Woche zuvor hatte der Präsident munter erklärt: »Die Verfassung von 2014 ist nicht mehr gültig.« Auf die hatte er zwar seinen Amtseid abgelegt, aber schließlich geht es ja um eine, wie er es nennt, »Korrektur« der Revolution. Zu diesem Zweck legte er einen politischen Plan vor, der letztlich zu einer neuen Verfassung, aller Voraussicht nach mit einem ihm auf den Leib geschneiderten Präsidialsystem, und einer Neuwahl des Parlaments führen soll: Ab dem 1. Januar sollen internetbasierte und direkte Konsultationen der Bevölkerung beginnen, die am 22. März, dem Tag der Unabhängigkeit, beendet und von einer von ihm bestückten Kommission ausgewertet werden sollen. Am 25. Juli, dem Datum, an dem er in diesem Jahr die Regierung und das Parlament entmachtet hat, soll ein Referendum über die neue Verfassung stattfinden. Am 17. Dezember, seinem Datum der Revolutionsfeierlichkeiten, sollen Parlamentswahlen abgehalten werden, sozusagen als krönender Abschluss seiner »Korrektur« der Revolution.

Letztlich hat Kaïs Saïed vor, ein weiteres Jahr per Dekret zu herrschen, ohne irgendeine institutionelle Kontrolle. Seine größte Stärke ist die Schwäche seiner politischen Gegner. Eine gemeinsame Front aus Islamisten, Linken, Liberalen und Ben-Ali-Nostalgikern gegen den autoritären Kurs des Präsidenten ist wenig wahrscheinlich. Doch Ungemach droht dem Präsidenten vor allem wegen der überaus prekären wirtschaftlichen und sozialen Lage. Die Staatskassen sind leer, es steht bereits in Frage, wie lange die Löhne und Gehälter der Staatsangestellten noch bezahlt werden können. Die Arbeitslosigkeit, die 2010 bereits ein wichtiges Motiv der aufständischen Bewegung war und damals bei offiziell 13 Prozent lag, beträgt mittlerweile offiziell 18 Prozent. 40 Prozent der tunesischen Jugendlichen spielen Umfragen zufolge mit dem Gedanken, das Land zu verlassen. Die UGTT kritisiert Saïeds wirtschaftliche und sozialpolitische Untätigkeit immer offener und droht mit Streiks.

Seit Juli regiert Präsident Saïed per Dekret, die wirtschaftliche und soziale Lage hat sich seither weiter verschlechtert. Wie lange seine Polemik gegen Parteien, Korrumpierte, Spekulanten und Verräter aller Art die Bevölkerung, deren Kaufkraft schwindet, noch bei Laune halten kann, ist unklar. Und Januar und Februar sind in Tunesien traditionell die Monate sozialer Proteste.