Die Russland-Politik könnte zu Streit in der neuen Bundesregierung führen

Russland erhöht den Druck

Russland baut eine militärische Drohkulisse auf, um Verhandlungen mit den USA über die Nato in Osteuropa zu erzwingen. Das setzt auch die deutsche Regierung unter Druck und könnte zu Konflikten zwischen den Koalitionspartnern führen.

»Wir brauchen eine neue Ostpolitik«, hatte Olaf Scholz (SPD) im Wahlkampf versprochen. Auch nach seiner Wahl zum Bundeskanzler bemühte er bei seiner ersten Regierungserklärung am 15. Dezember im Bundestag dieses Schlagwort und versprach, sich um einen »konstruktiven Dialog« mit Russland zu bemühen. Gleichzeitig richtete er eine Warnung an das Land: »Jede Verletzung territorialer Integrität wird einen hohen Preis haben.«

Russland hat fast keine politischen Mittel, um Einfluss auf die Ukraine oder die Nato zu nehmen, kann jedoch seine militärische Überlegenheit über die Ukraine als Druckmittel einsetzen.

Scholz reagierte auf die seit Wochen vorgebrachten Warnungen, Russland bereite einen größeren militärischen Angriff auf die Ukraine vor. Als Reaktion auf russische Truppenverlegungen an die ukrainische Grenze sprach US-Präsident Joe Biden am 7. Dezember mit seinem russischen Amtskollegen Wladimir Putin. Biden willigte ein, gemeinsam mit wichtigen Nato-Verbündeten Verhandlungen mit Russland zu führen, »mit dem Ziel, die Temperatur an der östlichen Front zu senken«, so Biden.

Am Freitag voriger Woche veröffentlichte die russische Regierung die For­derungen, die sie an die USA gestellt hatte: Alle Nato-Truppen sollen aus Ländern, die nach 1997 Mitglied der Allianz wurden, abgezogen werden, also aus Polen und den Ländern des Baltikums, wo seit 2016 jeweils etwa 1 000 Nato-Soldaten stationiert sind. Jegliche weitere Osterweiterung der Nato soll ausgeschlossen werden, wobei die Ukraine als einziger Staat namentlich genannt wird. Außerdem sollen keine Nato-Truppenübungen in der Ukraine oder anderen osteuropäischen oder Kaukasus-Ländern abgehalten werden.

Die Reaktionen in vielen Nato-Ländern fiel ablehnend aus: Die Forderungen liefen darauf hinaus, Russland unter dem Eindruck einer Kriegsdrohung eine permanente Einflusssphäre in Osteuropa zuzugestehen. Dass die russischen Forderungen in dieser Bestimmtheit veröffentlicht wurden, deuten einige als Zeichen, dass Russland selbst kaum mit einer Einigung rechne. »Wenn das der Fall ist, können wir erwarten, dass Moskau Schritte unternimmt, um seine Entschlossenheit zu zeigen, den Status quo unilateral zu verändern«, schrieb der russische Politikwissenschaftler Fjodor Lukanow in der Moscow Times.

Russland dringt derweil auf schnelle Verhandlungen mit den USA. Am Montag sagte der stellvertretende Außenminister Andrej Rudenko in Moskau, Russland müsse handeln, weil »einige unserer Nachbarn, nicht nur die Ukraine, eine Art Siedepunkt erreicht haben, was uns wirklich dazu zwingt, radikale Schritte zu unternehmen«. Russland wolle signalisieren, dass es in »anderen Szenarien gewisse Schritte unternehmen kann, über die wir jetzt nicht sprechen und nur in allgemeinen Worten, die wir militärische Schritte und militärisch-technische Lösungen nennen«. Am Dienstag sagte der russische Verteidigungsminister Sergej Schoigu, US-amerikanische Söldner bereiteten in der Ostukraine eine »Provokation mit un­bekannten chemischen Mitteln« vor. Insgesamt seien dort 120 solcher Söldner aus den USA. Eine solche Behauptung könnte als Vorwand für eine russische Invasion zur angeblichen Verteidigung der separatistischen sogenannten Volksrepubliken in Donezk und Lu­hansk dienen und ist offenbar als erneute Warnung an die USA gedacht, die Kriegsdrohung ernst zu nehmen. Am Dienstag drohte Wladimir Putin bei einer Sitzung des Verteidigungsministeriums in Moskau mit einer »militärisch-technischen« Antwort, sollte der Westen seine »aggressive Linie« weiterverfolgen.

Die derzeitige Situation ist das Ergebnis einer langen Abwärtsspirale. Auch im Verhältnis zu Deutschland versucht Russland immer weniger, den Anschein freundschaftlicher Beziehungen zu wahren. Am 15. Dezember, dem Tag, an dem Olaf Scholz im Bundestag von einer »neuen Ostpolitik« sprach, verurteilte ein Berliner Gericht den Russen Wadim S. zu lebenslanger Haft, weil er 2019 den asylsuchenden Georgier Selimchan Changoschwili erschossen hatte – mitten in Berlin, am helllichten Tage. Das Gericht sieht es als erwiesen an, dass es sich um einen Mordanschlag des russischen Geheimdiensts handelte. »Das war Staatsterrorismus«, sagte der Vorsitzende Richter. Changoschwili hatte im Zweiten Tschetschenien-Krieg und im Georgien-Krieg 2008 gegen Russland gekämpft.

Außenministerin Annalena Baerbock (Grüne) sprach von einer »schwerwiegenden Verletzung der Souveränität« Deutschlands; die Bundesregierung ­erklärte zwei Mitarbeiter der russischen Botschaft zu »unerwünschten Personen«. Der russische Botschafter Sergej Netschajew nannte das Urteil »politisch motiviert«. »Offenbar«, raunte er, habe »jemand ein Interesse daran, dass der Dialog zwischen Russland und der neuen Bundesregierung von Beginn an dadurch überschattet wird.« Die russische Regierung wies am Montag im Gegenzug zum Vorgehen der Bundesre­gierung zwei deutsche Diplomaten aus.

Unterdessen wird im westlichen Lager darüber diskutiert, wie auf die rus­sischen Forderungen zu reagieren sei. Nachdem Biden sich zunächst offen für Gespräche zeigte, folgten eine Reihe von Erklärungen, die signalisieren sollten, dass keine schnellen Zugeständnisse zu erwarten seien. Am 16. Dezember sagte der Nato-Generalsekretär Jens Stoltenberg bei einer gemeinsamen Pressekonferenz mit dem ukrainischen Präsidenten Wolodymyr Selenskyj, es könne »keinen Kompromiss« beim Recht der Nato geben, zu entscheiden, die Ukraine als Mitglied aufzunehmen. Dasselbe gelte für die Kooperation der Nato mit »dem engen Partner Ukraine«.

Die Ukraine ist Nato-Beitrittskandidat und seit Juni 2020 »Enhanced Oppor­tunity Partner« der Nato, sie nimmt an einzelnen Nato-Manövern teil und erhält Unterstützung bei der Reform ihrer Streitkräfte. Obwohl ein Nato-Beitritt auch in näherer Zukunft unmöglich scheint und nicht einmal der aufwendige Aufnahmeprozess, ein sogenannter »membership action plan«, offiziell begonnen wurde, dringt die ukrainische Regierung seit über einem Jahr immer vehementer auf konkrete Zusagen der Nato, besonders seit die Friedensverhandlungen vor einem Jahr ins Stocken geraten waren.

Das Motiv der ukrainischen Regierung ist klar: Derzeit würde im Falle eines russischen Angriffs kein Nato-Land militärisch eingreifen. Besonders die USA und Großbritannien unterstützen zwar mit Trainingseinheiten das ukrainische Militär, und Großbritannien unterzeichnete im November einen Vertrag über den Verkauf von Kriegsschiffen, aber beide Regierungen stellten in den vergangenen Wochen explizit klar, dass sie keine Truppen zum Kämpfen in die Ukraine entsenden würden. Russland hat fast keine politischen Mittel, um Einfluss auf die Ukra­ine oder die Nato zu nehmen, kann jedoch seine militärische Überlegenheit über die Ukraine als Druckmittel einsetzen. Um dieses Druckmittel zu kontern, drohte Biden schon Anfang Dezember für den Fall eines russischen Angriffs mit »Sanktionen, wie es sie noch niemals gegeben hat«.

Um dafür Unterstützung zu gewinnen, gingen die USA Medienberichten zufolge auf ihre Verbündeten zu und teilten Erkenntnisse ihrer Geheimdienste über die russischen Pläne. Hier zeigte sich jedoch ein Dissens: Während einige osteuropäische Staaten wie die Ukraine wollen, dass präventiv bekanntgegeben wird, welche Sanktionen gegen Russland verhängt werden würden, wollen Deutschland, Frankreich, Italien und Spanien zunächst mit Russland verhandeln. Zuletzt sprach beispielsweise der italienische Ministerpräsident Mario Draghi am 15. Dezember davon, Russland bereite sich nicht auf »eine Aktion« vor, sondern wolle Verhandlungen.

Die Frage, ob Russland mit Sanktionsdrohungen abgeschreckt oder mit Verhandlungsbereitschaft besänftigt werden sollte, betrifft vor allem Deutschland. Denn verschiedene EU-Länder fordern ebenso wie manche Mitglieder des US-Kongresses, Russland bereits jetzt mit Sanktionen gegen die Gas­pipeline Nord Stream 2 zu drohen. Scholz hingegen ließ am Montag einen Regierungssprecher erklären, der Umgang mit der Pipeline habe »keine politische Dimension«. Es sei ein reiner Verwaltungsvorgang, die Einhaltung der Gasnetzrichtlinie zu prüfen und im Laufe des Jahres die Bewilligung zur Inbetriebnahme zu erteilen.

Dem widersprechen Politiker der Grünen: »Gerade jetzt Nord Stream 2 als reines Energieprojekt zu vernied­lichen, ist falsch in der Sache und irritiert unsere engsten Partner«, sagte der Außenpolitiker Omid Nouripour, der für den Parteivorsitz der Grünen kandidiert, der Süddeutschen Zeitung. Die Grünen hätten die Pipeline gerne gestoppt, hatten jedoch als Bedingung zur Teilnahme an der Regierung ihre Inbetriebnahme akzeptiert. Außenministerin Baerbock wies jedoch am 13. Dezember darauf hin, es sei mit den USA ausgehandelt worden, dass »bei weiteren Eskalationen diese Pipeline so nicht weiter ans Netz gehen könnte«.

Ein anderer Streitpunkt betrifft die Lieferung von Waffen an die Ukraine. Unter Präsident Donald Trump hatten die USA begonnen, neben finanzieller Militärhilfe unter anderem Panzerabwehrwaffen zu liefern. Deutschland ebenso wie andere EU-Staaten lehnen Waffenlieferungen an die Ukraine strikt ab. Am 14. Dezember beschuldigte der ukrainische Präsident Selenskyj Deutschland, es habe sein Vetorecht in der Nato genutzt, um Waffenverkäufe an die Ukraine zu blockieren.