Der Blick russischer Analysten auf die Unruhen in Kasachstan

Aufstand südlich der Grenze

Kommentar Von Ewgeniy Kasakow

Regierung und Opposition in Russland ziehen unterschiedliche Schlüsse aus den Ereignissen in Kasachstan.

In Russland wurde die Herrschaft des langjährigen Präsidenten Kasachstans, Nursultan Nasarbajew, lange positiv gesehen. Kasachstan ist ein wichtiges Mitglied der Eurasischen Wirtschaftsunion, die fünf ehemalige Sowjetrepubliken umfasst. Nasarbajew hat zwar nach der Unabhängigkeit Kasachstans alle wichtigen Staatsposten mit ethnischen Kasachen besetzt, die 1991 lediglich 40 Prozent der Bevölkerung bildeten, verzichtete jedoch auf antirussische Rhetorik und ging pragmatisch mit der russischen Sprache um, was ihn von seinen Amtskollegen in Turkmenistan und Tadschikistan unterschied. Auch wenn der Prozess des kasachischen nation building mit einer Massenabwanderung vor allem von Minderheiten einherging (darunter circa 600 000 Menschen, die nach Deutschland auswanderten), betonte Nasarbajew die Multiethnizität Kasachstans.

Russische Liberale hoben vor allem die Effizienz der kasachischen Wirtschaft und die Offenheit der Märkte positiv hervor. Angesichts des grotesken Personenkults um den Präsidenten Gurbanguly Berdimuhamedow in Turkmenistan, blutiger Repression und islamistischer Umtriebe in Tadschikistan, Unruhen in Kirgi­sien und der insgesamt bitteren Armut in der zentralasiatischen Region, erschien Kasachstan mit seinem auf Rohstoffexporten ­basierenden relativ hohen Lebensstandard als die bessere Variante der sogenannten »autoritären Modernisierung«.

Nach dem Rücktritt Nasarbajews vom Amt des Präsidenten im März 2019 spekulierte die russische Opposition, Wladimir Putin könne sich daran ein Vorbild nehmen. Die Politologin Jekaterina Schulman formulierte die These von den drei möglichen Szena­rien für das vor dem Problem des Generationswechsels stehende russische Regime: das chinesische, das belarussische und das ­kasachische. In China hatte der Nationale Volkskongress 2018 die Amtszeitbegrenzung für den Präsidenten einfach aufgehoben. Als belarussisches Szenario gälte hier eine Vereinigung Russlands mit Belarus und Gründung eines neuen Staatsgebildes mit Putin an der Spitze. Als die sanfteste Variante betrachtete Schulman das kasachische Szenario, bei dem die Macht des Autokraten etappenweise zwischen verschiedenen Gremien aufgeteilt wird. Der frühere Machthaber würde dabei an der Spitze eines der Gremien, wie des Sicherheitsrats in Kasachstan (im Fall Nasarbajews) oder des Staatsrats in Russland, stehen. Die Verfassungsänderungen in Russland 2020, welche Putin zwei weitere Amtszeiten ermöglicht, schien wie die chinesische Variante mit kasachischen Elementen.

Doch die Eskalation der Unruhen in den vergangenen Tagen entzog derlei Überlegungen den Boden. Der »sanfte Transfer« mündete in einer sozialer Revolte, das Charisma des »Vaters der Nation« Nasarbajew wirkte nicht mehr stabilisierend. Viele Pro­testierenden scheinen weniger nach Menschenrechten und fairem politischem Wettbewerb zu verlangen als nach materiellen Gütern, und es kam zu Plünderungen. So eine Entwicklung wirkt nicht nur auf die russische Regierung, sondern auch auf viele ihrer liberalen Kritiker abschreckend.

Für die oppositionellen Linken kam die Entwicklung in Kasachstan indes weniger überraschend. Denn sie wissen, dass Kasachstan nicht nur das einzige Land mit einer starken organisierten Arbeiterbewegung in der zentralasiatischen Region ist, sondern auch, dass das vielgelobte Investitionsklima in der Republik auch mit harter Repression gegen Arbeitskämpfe gewährleistet wird. Kein anderes Regime im postsowjetischen Raum hat bisher Schusswaffeneinsatz gegen Streikende befohlen, wie es das kasachische im Jahr 2011 tat. Gewerkschaftliche Organisationsarbeit ist in Kasachstan lebensgefährlich, Gewerkschafter und ihre Familienangehörigen müssen mit Entführungen, Vergewaltigungen, Haftstrafen und Tötung rechnen.

In den Verlautbarungen Putins und und seines kasachischen Amtskollegen Qassym-Schomart Toqajew wird unterschieden zwischen den legitimen Forderungen »friedlicher Demonstranten« und gewaltsamen Aktivitäten von »Terroristen«, die vom Ausland gesteuert würden. Darin erblickt Putin einstmals in der Ukraine ­erprobte »Maidan-Technologien«. Die Ereignisse in Kasachstan bestätigen so das Weltbild der russischen Führung: Liberalisierungen führen nur zum Chaos, Proteste gehen auf feindliche Einmischung zurück.