Ein Plädoyer für mehr Wissenschaftskritik in der Diskussion über Wissenschaftsfreiheit

Raus aus dem Elfenbeinturm

In der Debatte über Wissenschaftsfreiheit mangelt es an Wissenschafts­kritik.

Hartnäckig hält sich im Wissenschaftsbetrieb das Versprechen der Wissenschaftsfreiheit. Es stellt von logisch begründetem, vernünftigem Denken bestimmte Debatten in Aussicht, in denen nicht subjektive Erfahrung, Emotionen oder familiärer Hintergrund den Ausschlag geben – oder äußere Faktoren wie staatliche oder ökonomische Interessen.

Kirsten Achtelik moniert mit Recht, dass in der Debatte über Wissenschaftsfreiheit nicht sauber definiert werde, was unter Begriffen wie Freiheit zu verstehen sei. Man müsste ergänzen, dass diese Begriffe ohne kritische Reflexion verwendet werden. Während Vojin Saša Vukadinović sich undialektisch auf »aufklärerische Prinzipien« beruft, bezieht Enno Stahl sich, entgegen seinem eigenen Anspruch, weitgehend geschichtslos auf die Gepflogenheiten der Diskussion unter Scholastikern wie sie Abaelard formuliert hatte.

Die Geschichte der modernen Wissenschaften ist voller Wider­sprüche, Abspaltungen und Ausschließungen – als habe es
schon von Anfang an eine »cancel culture« in ihr gegeben.

Eine kritische Auseinandersetzung mit der Entstehungsgeschichte der modernen Wissenschaft im 19. Jahrhundert hingegen verdeutlicht, inwiefern die Wissenschaft und ihre Institutionen auf – teils zutiefst gewaltvollen – Ausschlüssen und Festschreibungen fußen. Felix Schilks soziologische Ana­lyse der Debatte über Wissenschaftsfreiheit zeigt die Überreste dieser Entstehungsgeschichte auf und lässt erahnen, welche ökonomischen Interessen in der Debatte über Wissenschaftsfreiheit eine Rolle spielen.

Wagen wir also den Blick zurück in die Vergangenheit. Dabei geht es keineswegs darum, »Traditionen die heutige Perspektive als Bewertungsmaßstab überzustülpen« – eine Vorgehensweise, die Stahl mit Recht kritisiert –, sondern sich der Frage zu stellen, was die Entstehungsbedingungen moderner wissenschaftlicher Paradigmen waren und inwiefern diese noch immer fortwirken.

Die moderne Forschungsuniversität, wie man sie heutzutage mit unterschiedlichen lokalen Ausprägungen weltweit vorfindet, war einer der großen europäischen Exportschlager des frühen 19. Jahrhunderts. Zwar gab es auch zuvor in allen Kulturen Einrichtungen für die Weitergabe von Wissen, doch zeichnete sich die europäische Universität des Mittelalters, die Vorläuferin der modernen Universität, vor ­allem durch ihren Status als Raum eigenen Rechts aus. Darauf fußt der Gedanke der Wissenschaftsfreiheit.

Ausgehend von dieser Idee veränderte die europäische Universität sich im 19. Jahrhundert grundlegend: In enger Verbindung mit der Herausbildung der Nationalstaaten wandelten die Universitäten sich zu Orten der Produktion säkularen Wissens und machten die Wissenschaft zum Austragungsort nationaler Wettbewerbe. Vor allem die Weltausstellungen verdeutlichen die enge Verbindung von Wissenschaft, Technik, Industrie sowie nationaler Produktiv- und Strahlkraft. Die Universität ist als liberaler Ort der Wissensproduktion noch immer von großer Relevanz für den ökonomischen Erfolg der Nationalstaaten.

Der rasante Aufstieg der Universitäten verdankte sich auch der sich im 19. Jahrhundert beschleunigenden imperialen Eroberung und ­Kolonisierung weiter Teile der Welt. Mit ihr reisten ­immer mehr Menschen aus Europa in die übrige Welt und sammelten Wissen und Objekte – oft mit großer Hilfe der örtlichen Bevölkerung –, die sie zurück in die Sammlungen der europäischen Universitäten, Akademien und Museen brachten. So entstanden die moderne Fächerauf­teilung der Universitäten, der Beruf des Forschers und eine neue, kanonisierte Wissensordnung. In scheinbar harmlosen, weil vermeintlich neutralen Klassifikationen wurde festgehalten, welches Wissen von nun an objektiven Status verdient hatte. Aber selbstverständlich spielten ethnische Zugehörigkeit, Geschlecht, Klasse, Bildung und Religion bei der Begrenzung dieses Wissens eine wichtige Rolle.

Bezeichnungen wie »Klassifizierung« und »Kategorisierung« klingen harmlos, doch die Forschungsprozesse, die damit einhergingen, und ihre Folgen waren alles andere als das. ­Insbesondere auf Körper und Geschlecht bezogenes Wissen war geprägt von Gewalt, Unterdrückung und Entmenschlichung. Nicht nur anhand tierischer, auch anhand menschlicher Körper wurde mit sezierendem Blick die Ordnung der Geschlechter und der sogenannten Rassen geschrieben. Minimale Unterschiede wurden unter dem Mikroskop zu einschneidenden Differenzen, irgendwo fand sich immer etwas, was den Platz in der gesellschaftlichen Ordnung recht­fertigen sollte: Weicher als weich und sowieso viel zu leicht sei das »schwache« Binde- und Hirngewebe des Weibes und damit – kein Wunder – sei es nicht zum Denken gemacht. Immer mehr galt der Mensch als durch seine »Natur« vor­bestimmt – eine Natur, die jedoch viel widersprüchlicher ist, als es die Forschung zu bestimmen vermag.

Dieses Beispiel ist nicht nur das vereinzelte Zeugnis eines Zeitgeists. Es ­beschreibt auch die Verfestigung der modernen Geschlechter- und Körperordnung, ja ihre Erfindung, als Teil des Entstehungsprozesses der modernen Wissenschaft. Deren Sichtweisen, Instrumente und Forschungsmethoden geben Erkenntnis und Denken ihre Form – Denk- und Erkenntnisformen, die heutzutage vollkommen natürlich erscheinen. Im Rahmen dieser Ordnung, in der alles mit Weiblichkeit oder Fremdheit Verbundene abgespalten und gewaltvoll abgewertet oder als »Anderes« exotisiert wurde, entstanden wesentliche Grundlagen dessen, was seither als wissenschaftliche Forschung und gesellschaftlich-technologischer Fortschritt gilt. Auch wenn sich seither die Forschungsmethoden weiterent­wickelt haben, bleibt diese Ordnung strukturell wirkmächtig.

Nicht nur die Objekte des Wissens wurden geschichtlich produziert, vielmehr bildete sich auch ein zum Gegenstand passendes Subjekt heraus. In der Wissenschaft wird dieses vorwiegend durch die epistemische Tugend der Objektivität geformt. Objektiv ist derje­nige, dessen Wissen keine Spur seiner Subjektivität mehr trägt. Kein Vorurteil, keine körperlichen oder geistigen Voraussetzungen, keine Sehnsüchte, Phantasien oder Ambitionen sollen sein Wissen formen. Das Wissen trennt sich vom Wissenden ab, wird objektives Wissen.

Dabei ist Subjektivität doch die Bedingung für Wissen: Nur ein Subjekt kann erkennen, und dieses ist sowohl durch seinen sozialen Hintergrund als auch gesellschaftliche Verhältnisse geprägt. Doch dieses Ich soll und darf in der Wissenschaft keine Rolle spielen. Um dem Paradigma der Objektivität zu ­genügen, wendet das Subjekt sich folglich gegen sich selbst. Was sich am ­Subjekt diesem strengen Paradigma nicht zu unterwerfen vermag, wird ­abgespalten und verdrängt.

Paradoxe Subjekte, paradoxe Institutionen: Die Geschichte der modernen Wissenschaften liest sich – all ihrer Errungenschaften zum Trotz – als Geschichte voller Widersprüche, Abspaltungen und Ausschließungen – als habe es schon von Anfang an eine cancel culture in ihr gegeben. Feministische und postkoloniale Autorinnen und Autoren kritisieren das Paradigma der Objektivität seit Jahrzehnten und suchen nach neuen Formen der Wissenschaft sowie des Wissens. Identitätspolitisch motivierte Wissenschaftskritik kann man als eine Form der Kritik verstehen, die auf das Ausblenden und Abspalten der Subjektivität im Forschungsprozess hinweist.

Damit liegt diese Kritik im Grunde richtig. Allerdings verstrickt sie sich immer wieder in moralische Kategorien. Zudem nimmt sie an, dass das Ich und seine Erfahrungen in einer Identität festgeschrieben wären und dass Subjekt und Objekt des Wissen in eins fielen. Das verhindert eine selbstreflexive Kritik, die doch so notwendig wäre.

Doch sich bruchlos auf mittelalterliche Debattiervorstellungen (Stahl) oder die Aufklärung (Vukadinović) zu beziehen und damit hinter die Erkenntnisse der kritischen Theorie und der feministischen Wissenschaftskritik zurückzufallen, ist konservativ und reaktionär. Nicht mehr Gelassenheit oder zynische Polemik ist an der Zeit. Beides wiederholt nur die falsche Trennung des Gegenstands vom Ich, die doch aufgehoben gehört.

Die (queer)feministische und postkoloniale Wissenschaftskritik ist häufig treffend, die aus ihr abgeleiteten poli­tischen Forderungen lassen allerdings zu wünschen übrig. Dass man mehr Teilhabe an Wissenschaft – und damit am wissenschaftlichen Konkurrenzkampf – fordert, ist verständlich. Es wäre allerdings wichtiger, die wissenschaft­lichen Institutionen sowie ihre Verknüpfung mit wirtschaftlichen und politischen Interessen stärker in den Blick zu nehmen.

Ernsthaft die Frage zu stellen, wie eine Wissenschaft aussehen könnte, die ihre Geschichte kritisch reflektiert, ohne sie völlig zu verwerfen, und wie Formen der Wissensproduktion, die das Paradigma der Objektivität aufhöben, bedeutet am Ende vielleicht auch, das Fundament ihres Elfenbeinturms zu untergraben, statt um die wenigen Plätze zu konkurrieren, die er den paar Privilegierten bietet. Allzu oft verheddert man sich sonst in Stellvertreterkämpfen an der akademischen Front, während sich an den kritikwürdigen ökonomischen und sozialen Verhältnissen, die auch die wissenschaftlichen Institutionen prägen, gar nichts ändert.