»Geht doch«, ein Essayband von Rembert Hüser

Anarchische Wühlmaus

Der Medienwissenschaftler Rembert Hüser ist bekannt für seine Kritik am Wissenschaftsbetrieb. In seinem kürzlich erschienenen Buch »Geht doch« gräbt er sich in mehreren Essays durch Popkultur und Graduiertenkollegien.

Vor 22 Jahren, in der Ausgabe 3/2000 dieser Zeitung, erschien ein Text mit der Überschrift »Für alle«, der vorgab, »den Stifter-Einfluss bei ­Rainald Goetz« zu untersuchen. Kurz zuvor hatte Rainald Goetz sein Internettagebuch »Abfall für alle« ver­öffentlicht, und sein Schreiben galt als ganz besonders eindrückliche Gegenwarts­prosa. Was damals in der Jungle World über dieses Tagebuch stand, war kein germanistisches Exerzitium, es waren vielmehr seitenlang aneinandergereihte Zitate aus dem Werk von Adalbert Stifter – dem Dichter, dessen Ausführungen selbst auf hartgesottene Freunde der deutschen Literatur des 19. Jahrhunderts mit langer Aufmerksamkeitsspanne ein bisschen wie eine Schlaftablette wirken.

Man könnte so einen Batzen Material als postmodernen Schabernack abtun; oder man zügelt die eigene Urteilswut und fragt sich, ob man nicht zu aufschlussreichen Gedanken kommen könnte, wenn man den einsilbigen, redundanten Heeressprech des böhmischen Mittelalters aus Stifters Roman »Witiko« in Verbindung setzt mit Goetz’ Protokollen über Isolation und Ekstase am Ende des vorigen Jahrtausends.

Hüsers Zugang zu Theorie, sei es nun ihre Produktion, Rezeption oder Distribution, bewahrt einen hoffentlich vor Seminargesprächen, die ablaufen wie Dialoge in Stifters »Witiko«.

Verfasst hatte diesen frechen Text Rembert Hüser. Er ist mittlerweile Professor für Medienwissenschaft in Frankfurt am Main, seine Veranstaltungen tragen Titel wie »Medienökologie Querbeet« oder »Signatur, Ereignis, Launch!« Hüser hat in den Achtzigern Germanistik, Medienwissenschaft, Geschichte und Soziologie studiert. Zu seinen Seminarleitern zählten Karl Heinz Bohrer, Niklas Luhmann, Reinhart Koselleck oder Hans-Ulrich Wehler. Mittlerweile sind diese akademischen Stars der siebziger, achtziger und neunziger Jahre tot, die Theorien, Schulen, und Strömungen, die mit ihren Namen assoziiert wurden, haben an Nimbus verloren. Aber dass deswegen zu vernachlässigen wäre, was, wo, wann, von wem und wofür akademisch genau produziert wurde – gegen diese Haltung richten sich Hüsers Texte.

Seit kurzem hat man dank dem Sammelband »Geht doch« die Gelegenheit, einige von ihnen zu erkunden. Das Buch versammelt sechs lange Aufsätze, eine von Hüser zusammengestellte Textsammlung mit ­Essays anderer Autorinnen und Autoren sowie ein längeres Gespräch zwischen Hüser mit Hanna Engelmeier und Ekkehard Knörer, die den Band auch herausgegeben haben.

Für die Lektüre muss man einiges Interesse für die Hardcore-Uni-Themen des Autors mitbringen. In dem Aufsatz »Heisse Umschläge« geht es unter anderem um die Frage, wie Verlage ihre Theoriebücher gestalten, wobei sich zeigt, »dass Bücher anfangen, noch bevor wir sie geöffnet haben«; die Buchcover sind für Hüser nicht nur Beiwerk, sondern bestimmen die Leseerfahrung mit. In »Etiketten aufkleben« lässt sich Hüser über die Räumlichkeiten eines Graduiertenkollegs aus, wo die Porträts berühmter akademischer Persönlichkeiten hängen. Und in »Luft nach oben« beginnt er mit der Beschreibung von dokumentarischen Arbeiten des US-amerikanischen Künstlers Mike Kelley über dessen Zeit in der Highschool und endet ­dabei, wie Promovideos des in den Neunzigern neu gegründeten Instituts für Medienwissenschaften der Universität Weimar die DDR-Vergangenheit vergessen machen.

Die akribische Auseinandersetzung mit seinem Material zeugt von philologischem Pflichtbewusstsein, das Zusammendenken von Texten, Räumen, Objekten und Institutionen erinnert an ethnologische Verfahren, und wie er große Theorien auflaufen lässt, gemahnt an die Dekonstruk­tion. Allerdings hat sich Hüser nie einer der zeitweise erfolgreichen Denkschulen verschrieben, sondern geht vom Material selbst aus, das ihn (vornehmlich in der Uni, der Bibliothek, als Leser generell) umgibt. Er beschäftigt sich mit Gegenständen, die man Hoch- oder Popkultur zuordnen könnte, aber nicht, um auf- oder abzuwerten, sondern um Zusammenhänge herzustellen, die Schreiber mit festgefahrenem Denkmuster nie interessieren dürften, da man bei der Beschäftigung mit dem meisten von diesem Material nie zu einem klaren Abschluss kommt.

Die Zwänge im heutigen Universitätsbetrieb bringt Hüser recht ex­plizit auf den Punkt: »Parallel zum Kunstbetrieb findet, nicht zuletzt auf Grund der allgemeinen Fördersituation, auch eine Restrukturierung des Tagungsbetriebs, der Nachwuchsförderung und der Publika­tionslogik statt, die sich an Parametern der Popkultur orientiert. Wissenschaft wird eventabhängiger; sie professionell zu betreiben, bedeutet nicht allein, Label und Terminologien zu prägen und durchzusetzen, sondern Kontakte zu den Förderinstitutionen aufzubauen und zu pflegen, die Feuilletons zu hofieren, um Anschlusskommunikationen eigen­händig anschieben zu können etc.« Hüser spricht in dem Zusammenhang von einem »curatorial turn«, der die Universität praktisch im Griff hat.

Hüser behauptet nicht, es besser zu wissen, sondern sammelt Materia­lien aus den Geisteswissenschaften (und darüber hinaus) und stellt sie so zusammen, dass verständlich wird, wann eine Autorität selbst nicht weiß, was sie sagt. So legt er frei beziehungsweise bloß, wie sich Machtverhältnisse in den Uni- und Kulturbetrieb einnisten. Hüser gleicht einer Wühlmaus, die sich immer wieder bis zu der Frage buddelt: Warum spielen sich die Leute so gern Durch­blickerei vor und lassen, was nicht passt, links liegen?

Die Universität, seien ihre Böden aus PVC oder Holz, ihre Wände aus Betonplatten oder altem Gemäuer, wird für die allermeisten, die jahrelang durch ihre Gänge wandeln und ihre Themenwahl nicht als Berufsqualifikation missverstehen, zu einem höchst unangenehmen Ort. Was ­institutionell tatsächlich stattfindet, verliert man dabei leicht aus dem Blick. Hüser schafft hier Abhilfe und sein Zugang zu Theorie, sei es nun ihre Produktion, Rezeption oder Distribution, bewahrt einen hoffentlich vor Seminargesprächen, die ablaufen wie Dialoge in Stifters »Witiko«: »Es war eine kurze Zeit der Stille. Dann sagte ein alter Mann: ›Ich habe mir das auch schon so ein wenig gedacht, was du gesagt hast, Witiko.‹ ›Mir sind die Gedanken auch schon in dem Kopfe gewesen‹, sagte ein anderer. ›Ich habe auch darauf gedacht, und das ist so eine Sache‹, sagte wieder einer. ›Das ist so eine Sache‹, sagte ein sehr alter Mann.«

Rembert Hüser: Geht doch. Verbrecher-Verlag, Berlin 2021, 384 Seiten, 22 Euro