Ein Gespräch mit dem Politikwissenschaftler Ilya Matveev über die außenpolitische Strategie Russlands

»Der Staat ist bereit, Opfer zu bringen«

Interview Von Ute Weinmann

Nach der Jahrtausendwende wollte Russland in seinen Nachbarländern auch wirtschaftlich expandieren. Doch spätestens seit 2014 bestimmen geopolitische Interessen die russische Außenpolitik.

Sie haben im vergangenen Jahr einen Aufsatz mit dem Titel »Zwischen politischem und ökonomischen Imperialismus: Die sich verändernde globale Strategie Russlands« ­veröffentlicht. Worin besteht diese Strategie?

Meine Ausgangsidee war es, zu verstehen, inwiefern es gerechtfertigt ist, Russland als imperialistisches Land zu bezeichnen, und welche Rolle die Wirtschaft dabei spielt. Als Linke müssen wir eine Situation immer auch hinsichtlich dieser Frage analysieren und dürfen uns nicht auf machtpolitische nationale Interessen oder Ähnliches beschränken. Zu Beginn der nuller Jahre, als die russische Wirtschaft ein Wachstum verzeichnen konnte und die staatlichen Institutionen nach dem Kollaps der neunziger Jahre wieder funktionsfähig geworden waren, kam es zu einer Art Synergieeffekt: Der Staat wollte auf die postsowjetischen Länder, die er als seine Einflusssphäre deklariert, politisch einwirken, und gleichzeitig strebten die Unternehmen nach Profiterhöhung durch wirtschaftliche Expansion, insbesondere im Bereich fossile Brennstoffe und in der ölverarbeitenden Indus­trie. Russland beabsichtigte, die ehemals sowjetischen Produktions- und Wirtschaftskreisläufe unter eigener Regie fortzuführen.

Lassen sich diese politische Einflussnahme und die Interessen der Öl- und Gaskonzerne überhaupt trennen, da bei ihnen ja nicht von Privatfirmen die Rede sein kann?

Ja, auch darauf gehe ich ein, aber letztlich ist weniger die Eigentumsform entscheidend, sondern welches Interesse hinter jeder konkreten Handlung steht. Als markantes Beispiel lassen sich hier die sogenannten Gaskriege seit 2005 anführen (eine Reihe von Auseinandersetzungen Russlands mit verschiedenen Nachbarländern, besonders der Ukraine, über den Preis und die Bedingungen des Bezugs von russischem Erdgas, Anmerkung der Redaktion). Beim Aushandeln der Gaspreise orientierte sich Gazprom als russischer Staatskonzern an zwei Punkten: Die für die ehemaligen Sowjetstaaten bisher weit unter Weltmarktniveau liegenden Preise sollten generell auf europäisches Niveau angehoben werden, auch für die Ukraine. Andererseits schloss Russland 2010 einen Vertrag mit der Ukraine über einen Preisnachlass von etwa einem Drittel, um im Gegenzug die Verlängerung des Nutzungsvertrages für den russischen Flottenstützpunkt in Sewastopol auf der Krim durchzusetzen. Hier standen politische Interessen klar im Vordergrund. Letztlich hat Russland die Krim 2014 wegen dieser Militärbasis annektiert.

Was bedeutet das in der Konsequenz für die jetzige Situation?

Wir sehen in der russischen Außenpolitik die Verflechtung zweier unterschiedlich gelagerter Interessen: Gewinnorientierung und Geopolitik. Manchmal überschneiden sie sich, manchmal nicht. In meinem Text komme ich zu dem Schluss, dass sich dieses Zusammenspiel seit 2014 komplett erledigt hat. Russland hat sich in geopolitischer Hinsicht auf einen militärischen und expansionistischen Weg begeben, ökonomisch betrachtet bringt dieser aber nur Verluste ein. Es kam sogar zur physischen Zerstörung von Produktionsmitteln, wie einer Erdölraffinerie des russischen Ölkonzerns Rosneft im ukrainischen Donbass. Gleichzeitig wurden aus der Ukraine nach 2014 russische Unternehmer verdrängt, die ­unter Druck ihre Vermögenswerte zum Spottpreis veräußern mussten oder enteignet wurden. Die Politik in der Ukraine ist also gescheitert, Russlands wirtschaftlicher Einfluss geht dort gen null. Was sich jetzt abspielt, resultiert aus den Ereignissen von 2014. Wo ökonomisch nichts mehr geht, bleiben nur noch Panzer als Einflussinstrument.

Aber was genau will der Kreml damit jetzt erreichen? Es stehen ja auch Gaslieferungen nach Europa auf dem Spiel.

Es dominiert jetzt bei allen Entscheidungen das politische Interesse. Der Staat ist bereit, dafür Opfer zu bringen. Selbst Nord Stream 2 steht in Frage. Läge Russlands Priorität auf der Wirtschaft, würde der Präsident alle Kraft darauf verwenden, dieses Projekt nicht zu gefährden. Zumal Nord Stream 2 eine hohe politische Bedeutung zukommt, da es die Pipeline erlaubt, die Ukraine zu um­gehen. Aber der Staat zeigt, dass für ihn die Nato oder das, was die Führung als russische Sicherheitsinteressen bezeichnet, wichtiger ist. Dabei muss die Ukraine nicht einmal Nato-Mitglied werden, damit es dort zu einer spür­bare Präsenz westlicher Militäreinheiten kommen könnte. Das Vorgehen Russlands ist paradox, denn es führt nicht zu einer Reduzierung von Nato-Truppen in Osteuropa, sondern zu deren Aufstockung. Russland ist gegen eine Nato-Osterweiterung, erreicht aber, dass immer mehr Menschen in der Ukraine ­einen Nato-Beitritt befürworten.

Warum verfolgt die russische ­Führung diese Linie dann trotzdem weiter?

Darauf habe ich keine Antwort, nur eine These: Ohne diesen Dauerzwist ist das politische System Russlands nicht mehr existenzfähig. Es braucht außenpolitische Spannungen, um die rus­sische Bevölkerung von inneren Pro­blemen abzulenken sowie zur Einigung der Elite im Kampf gegen den Westen.

Das Moskauer Carnegie-Zentrum vertritt die Ansicht, dass Russland jetzt in die Offensive gehe, weil die Armee erstarkt sei und neue Waffensysteme ein Gefühl der Überle­gen­heit erzeugen. Außerdem unterstütze China Russland.

Was die Armee anbelangt sehe ich das genauso. Russland hat gigantische Summen in die Modernisierung des Militärs investiert, auf Kosten aller anderen Sphären, besonders des Bildungs- und Gesundheitswesens. Da eine Einflussnahme auf andere Weise unmöglich scheint, avancieren die gut aufgestellten und kampfbereiten Streitkräfte zum zentralen Handlungsinstrument. Ihr Zustand verhilft den Kalkulationen und Ideen des Generalstabs und des ­Sicherheitsrats zu einer enormen Aufwertung. Was China betrifft, stellt sich die Lage komplexer dar. Die Situation mit Russland gilt es auch im Zusammenhang mit dem Konflikt zwischen China und den USA zu betrachten, der global gesehen von größerer Tragweite ist. Auch wenn China jetzt als politischer Bündnispartner Russlands ­daherkommt, hat die chinesische Führung keine Hemmungen, seinen rus­sischen Nachbarn ökonomisch massiv unter Druck zu setzen. Russlands Abhängigkeit von China nimmt zu, und chinesisches Kapital verdrängt das ­russische selbst in Zentralasien, das die russische Führung als ihren eigenen Hinterhof begreift.

Die russische Regierung baut im Umgang mit ihren Nachbarn traditionell auf loyale Beziehungen zu den jeweiligen politischen Führungsschichten. In der Ukraine ist dieses Konzept gescheitert. Könnte sich das irgendwann ändern?

Ausgeschlossen. Die Ukraine kommt für Russland als Bündnispartnerin nicht mehr in Frage, trotz kläglicher Versuche, prorussische Kräfte zu fördern, die dort keine Chance haben. Der 2019 gewählte Präsident Wolodymyr Selenskyj war anfangs für den Kreml ein aussichtsreicherer Kandidat als sein Vorgänger, doch letztlich fährt er einen weitaus härteren antirussischen Kurs. Aus Sicht des Kremls bedeutet das: Wenn keine Absprachen drin sind, kommt das Militär ins Spiel.

Aber Russland wird doch wohl kaum die gesamte Ukraine besetzen?

Aus einer Invasion würden Russland keinerlei Vorteile erwachsen, selbst sicherheitspolitische Erwägungen würden bei einem Krieg das Nachsehen haben. Aber es gibt ja auch noch andere militärische Optionen, beispielsweise die Ausweitung der selbsternannten Volksrepubliken im Donbass um einige umliegende ukrainische Ortschaften und die Hafenstadt Mariupol. Das würde ebenfalls in einen Krieg ausarten und zivile Opfer fordern. Eine solche Variante halte ich für nicht völlig unrealistisch. Wenn Putin sich in die Enge getrieben sieht, weil die USA und die Nato keine Kompromissbereitschaft signalisieren, könnte er durchaus zeigen wollen, dass die militärischen Drohungen kein Bluff waren. Womöglich rechnet der Kreml damit, dass die USA sich dessen bewusst sind und sich letztlich doch auf gewisse Absprachen einlassen.

Die »Russische Sozialistische Bewegung« (RSD) hat kürzlich eine Erklärung veröffentlicht, in der sie Russland und die USA beschuldigt, Desinformationspolitik zu betreiben, die Ukraine als Hauptverliererin der russischen Aggressionen bezeichnet und Linke und fortschrittliche Kräfte international zu einer klaren Antikriegshaltung aufruft. Wie äußert sich der Rest der russischen Linke zu der Situation?

Ehrlich gesagt habe ich nicht verfolgt, wie andere Gruppen sich dazu verhalten, weil sich die russische Linke in einem derart desolaten Zustand befindet, dass ihre Haltung nicht von Relevanz ist.

Nach 2014 hat die RSD versucht, Kontakt zu linken ukrainischen Organisationen zu halten. Was ist davon geblieben?

Nichts als persönliche Beziehungen. Letztlich befindet sich die Linke in der Ukraine ebenfalls in einer tiefen Krise, zudem gibt es nur zu wenigen Gruppen inhaltliche Anknüpfungspunkte.

 

Ilya Matveev

Ilya Matveev ist Politikwissenschaftler und Mitglied des unabhängigen Forschungszentrums Public Sociology­ ­Laboratory (PS Lab) in St. Petersburg. Er ist Gründungsmitglied des Online-Magazins Openleft.ru.