Die italienische Schülerbewegung kämpft gegen Markt- und Konkurrenzorientierung

Ausbilden für die prekäre Arbeitswelt

In Italien haben sich nach dem Tod eines Schülers während seines verpflichtenden Betriebspraktikums die Proteste der Schülerinnen und Schüler ausgeweitet. Sie richten sich gegen prekäre Lernbedingungen während der Pandemie und das Konzept der »unternehmerischen Schule«.

»Unsere Wut wird sich an jeder Schule und in jeder Stadt verbreiten.« Die römische Schülerprotestbewegung hatte es Ende Januar angekündigt, am Freitag vergangener Woche war es dann so weit: Zehntausende Schülerinnen und Schüler der Mittel- und Oberstufen demonstrierten in zahlreichen Städten Italiens, von Mailand und Turin über Verona bis nach Neapel und Palermo, gegen die Schulpolitik der italienischen Regierung. Unmittelbarer Anlass der landesweiten Proteste war der Erlass des Unterrichtsministers Patrizio Bianchi, im Sommer die Abiturprüfungen wieder nach vorpandemischem Reglement mit zwei schriftlichen Prüfungen abzuhalten – so, als gäbe es den für die betroffenen Jahrgänge seit Schuljahresbeginn ministeriell angeordneten regulären Schulbetrieb wirklich.

Tatsächlich befinden sich viele Klassen jedoch weiterhin ganz oder teilweise im Fernunterricht. Deshalb könne, so die Protestbewegung, von einer Rückkehr zur Normalität keine Rede sein. Durch ständig wechselnde Quarantäneverordnungen, willkürlich geteilte Klassenverbände und kurzfristig angesetzte Schichtunterrichtspläne für die geteilten Klassen werde das gemeinsame Lernen weiterhin verhindert. Dennoch gebe es fortgesetzt Leistungskontrollen und Wissensabfragen ohne Rücksicht auf die psychischen Leiden der Schülerinnen und Schüler nach knapp zwei Jahren »Didaktik auf Distanz«.

Ab dem kommenden Schuljahr sollen in einer neu eingeführten vierjährigen gymnasialen Oberstufe TED (Transizione ecologica e digitale) 100 ausgewählte Unternehmen direkt an der Abfassung der Lehrpläne beteiligt werden.

Für die römischen Schülerkollektive, die sich in Anlehnung an das Wahrzeichen ihrer Stadt unter dem Namen »La Lupa« (Die Wölfin) zu einer Bewegung zusammengeschlossen haben, kann es unter den gegenwärtigen Bedingungen des Unterrichts nicht nur keine »normalen« Abschlussprüfungen geben, vielmehr stellen sie die sogenannte Normalität des italienischen Schulsystems grundsätzlich in Frage. Dass die Demonstration vom Freitag nur ein vorläufiger Höhepunkt der Bewegung sein würde, bekräftigte La Lupa am Wochenende. In einer zweitägigen Vollversammlung tauschten sich verschiedene nationale Gruppen in den beiden centri sociali Brancaleone und Acrobax in Präsenz über Formen und Inhalte bisheriger und zukünftiger Protestaktionen aus.

Zu Beginn des laufenden Schuljahrs waren zwischen Oktober und Dezember in Rom zeitweise bis zu 50 Schulen besetzt, von den humanistischen Gymnasien der Innenstadt bis zu den eher technisch ausgerichteten Instituten der nördlichen Peripherie. Doch das Unterrichtsministerium weigerte sich, die Nöte der Schülerschaft anzuhören, stattdessen wurden Schülerinnen und Schüler, die das Ministerium als Verantwortliche der Proteste ansieht, mit mehrtägigem Unterrichtsausschluss bestraft.

Die aufgestaute Wut brach sich Bahn, als am 22. Januar die Nachricht vom Tod des 18jährigen Lorenzo Parelli bekannt wurde. Der Schüler war am letzten Tag seines Betriebspraktikums in einer Metallbaufirma in der Nähe von Udine von einer herabfallenden schweren Eisenstange erschlagen worden. Spontan versammelten sich in mehreren Städten Jugendliche und forderten die sofortige Abschaffung der verpflichtenden Betriebspraktika. In Rom hinderte die Polizei Schülerinnen und Schüler, die sich vor dem Pantheon zu einer Kundgebung getroffen hatten, gewaltsam daran, in einer spontanen Demonstration vor das Unterrichtsministerium zu ziehen. Mehrere Minderjährige erlitten Platzwunden. Auch in Turin, Mailand und Neapel ging die Polizei mit Schlagstöcken gegen Schülerproteste vor.

Das Programm »Schule und Arbeit im Wechsel« war 2003 von der zweiten Mitte-rechts-Regierung unter Ministerpräsident Silvio Berlusconi (2001–2005) für berufsqualifizierende Schulen eingeführt und 2015 im Rahmen der Schulreform »Buona Scuola« (Gute Schule) unter einer vom damaligen Vorsitzenden des Partito Democratico (PD), Matteo Renzi, geführten Regierung auf die gymnasiale Oberstufe ausgedehnt worden. Ursprünglich waren zur Erlangung des Schulabschlusses bis zu 400 Arbeitsstunden in einem Unternehmen verpflichtend vorgesehen, seit 2018 sind es je nach Schulart nur noch 210, 150 oder 90.

In den ersten Tagen nach Parellis Tod rückten die Beschäftigungsverhältnisse in den Blick, die nicht nur für Schülerinnen und Schüler lebensgefährlich sind. Die staatliche Versicherungsanstalt für Arbeitsunfälle Inail vermeldet allein im ersten Monat des neuen Jahres über 90, für das vergangene Jahr insgesamt 1 221 tödliche Arbeitsunfälle. Mittlerweile kritisieren die protestierenden Schülerinnen und Schüler die ganze Konzeption der »unternehmerischen Schule«. Seit 2018 verspreche ein neuer Name der Prak­tikumsphase die Vermittlung von »Schlüsselkompetenzen und Berufs­orientierung«, doch weiterhin würden pro Jahr circa eine Million Jugendliche lediglich als unbezahlte Arbeitskräfte ausgenutzt und in die prekäre Arbeitswelt eingewöhnt.

Solidarisch mit den Schülerprotesten erklärten sich prekär beschäftigte Lehrkräfte und Kulturschaffende, die verschiedene Petitionen zur Abschaffung der obligatorischen Praktika in Umlauf brachten, aber auch Mitglieder der Metallgewerkschaft Fiom und or­ganisierte Erwerbslose. Dagegen wollen der zuständige Arbeitsminister, An­drea Orlando (PD), und Bianchi, der als parteiloser Wirtschaftsprofessor schon lange vor seiner Ernennung zum Unterrichtsminister für die neoliberale Bildungspolitik des PD eintrat, die Zusammenarbeit mit der Privatwirtschaft weiter intensivieren. Ab dem kommenden Schuljahr sollen in einer neu eingeführten vierjährigen gymnasialen Oberstufe TED (Transizione ecologica e digitale) 100 ausgewählte Unternehmen direkt an der Abfassung der Lehrpläne beteiligt werden. Die neue Generation soll für die ökologische und digitale Wende spezialisiert und zugleich zum unternehmerischen Denken erzogen werden.

Mit ihrer Forderung, die Schule als Ort des Austauschs und der gegenseitigen Unterstützung neu zu organisieren, erteilen die Schülerproteste der geforderten Konkurrenzorientierung eine Absage. Auch die Forderung, die Bildungspläne nicht aus marktwirtschaftlicher, sondern gesellschaftspolitischer Perspektive zu erneuern, ist als Kritik an der Verengung auf eine berufsspezialisierende Schulbildung zu ver­stehen. Die Schülergewerkschaft Unione degli Studenti (UdS) kämpft für die Aufrechterhaltung interdisziplinärer Lerneinheiten als Möglichkeit zur Entwicklung kritischen Denkens. Für kommenden Freitag sind weitere Proteste angekündigt.