Im texanischen Austin boomt die Baubranche, Obdachlosigkeit wird jedoch kriminalisiert

Camping verboten

Reportage Von Johannes Streeck

In Austin boomt die Baubranche, zahlreiche Technologieunter­nehmen siedeln sich in der Stadt an. Wohnungslosigkeit wird hingegen kriminalisiert.

Austin boomt. Wer die Hauptstadt von Texas besucht, kann die Anzeichen des Wachstums nur noch schwer übersehen. Hohe Kräne ragen über die Dächer, der Verkehr kriecht um die Baustellen, auf denen Hochhäuser, Apartments und Geschäfte entstehen. An vielen Stellen werden die Straßen repariert und vergrößert, denn sie wurden einst für eine deutlich kleinere Stadt angelegt. Im Jahr 1990 lebten in der Metropol­region 569 000 Menschen, 2020 waren es fast 2,3 Millionen. Selbst unter den schnell wachsenden Städten der Südstaaten der USA kann Austin mit Superlativen protzen. Im Schnitt wächst die Bevölkerung der jüngsten Volkszählung zufolge täglich um 184 Menschen. Das ehemals als »Hippie-Nest« verschriene Austin zieht heutzutage nicht nur gut ausgebildete junge ­Menschen, sondern auch immer mehr Technologieunternehmen an.

Die Stadt liegt am Rand des sogenannten Edwards Plateau, einer Ebene, deren südlicher Ausläufer eine lange, grüne Kurve durch die Mitte von Texas beschreibt. Das Plateau queren mehrere Flüsse, in einer ansonsten trockenen Region siedelten die Menschen rund um das verhältnismäßig reichlich vorhandene Wasser. Manche Viertel Austins befinden sich auf dem Gebiet einstiger Siedlungen, die vor über 9 000 Jahren entstanden sind. Ein großer Stausee im Stadtzentrum teilt Austin grob in Norden und Süden. Das Reservoir und sein Ufer dienen als Treffpunkt, als öffentlicher Sportplatz und als beliebtes Postkartenmotiv. Entsprechend begehrt sind Immobilien und Brachland in ­seiner Nähe, hier entstehen derzeit die größten Wolkenkratzer der Stadt.

»Wenn eine Person bei minus sechs Grad Celsius im Wald schlafen muss und deshalb erfriert, ist das nicht auch eine Form der Gewalt?« João Paulo Connolly, Austin Justice Coalition

Kurz vor Sonnenaufgang an einem Wintermorgen sind trotz Minusgraden schon die ersten Jogger auf den gepflegten Wegen unterwegs, die um den See führen. Hinter hohen Bauzäunen, die mit Plastikplanen blickdicht gemacht wurden, entstehen verglaste Türme für bekannte Auftraggeber: Tiktok, Meta, Hilton. Ein nahezu bezugsfertiges Gebäude, in dem Google als alleiniger Mieter auftreten soll, schimmert im fahlen Morgenlicht wie ein verchromter Berggipfel.

Dichte Rauchschwaden wehen heran, ihr scharfer Geruch passt nicht zu den polierten Oberflächen der neuen Gebäude. Auf einer kleinen Fläche zwischen dem Uferweg und einem Bauzaun verbrennt eine Person Pappe auf einem Grill, vermutlich um sich nach der kalten Nacht wieder aufzuwärmen. Um sie herum steht eine Gruppe ein­facher Campingzelte, die in Austin vielen Menschen als provisorische Behausungen dienen. Hinter den Zelten leuchtet die säuberliche Werbeschrift des Hotels »Van Zandt«. Dessen Website verspricht »Austin Living« in Wassernähe ab 580 US-Dollar pro Nacht.

Polizeiauto hinter Absperrgitter eine Person liegt am Boden

Am Tatort. Hier wurde ein Wohnungsloser verletzt

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Johannes Streeck

Aufschwung für wenige
Dass der Boom in Austin kein Aufschwung für alle ist, wird in der Innenstadt immer wieder deutlich. An einer Ampel neben einer Brachfläche, die für den nächsten Bau vorbereitet wird, rennen einige Menschen zwischen den wartenden Autos hin und her, um zu betteln oder Scheiben zu putzen. Eine halbe Stunde später ist hier ein Stück des Bürgersteigs und der Straße mit gelben Plastikbändern der Polizei abgesperrt, um einen Tatort zu sichern. Auf dem Boden liegt ein Schlafsack, daneben ein Knäuel blutbefleckter Kleidung. Der Verkehr bahnt sich einen ordentlichen Weg um das temporäre Hindernis. Tags darauf ist alles wieder verschwunden. Eine Mitteilung der ­Polizei zu dem Vorfall lässt sich im Netz nicht finden.

»Ich werde oft nach Gewalt gegen Obdachlose gefragt, und dann frage ich mich, ob nicht alles, was obdachlosen Menschen hier geschieht, schon dazu zählt«, sagt João Paulo Connolly. »Wenn eine Person bei minus sechs Grad Celsius im Wald schlafen muss und deshalb erfriert, ist das nicht auch eine Form der Gewalt?« Connolly gehört der Austin Justice Coalition an, einer Organi­sation, die sich in der Stadt für Personen einsetzt, die von Rassismus betroffen sind. Seine Arbeit konzentriert sich auf die Menschen, die sich den Wohnraum in Austin nicht mehr leisten können.

Derzeit ist Connolly auch Mitglied des Stadtplanungskomitees der Stadt. Günstige Wohnungen und Mietshäuser werden immer knapper. In Texas gibt es keine Obergrenze für Mieterhöhungen, Vermieterinnen und Vermieter können daher jedes Jahr die Quadratmeterpreise so hoch ansetzen, wie sie möchten. Allein im vergangenen Jahr ist die verzeichnete Durchschnittsmiete in Austin einer Studie der Immobilienfirma Redfin zufolge um 40 Prozent gestiegen.

Connolly sagt, das Problem der Wohnungslosigkeit sei in Austin lange ignoriert worden. Erst 2019 gelang es progressiven Mitgliedern des Stadtrats, ein lang bestehendes Verbot gegen Zelten und Schlafen in der Öffentlichkeit zu kippen. In den Wochen und Monaten danach entstanden in der Stadt verteilt kleine Lager von Wohnungslosen, durch die viele zum ersten Mal auf das Problem aufmerksam wurden. Menschen, die zuvor oft trotz gefährlicher Witterungsbedingungen in Flussbetten, Gebüschen oder umliegenden Wäldern gelebt hatten, waren plötzlich im Stadtbild zu sehen. Politisch Aktive wie Connolly und ­Streetworker betrachten diese Phase heutzutage oft als »goldene Ära« für ihre Arbeit, denn Menschen, die nicht ständig auf der Flucht vor der Polizei sind, sind für wichtige Versorgungsangebote besser zu erreichen. Dank der festen Camps hatten Wohnungslose auch besseren Zugang zu sauberem Wasser und Hygieneartikeln als zum Beispiel in den Wäldern entlang des Stadtrands.

Seit dem 11. Mai 2021 ist aber Schluss mit dieser »Ära«, denn Austin entschloss sich in einem Volksentscheid vom 1. Mai 2021 dazu, Obdachlosigkeit wieder zu kriminalisieren. 57 Prozent der Wählerinnen und Wähler der Stadt stimmten damals dafür, das Campieren im öffentlichen Raum erneut zu verbieten. »Sitzen, Liegen und Zelten im öffentlichen Raum« kann gemäß Gesetzestext seither wieder mit einer Geldstrafe geahndet werden, eine Formulierung, die Personen ohne Wohnsitz den Aufenthalt in Austin de facto verbietet.

»Es gibt keinen Ort, wo die Menschen hin könnten«, beschreibt Connolly die paradoxe Situation. Der Platz in den städtischen Heimen reicht bei weitem nicht für alle, die eine Unterkunft bräuchten. »Ich suche seit zwei Wochen Plätze für ein paar Leute, die in hochriskanten Situationen sind, aber ich kann gerade weder in Austin noch im Umland auch nur ein einziges freies Bett finden«, so Connolly. Die Plätze, die es gibt, werden über eine stadteigene Initiative verteilt, die kritisiert wird, weil sie disproportional weißen Personen helfe, obwohl in Austin mehrheitlich nichtweiße Menschen wohnungslos sind.

Baustelle in Austins Innenstadt

Bauen für gutbetuchte Zugezogene. Die Innenstadt von Austin

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Johannes Streeck

Ab ins Ghetto
Hautfarbe und Wohlstand korrelieren in Austin ohnehin auf besonders frappierende Art. »Die Geschichte der Stadtplanung beginnt hier eigentlich im 19. Jahrhundert mit dem Genozid an den indigenen Gemeinden«, sagt Scott Hoff. Der Name ist das Pseudonym eines Mitglieds der Gruppe »Stop the Sweeps«, die zu Protest gegen das Vorgehen der Polizei und Stadtverwaltung gegen Wohnungslose aufruft.

Am Telefon erzählt Hoff aber auch von dem berüchtigten Stadtplan für Austin von 1928, auch bekannt als Masterplan für Austin. Diesen hatte der nur aus weißen Männern bestehende damalige Stadtrat vor allem beschlossen, um Weiße und Schwarze sowie andere Nichtweiße räumlich zu segregieren. Die meisten Schwarzen lebten damals in über die Stadt verteilten Gemeinden, die von sogenannten freedmen gegründet worden waren, also ehemaligen Sklavinnen und Sklaven. Die Bevölkerung der Gebiete östlich der East Avenue und südlich des City Cemetery galt als mehrheitlich schwarz. Die neue Stadtplanung sah vor, die vereinzelten Siedlungen zu zerstören, um die gesamte afroamerikanische Bevölkerung Austins in einem einzigen Gebiet im Osten Austins zu konzentrieren, das vom Rest der Stadt durch die East Avenue (die heutige Interstate 35) getrennt war. Den im Stadtgebiet verteilten schwarzen Siedlungen wurden dafür Wasser und Strom abgedreht, Abwasserkanäle und geteerte Straßen wurden in diesen ­Gebieten nicht ausgebaut, um die dort Ansässigen zum Wegzug zu nötigen, und der Boden schließlich günstig an Weiße verkauft.

»Die Geschichte der Stadtplanung beginnt hier eigentlich im 19. Jahrhundert mit dem Genozid an den indigenen Gemeinden.« Scott Hoff, Stop the Sweeps

Die Strategie war erfolgreich, Gegenden wie Clarksville, Barton Springs und Pleasant Hill haben auch heute noch eine mehrheitlich weiße Bevölkerung und gehören zu den begehrtesten Nachbarschaften im Stadtkern. Austin ist einer Studie des Martin Prosperity Institute der Universität Toronto aus dem Jahr 2015 zufolge die US-amerikanische Stadt mit der größten ökono­mischen Kluft zwischen Schwarzen und Weißen. Hoff kommentiert, in Austin hätten sich vielleicht die Methoden verändert, das Ziel sei aber dasselbe geblieben: »Es geht darum sicherzustellen, dass weiße Menschen hier genug Platz haben.«

»Ich denke oft, es gibt die Wahrheit über uns als Stadt, und dann gibt es die Fassade, die wir für uns selbst und die Welt kreiert haben«, sagt Connolly von der Austin Justice Coalition. Austin hat ein rebellisches Selbstverständnis, was das Verhältnis zum Rest von Texas angeht, man betrachtet die Stadt als einen progressiven Dorn im Leib des sonst eher konservativen Bundesstaats. Sie hat das Image, entspannt und offen zu sein und ein großes Herz für Lebenskünstler zu haben. Austins Bevölkerung wählt mehrheitlich demokratisch und ist überdurchschnittlich gut gebildet. Doch Connollys Erfahrung widerspricht dem Selbstbild der Stadt: »Viele Leute reden darüber, wie wichtig ihnen Dinge wie die Gleichberechtigung ethnischer Minderheiten oder die Beseitigung ökonomischer Ungleichheiten seien«, doch was den Umgang mit den Wohnungslosen anbelange, empfinde er von Seiten vieler in Austin vor allem eines: »eine enorme Gleichgültigkeit«.

Hoff von Stop the Sweeps erwartet nicht viel von vermeintlich progressiven Politikerinnen und Politikern, was den Schutz von Obdachlosen angeht. Als sweeps bezeichnet man die Einsätze der Behörden in den Wohnungslosencamps. Dabei würden teilweise mobile Müllpressen eingesetzt, die noch an Ort und Stelle Zelte und Habseligkeiten der Wohnungslosen einstampften, ­erzählt Hoff. Anstatt Strafzettel wegen Verstößen gegen das neue Gesetz zu ­erhalten, würden die Bewohnerinnen und Bewohner der Camps mit der ­Zerstörung ihres Eigentums bestraft.

Die Skyline von Austins Innenstadt

Aufstrebende Wolkenkratzer. Die Skyline von Austins Innenstadt

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Johannes Streeck

Hoher Besuch
Beto O’Rourke will bei der im November anstehenden Gouverneurswahl in Texas für die Demokratische Partei gegen den republikanischen Amtsinhaber Greg Abbott antreten. Vor kurzem besuchte er eines der Camps im Süden von Austin. Die Obdachlosigkeit in der Stadt ist auch auf Bundesstaatsebene ein Wahlkampfthema, denn Abbott vertritt den Wohnungslosen gegenüber eine harte Politik. Als 2019 die Camps in Austin auch Aufmerksamkeit in der ­nationalen Presse bekamen, ließ Abbott ein texasweites Campierverbot im öffentlichen Raum verabschieden, das jegliche Duldung von Zelten auf lokaler Ebene unterbinden sollte. Hoff meint, es gebe in diesem Punkt keine erheb­lichen Unterschiede zwischen den beiden großen Parteien, auch wenn O’Rourke anders spreche oder sich persönlich in einem Lager gezeigt habe: »Ein paar Tage nachdem er in Austin war, hat die Stadt das Lager geräumt.«

Connolly und Hoff begrüßen Pläne, Tausende neuer Sozialwohnungen zu bauen. Sollten sie tatsächlich realisiert werden, könnte es die Situation für Wohnungslose in Austin merklich verbessern, sind beide überzeugt. Die ­angespannte Lage auf dem Wohnungsmarkt bekommen sie auch privat zu spüren: Connolly sei nach seinem Umzug nach Austin monatelang »von Sofa zu Sofa« unterwegs gewesen, bis er ­erschwinglichen Wohnraum gefunden habe. Hoff erzählt, manche Mitglieder von »Stop the Sweeps« müssten immer weiter an den günstigeren Stadtrand ziehen, um sich Leben und Aktivismus in Austin weiter leisten zu können.

Ein Ende des Baubooms in Austin ist nicht in Sicht. Selbst wenn Mieten und Grundstückspreise in der Stadt weiter steigen, werden sich wohl genug Interessenten für den begehrten Wohnraum finden lassen, denn hier gibt es auch sehr gut bezahlte Arbeitsplätze. Wer bei Unternehmen wie Meta oder Tiktok in der richtigen Abteilung einsteigt, verdient der Jobbörse Indeed zufolge oft schon kurz nach dem Berufseinstieg Hunderttausende US-Dollar im Jahr. Die Wohnungen, Büros und Hotels in den funkelnden Türmen der Innenstadt werden wohl vor allem für diesen Personenkreis gebaut.