In Libyen löst die Ankündigung einer Interimsregierung weitere Machtkämpfe aus

Lagerkämpfe in Libyen

Libyens neue Übergangsregierung bleibt umstritten. Der alte Interims­ministerpräsident will nicht gehen. Neue Machtkämpfe nach den gescheiterten Wahlen gefährden den UN-Friedensplan.

Die neue libysche Regierung bleibt ­wackelig. Am Donnerstag vergangener Woche, zwei Monate nach dem ursprünglich angesetzten Datum für die Präsidentschafts- und Parlamentswahlen, die dann jedoch abgesagt wurden, verkündete der designierte libysche Interimsministerpräsident Fathi Bashagha in der libyschen Hauptstadt Tripolis, dass er seine Regierung zusammengestellt habe. Am Montag legte er seine Kabinettsliste dem Repräsentantenhaus im ostlibyschen Tobruk zur Abstimmung vor und erfüllte damit dessen Frist für eine Regierungsbildung. Dieses Unterhaus des 2014 gewählten Parlaments hatte ihn zwei ­Wochen zuvor mit der Regierungsbildung beauftragt. Die geplante Be­stätigung der Regierung scheiterte am Montag jedoch am fehlenden Quorum. Ob sie in den folgenden Tagen gelang, war bis Redaktionsschluss nicht klar.

Gefreut haben dürfte sich der bis­herige Interimsministerpräsident Abdul Hamid Dbeiba, der nicht daran denkt, sich in Tripolis von Bashagha ablösen zu lassen. Ihm zufolge besteht sein Mandat bis zur Ablösung durch einen gewählten Regierungschef fort. Es beinhalte, im Rahmen des UN-Friedensplans Wahlen vorzubereiten, und solange diese nicht erfolgt seien, sei er noch immer im Amt. Die Neubesetzung des Amts sei Resultat eines Komplotts des Milizenführers Khalifa Haftar und das Repräsentantenhaus habe seine Befugnisse überschritten. Zudem sei die Abstimmung fehlerhaft ge­wesen, es habe nur eine fünfsekündige Handabstimmung im Unterhaus gegeben und das Oberhaus in Tripolis habe seine Zustimmung verweigert.

Beide Seiten profitieren vom Status quo und hätten durch Wahlen viel zu verlieren.

Bashagha und seine Unterstützer wiederum argumentieren, Dbeibas Amtszeit sei am 24. Dezember, dem Termin der gescheiterten Wahlen, abgelaufen. Das Repräsentantenhaus habe als einzige ernstzunehmende demokratische Institution das Recht, einen neuen Ministerpräsidenten einzusetzen. Außerdem sei Dbeibas Wahl Anfang 2021 durch Bestechung zustande gekommen.

All diese Vorwürfe treffen zu und zeigen, wie schwach die Legitimation beider Ministerpräsidenten ist. Der vorerst gescheiterte UN-Friedensplan enthielt keine Sicherheitsklauseln für den Fall, dass die für den 24. Dezember vorgesehenen Wahlen aufgeschoben würden. Bashagha und Dbeiba hatten beide für die Präsident kandidiert, doch die Wahl wurde wegen zahlreicher Unregelmäßigkeiten und Konflikte um die Zulassung von Kandidaten abgesagt. Jetzt wird der Machtkampf wieder in Hinterzimmern geführt, ohne Beteiligung der Bevölkerung. Beide Seiten nutzen dies aus und hoffen darauf, dass die Gegenseite nachgibt. Zu diesem Zweck behaupten sie, sie könnten die abgesagten Wahlen nachholen, doch die andere Seite wolle dies verhindern. De facto profitieren beide Seiten vom Status quo und hätten durch Wahlen viel zu verlieren.

Libyen-Experten wie Jalel Harchaoui von der Global Initiative Against Transnational Organized Crime konstatieren daher, dass das Bekenntnis zu den Wahlen häufig nur vorgeschoben sei und vor allem dazu diene, Zeit zu schinden oder auf undemokratischem Weg die Macht zu erringen. Dies sei hier ebenfalls der Fall.

Angesichts der Tatsache, dass politische Institutionen in Libyen vom Wohlwollen bewaffneter Milizen und ausländischer Streitkräfte abhängig sind, ist der jetzige Machtkampf daher auch weniger ein Konflikt zwischen dem Unterhaus des Parlaments und dem alten Interimsministerpräsidenten als vielmehr einer zwischen zwei Milizenblöcken und ihren Unterstützern. Ihre Galionsfiguren und Institutionen ändern sich fortwährend, ihre Allianzen und Interessen hingegen kaum.

Dbeiba, der aus der Hafenstadt Misrata stammt, hofft im Machtkampf auf das Wohlwollen der westlibyschen Milizen und der Türkei, die ihre Einflusssphäre im Westen des Landes sichern und gegen Rivalen verteidigen will. Er stellt sich als bevölkerungsnaher Unternehmer dar, der großzügige Finanz­hilfen verspricht, auch wenn niemand so genau weiß, woher das Geld dafür kommen soll. Seit der Veröffentlichung der »Suisse Secrets«, geheimer Dokumente über die Schweizer Bank Credit Suisse, ist jedoch belegt, was viele Beobachter schon vermutet hatten: Dbeiba plünderte einen vom ehemaligen Diktator Muammar al-Gaddafi aufgelegten milliardenschweren Fonds zum Bau von Infrastrukturprojekten – zusammen mit seinem Schwager und Cousin Ibrahim Dbeiba als dessen Leiter. Auch wenn Abdul Hamid Dbeiba nun absolute Transparenz verspricht und seine populistischen Ankündigungen auf einen gewissen Widerhall stoßen, schaden ihm seine politische Vergangenheit und die Bestechungsvorwürfe.

Sein Rivale Bashagha, ebenfalls aus Misrata, versucht hingegen, sich als Konsenskandidat darzustellen, ist aus Sicht vieler Beobachter jedoch einen Pakt mit dem Teufel in Form des umstrittenen Milizenführers Haftar ein­gegangen. Dieser hatte mehrfach versucht, die Macht im Land gewaltsam zu erobern, mit kräftiger Unterstützung Russlands, der Vereinigten Arabischen Emirate (VAE), Ägyptens und von Söldnern aus den Sahel-Nachbarstaaten wie dem Tschad oder Sudan. Er scheiterte bei seiner Offensive auf Tripolis 2019/2020 jedoch am Widerstand lokaler Milizen und Kämpfer in Diensten der Türkei, die Haftars Machtergreifung um jeden Preis verhindern wollten.

Bashagha stand zunächst auf der Seite der westlibyschen, von den UN unterstützten Regierung der Nationalen Übereinkunft (GNA), war von 2018 bis 2021 deren Innenminister unter Ministerpräsident Fayez al-Sarraj und galt als der Mann der Türkei in Libyen. Ende 2020 wechselte er jedoch die Seiten und versuchte, zusammen mit Haftars Verbündetem Aguila Saleh 2021 Ministerpräsident zu werden; die GNA wurde im März 2021 aufgelöst. Bei der Wahl im Rahmen des Libyschen ­Politischen Dialogforums der UN zur Beendigung des Bürgerkriegs gelang es jedoch Dbeiba, Bashagha auszubooten – mutmaßlich dank Bestechungsgeldern. Der ehemalige Kampfpilot Bashagha scheint nun darauf zu hoffen, dass er die guten Kontakte in beide Lager nutzen und feierlich nach Tripolis kommen kann, ohne dass ein bewaffneter Konflikt ausbricht.

Es bleibt abzuwarten, ob die Gegenseite einfach kampflos aufgibt und die Garantiemächte der Milizengruppen sich auf Bashagha als gemeinsamen Ministerpräsidenten einigen, allen voran die Türkei und Russland. Doch seit dem Überfall Russlands auf die Ukraine ist eine russisch-türkische Annäherung in Libyen unwahrscheinlicher ­geworden.

Völlig in den Hintergrund geraten sind nun die UN, deren Friedensplan im Dezember durch die Absage der Wahlen einen Rückschlag erhalten hat. Wegen eines Vetos Russlands ist die Leitung der Unterstützermission in Libyen seit dem plötzlichen Rücktritt von Ján Kubiš im November 2021 vakant. Russland verlangt eine ihm genehmere Leitung der Mission, da die aussichtsreiche Kandidatin Stephanie Williams Russlands Vorgehen in Libyen mehrfach kritisiert hatte. Um trotz der Blockade dennoch eine Präsenz der UN im Land zu haben, schuf UN-Generalsekretär António Guterres kurzerhand den Posten der »Sonderberaterin des UN-Generalsekretärs für Libyen«, den Williams nun bekleidet. Nach dieser Entscheidung konnte sich der UN-Sicherheitsrat nicht auf eine neue Leitung oder eine Reform der UN-Mission einigen. Russland setzte gar durch, dass das UN-Mandat in Libyen nur um drei Monate verlängert wurde, üblich wären sechs Monate. Ebenso wurden sämtliche Verweise auf Wahlen oder eine neue Regierung aus der Resolution gestrichen.

Williams’ Position ist schwach und die der UN-Mission ist gefährdet, die UN können auf die Ereignisse in Libyen nur noch reagieren. Wahrscheinlich ist das von Russland auch beabsichtigt. Nicht zuletzt war es Russlands Klient Haftar, der durch seine gescheiterte Großoffensive 2019 den libyschen Friedensplan mit Füßen trat. Dank der Absicherung durch russische Kampfflugzeuge kontrolliert Haftar noch immer die meisten Erdölfelder und könnte auf russischen Druck hin eine Ölblockade der EU beginnen. Das könnte Bemühungen von EU-Staaten erschweren, sich von der Abhängigkeit von russischem Öl und Gas zu emanzipieren.

Unklar bleibt, welche Rolle Bashagha in diesem undurchsichtigen Spiel einnimmt. Derzeit scheinen ihn Haftar und dessen Garantiemächten Russland, Ägypten und der VAE zu unterstützen. Das könnte sich aber schnell ändern, sollte Bashagha Kompromisse auf Kosten seiner Garantiemächte eingehen.
In jedem Fall sind zwei Ministerpräsidenten, die sich gegenseitig die Legitimität absprechen, eine Gefahr für den brüchigen Waffenstillstand. Ob bald wieder Kämpfe ausbrechen, das hängt eher von den Regierungen in Russland und der Türkei ab als von den Vereinten Nationen.