Der Autoritarismus ist kein Monopol östlicher Staaten

Die Krise der anderen

Disko Von Peter Korig

Der Gegensatz zwischen demokratischem Westen und autoritärem Osten ist falsch und verstellt eine Analyse des globalen Krisenprozesses. Diese würde zeigen, dass der autoritäre Politikstil auch im Westen um sich greift.

Wer derzeit in deutschsprachige Zeitungen blickt, erfährt, dass er nun entbrannt sei, der offene Konflikt zwischen den Demokratien des Westens und den Autokratien des Ostens: China und Russland stehen auf der einen, die Staaten der Nato und der Europäischen Union auf der anderen Seite. Als »Verteidiger der freien Welt« porträtierte der Spiegel vor wenigen Tagen den ­ukrainischen Präsidenten Wolodymyr Selenskyj. Der Lichtgestalt Selenskyj stehen Schurken wie Russlands Präsident Wladimir Putin oder der bela­russische Machthaber Alexander Lukaschenko gegenüber, die sich im eigenen Land nur dank starker Repressalien und vermutlich der Unbildung einer ländlichen, autoritätshörigen Bevölkerung an der Macht halten. Diese medi­ale Darstellung des Konflikts lässt sich zwar leicht karikieren, doch zeigt sich die Wirkmacht dieses Gegensatzes daran, dass er teilweise auch die Beiträge von Ernst Lohoff und Jörn Schulz prägt.

Das ist deshalb ein Problem, weil es eine Analyse der sozioökonomischen Ursachen der gegenwärtigen Krise in der Ukraine behindert. Wer in den ­frühen nuller Jahren mit Ukrainern über die Nachbarländer sprach, konnte oft Lobeshymnen über das seit 1994 von Lukaschenko regierte Belarus hören, das westliche Medien meist mit dem Zusatz »letzte Diktatur Europas« ver­sahen. Dort existiere keine Oligarchenkaste wie in Russland oder der Ukraine, Renten würden pünktlich ausgezahlt und das öffentliche Gesundheitswesen funktioniere.

Die Herausbildung autoritärer Regime in Osteuropa ist Ausdruck einer krisenhaften Entwicklung, die sich um ein bis zwei Jahrzehnte versetzt auch im Westen bemerkbar macht.

In Russland gelang es dem seit 1999 regierenden Putin gestützt auf eine Machtbasis im Sicherheitsapparat, seiner Herrschaft durch die Befriedigung der Sicherheitsbedürfnisse großer Teile der Bevölkerung und eine durch Öl- und Gasrenten finanzierte rudimentäre Sozialstaatlichkeit Rückhalt zu verschaffen. Tatsächlich war das Leben zu Beginn der nuller Jahre für viele Menschen in Belarus oder den urbanen Zentren Russlands leichter und besser als in Ländern, die formal mehr demokratische Freiheiten boten, wie der Ukraine oder Georgien. Die Gefahr, überfallen, erpresst oder bei einem Bandenkrieg getötet zu werden, war gesunken.

Bezeichnenderweise konnte die Thematisierung der sozialen Basis und der dadurch ermöglichten, westliche Beobachter oft überraschenden Stabilität der Regime zur damaligen Zeit eine akademische Ausgrenzung aus der ­offiziösen deutschen Osteuropa-Forschung zur ­Folge haben. Die Beschäftigung mit der Tatsache, dass diese Regime Bevölkerungsteilen, die sonst verelendet wären, auf Grundlage der staatlichen Kon­trolle von Produktionsmitteln und Rohstoffquellen das Überleben sicherten und das innergesellschaftliche Gewalt­niveau mit einem funktionierenden Sicherheitsapparat begrenzten, stellte offenbar zu viele Annahmen des west­lichen, demokratisch-liberalen Entwicklungsparadigmas in Frage. Resultat dieser weitgehenden Verweigerung einer kritischen Analyse ist unter anderem das verzerrte Bild, das man sich hierzulande von den »Farbenrevolutionen« macht.

Erscheinen diese den autoritären Machthabern Osteuropas als vom Westen inszenierte Coups, so werden sie im Westen – wie auch von Schulz – als Demokratiebewegungen interpretiert. Tatsächlich handelt es sich bei ihnen jedoch um Aufstände gegen die korrupten Plünderungsökonomien, die sich nach dem Zusammenbruch des realsozialistischen Modernisierungsregimes herausgebildet hatten. Als solche zielten sie eher auf die Reetablierung berechenbarer und durchsetzungsfähiger Staatlichkeit als auf die Emanzipation von diktatorischer Herrschaft.

Aus der georgischen Rosenrevolution, der erfolgreichsten der Farbenrevolu­tionen, ging 2004 das Regime Micheil Saakaschwilis hervor, unter welchem die Polizei ihre Praxis einstellte, wahllos Autofahrer anzuhalten und Bestechungsgelder zu kassieren. Jedoch wurden massenweise Kleinkriminelle und Drogenabhängige jahrelang inhaftiert; Aktivisten oppositioneller Parteien mussten damit rechnen, anhand von manipulierten Anklagen ebenfalls eingesperrt zu werden.

Dass es in Belarus und Russland nicht zu derartigen Umstürzen kam, lag nicht nur an der dortigen Repression, sondern auch daran, dass die Regime eine Zeitlang die Ziele potentieller Farbenrevolutionen aufgenommen ­haben. Dazu zählen die Bekämpfung der Alltagskorruption und der Straßenkriminalität, die pünktliche Auszahlung von Renten und Löhnen in Staatsbetrieben sowie die teilweise Entmachtung von Oligarchen in Russland. Die Fähigkeit der beiden Regime dazu ist in den vergangenen Jahren allerdings immer mehr geschwunden.

Die Protestbewegung in Belarus 2020 zeigte deutlich, dass sich eine Bevölkerungsschicht herausgebildet hatte, deren Bedürfnisse das Regime nicht mehr befriedigen konnte. Die Ursache dafür ist aber nicht mehr vorrangig in der realsozialistischen Vergangenheit zu suchen, sondern in der Weltmarktkonkurrenz, der Belarus nicht gewachsen ist. Eine wichtige Rolle spielt in dieser Konkurrenz die Volksrepublik China. Gestützt auf die staatliche Kon­trolle der Produktionsmittel und die Inwertsetzung der Arbeitskraft von Abermillionen ehemaliger Land­bewohner gelang ihr eine nachholende Moder­nisierung beispiellosen Ausmaßes. Sie ist kein brüderlicher Freund des russischen Regimes, sondern lediglich Partner eines Zweckbündnisses und gleichzeitig ein scharfer Konkurrent. Denn mit der Belt and Road Initiative, dem milliardenschweren interkontinentalen Infrastrukturprojekt einer »Neuen Seidenstraße«, ist China dabei, die Kontrolle im süd­östlichen Vorland Russlands zu übernehmen.

Nichts spricht dafür, dass Russland, geschweige denn Belarus, den ökonomischen Abstand zu China oder zum Westen aufholen wird. Auf die dadurch abnehmende ökonomische Integrationsfähigkeit reagieren die Regime in zunehmenden Maße mit Repression nach innen und, im Falle Russlands, kriegerischem Handeln nach außen.

Damit sind sie jedoch nicht allein. Die Diktatur Recep Tayyip Erdoğans in der Türkei ist von einer ähnlichen Entwicklung geprägt: Auf einen ökonomischen und politischen Aufbruch Anfang der nuller Jahre folgte 2013 mit den Protesten wegen des Istanbuler Gezi-Parks ein demokratischer Aufbruch, der gewaltsam niedergeschlagen wurde. In der Folge wurde die Opposition noch intensiver als zuvor verfolgt, die Türkei beteiligte sich als Kriegspartei in Syrien und Bergkarabach und befindet sich derzeit in einer historischen Wirtschaftskrise. Bezeichnenderweise taucht der Name des türkischen Präsidenten in den bisherigen Beiträgen zur Debatte nicht auf. Ebenfalls nicht die Namen Orbán, Kaczynski, Trump oder Johnson.

Und damit droht die Debatte fehlzugehen. Die westliche Demokratie, wie sie sich nach dem Zweiten Weltkrieg herausgebildet hatte, beruhte zu wichtigen Teilen auf einem regional unterschiedlich ausgeprägten Klassenkompromiss, der die Arbeiterklasse erfolgreich in den bürgerlichen Staat einband. Dessen Basis war neben der Bedrohung durch den Ostblock der hohe Stand der Produktivkräfte. Deren Weiterentwicklung und mit ihr die Auflösung einer großen Industriearbeiterklasse hat diesen Klassenkompromiss seither untergraben, was man unter anderem am Zerfall der klassischen linken und konservativen Parteien in Westeuropa sehen kann. Infolgedessen zersetzt sich, wie man eindrücklich am Beispiel Donald Trumps beobachten kann, die demokratische Ordnung des Westens und ein autoritärer Politikstil gewinnt an Einfluss.

Die Herausbildung autoritärer Regime in Osteuropa als Folge der Transformationskrisen nach dem Zerfall des Ostblocks erscheint damit nicht mehr als regionale, kulturell und historisch begründete Besonderheit, sondern ist Ausdruck einer krisenhaften Entwicklung, die sich um ein bis zwei Jahrzehnte versetzt auch im Westen bemerkbar macht. Eine Analyse, die die autoritären Entwicklungen in Osteuropa nicht in Beziehung zur Entwicklung der globalen kapitalistischen Verhältnisse setzt, verkennt die Gefahr, die sich aus dieser Situation ergibt. Die darauf beruhende Konstruktion eines Gegensatzes zwischen demokratischem Westen und östlichen Despotien läuft Gefahr, zur ­Legitimationsideologie für kommende Auseinandersetzungen zu verkommen. Diese werden nicht mehr allein ökonomisch oder politisch ausgetragen, wie das Beispiel Ukraine derzeit eindrücklich zeigt.