Der Rapper Hendrik Bolz hat ein Buch über seine Jugend im Osten geschrieben

Auf der Scholle

In »Nullerjahre« erzählt der Rapper Hendrik Bolz, auch bekannt als Testo, von seiner Jugend im Stralsunder Stadtteil Knieper West, vom Kiffen, Wichsen und von Neonazis.

»Rap braucht kein Abitur« heißt das Debütalbum des Berliner Rappers Bass Sultan Hengzt. Unter anderem hat diese Formulierung Testo, ein Mitglied der Gruppe Zugezogen Maskulin, im Lied »Endlich wieder Krieg« aufgegriffen. Hendrik Bolz, wie Testo bürgerlich heißt, hat allerdings Abitur und ist seit kurzem sogar Buchautor.

»Nullerjahre« heißt das Buch, in dem er sich auf dem Weg zu einem Junggesellenabschied in der alten Heimat an seine Kinder- und Jugendjahre in Stralsund erinnert, an den Drill im Kinderhort, an Verwahrlosung und unzählige Prügeleien. Auch die Musik von Bass Sultan Hengzt kommt darin vor. Doch die Parole müsste heißen: Rap braucht keine Triggerwarnung, das Buch eines Rappers aber schon – glaubt man dem Autor.

Wenn Bolz über die Abgründe der beiden Deutschlands lästert, kommt er rhetorisch in Fahrt.

Klappentext und Pressestimmen kündigen Gewalt und Exzess an, dennoch ist dem Prolog ein Hinweis vorangestellt: Gruppenbezogene Menschenfeindlichkeit werde im Buch sprachlich reproduziert, da sich anders die Welt, von der der Autor erzählt, nicht darstellen lasse; niemand solle diese Ambivalenz ohne Vorwarnung aushalten müssen. Bolz feixt über Anzugträger, die sich beim Konzert zum Mauerfalljubiläum von Zugezogen Maskulins »Endlich wieder Krieg« triggern ließen. Bei seinem auf sozialpädagogischen Jargon eingestellten Zielpublikum will er aber genau das vermeiden. Ob es sich bei der Warnung insgeheim um einen Seitenhieb auf die »Streber« und Studenten handelt, die sein Leben nur begaffen, aber nicht begreifen wollen, oder um das Ethos eines geläuterten Akademikers: Es schwächt die harten, aber smarten Pointen ab, die die Musik von Testo und seiner Band immer hörenswert machten.

Die Kernthese des Buchs lautet, dass es kein Denkfehler sei, Unterschiede zwischen jungen Menschen aus West- und Ostdeutschland nach der Wende festzustellen, vielmehr würden diese Unterschiede aktiv verleugnet. Inzwischen hat sich das geändert, wie eine Veröffentlichungswelle von Büchern Anfang 2022 und diverse Initiativen zeigen, in die auch Bolz involviert ist. Er spricht aber noch von einem »anderen Osten«: von der Rohheit, die übrigbleibt, wenn die Schwundformen der DDR-Erziehung auf eine Gesellschaftsordnung treffen, in der es eh nichts mehr zu erwarten gibt.

Anders als behauptet, hat »Nullerjahre« weniger mit einem Rap-Text zu tun als mit Biopics über Rapper. Dazu streut Bolz auch seine Lektüre der DDR- und Nachwendegeschichte nach und nach in seine Alltagserzählungen ein. Wenn er über die Abgründe der beiden Deutschlands lästert, kommt er rhetorisch in Fahrt. An Rap-Stilmittel erinnern ständige, lange Assoziationsketten, die sich aber schnell abnutzen. Gelungen sind dagegen die eingestreuten Liedtexte und Fernseheinspieler. Die Ansagen der im Buch allgegenwärtigen Böhsen Onkelz und Aggro Berlins sind stumpf, hart und trostlos. Für das, worauf sich der heutigen Testo bezieht, hat der junge Testo noch kein Ohr. Stattdessen wichst er so oft wie möglich oder lernt beim Kiffen das Fernsehprogramm auswendig.

Ohne Ton läuft die Sitcom »Malcolm mittendrin«, die Anfang der nuller Jahre gesendet wurde. In ihr geht es darum, bloß nicht als Loser aufzufallen. Hendrik ist wie Malcolm ein begabter Schüler, für den Streiche und Zerstörung nicht nur Mittel gegen die Langeweile, sondern auch gegen die leeren Versprechungen seiner wohlhabenden Umwelt sind. Aber während die US-Serie von der Auseinandersetzung mit dem Korrektiv lebt, das die Mutter Lois verkörpert, kommen Hendriks Eltern im Buch gar nicht vor. Die anderen Erwachsenen – Trainer, Penner, parfümierte Erzieherinnen – sprechen ohne Unterlass und pflanzen den Kindern den Hass auf Schwäche ein. Lehrkräfte scheitern mit ihren Strafen, die für die Schüler zur Auszeichnung werden, und mit ihren zu gut gemeinten Ratschlägen, Hendrik müsse sich die »richtigen« Freunde suchen.

Diese Idee kehrt in veränderter Fassung bei den älteren Neonazis wieder, die »schwule« und »undeutsche« Kids der Gruppe zum Fraß vorwerfen. Faschos gehören in Knieper West zum Inventar, Linke haben hier nichts zu melden. Es gibt noch die Erinnerung an die großen Demos, aber die Stimmung der sogenannten Wende kennen die Kinder gar nicht mehr. Sie sind eher fasziniert von Bordsteinkicks, von den Straßenschlachten und Brandanschlägen der Neunziger. Zwar verbieten die Freunde einander mitunter, die NPD zu wählen, die Parolen bleiben aber die gleichen. Glatze und Stiefel werden von Outfit und Musik des Deutschrap abgelöst, doch dessen Radikalität wird auch von der rechtsextremen Szene aufgegriffen.

Berlin fasziniert Hendrik, weil es noch krasser ist: »Rechtsextremismus, Gewalt- und Drogenverherrlichung, Frauen- und Homosexuellenfeindlichkeit, Antisemitismus, Islamismus, da war richtig was los. (…) Gangsterrapper sind die neuen Onkelz.« Kurze Zeit später werden diese Rapper Bolz zu harmlos und ausgerechnet Deso Dogg taugt als authentischer Verbrecher zum Vorbild, der sich später dem „Islamischen Staat“ anschließen und 2018 in Syrien sterben sollte. Mit seinen Messerstechereien, Massenschlägereien und Gangs hat das kriminelle Berlin sehr viel mit den brutalen Neunzigern in Stralsund gemein. Das Recht des Stärkeren wird in Berlin aber mit größerem subkulturellen Aufwand durchgesetzt.

Dass das Recht des Stärkeren die Rechtlosigkeit des Schwächeren bedeutet, zeigt sich aber auch in geisttötenden Arbeitsbeschaffungsmaßnahmen, bei denen Arbeitslose beispielsweise üben müssen, wie man Erdbeeren pflückt. Die Rechtfertigung dafür, von Arbeitslosigkeit geplagten Gegenden noch selbst die Schuld an ihrer Misere zu geben, liefern privat wie »staatlich finanzierte Ronny-Witze-Macher«, wie es in »Alle gegen alle« von Zugezogen Maskulin heißt. Bolz’ schizophrene Hassliebe für seine Scholle Knieper West wird durch die Anfeindungen von außen noch bestärkt. Auch nach dem Umzug in einen anderen Stadtteil kann er nur in Knieper West etwas erleben, hat keine Erwartungen, die über die Siffbuden seiner Freunde hinausgehen. Es handelt sich nicht um »sozial bedingten Schwachsinn«, wie ein von Bolz zitierter Zeitungsartikel giftet, vielmehr werden abgehängte Stadtviertel einfach abgeschrieben und sind zur Isolation und Idiotie verdammt.

Bolz ist im Buch ein Typ, der sich beweisen will, zwar ein Bully, aber kein Hassverbrecher. Doch Schwäche gilt ihm als Provokation. Respekt gibt es nur für Brutalität, je krasser man auftritt, desto netter sind die Leute. »So muss man sein«, heißt es immer wieder. Obwohl er vom Kinderhort bis zur Clique lernt, nie zu petzen und immer Rückendeckung zu geben, fällt die Hilfe für Bolz mager aus, wenn er auf überlegene Gegner trifft. Auch ihm ist es häufig egal, wie seine Freunde sich und vor allem andere ruinieren, erst später ist er froh, dass es nicht noch schlimmer gekommen ist.

Scharfe Kritik übt Bolz am betont verständnisvollen Umgang, der der rechten Szene erst Tür und Tor geöffnet hat, zum Beispiel daran, dass das Schweriner Innenministerium Morde von Rechtsextremen zu Streitereien zwischen jungen Männern umgedeutet hat. Bezogen auf die eigene Lebenswelt geht Bolz solche Kritik nicht so leicht von der Hand. Dort werden Gewalttaten zwar ungeschönt geschildert, aber die These, Gewalt sei Teil einer Notlösung aufgrund eines solch deprimierenden Aufwachsens gewesen, will nicht aufgehen. Bolz selbst nennt andere Handlungsoptionen als ständiges Zuschlagen und Nachtreten – doch anders sei es unmöglich gewesen, in seiner alten Hood zu bestehen.

Die Buch-Persona Hendrik und der sich gewissermaßen als Zeithistoriker betätigende Testo stehen in einem Spannungsverhältnis zueinander. Diese Spannung auszuhalten, ist unbedingt zu empfehlen, weil sie das Buch so lesenswert macht. Ein Buch wie »Nullerjahre« schreibt nicht, wer abgeklärt Storys aus der Provinz erfinden will. Bolz schreibt als einer, der auch Täter war. Nach seiner Ankunft erweist sich Berlin nicht als die Stadt der Gangster, sondern die der Spießer – in ihrem eigenen »Tal der Ahnungslosen«, nicht wissend, was hinter der Postkartenidylle des Hinterlands lauert. Macht er sich auch ein bisschen lustig über sie, wenn er seine Biographie bis hin zum Gebrauch von Nonsenswörtern wie »Diskursstau« in akademisches Vokabular verpackt? Neue Texte von Testo oder von Hendrik Bolz werden es zeigen, die hoffentlich wieder an Polemik zulegen.

Hendrik Bolz: Nullerjahre. Jugend in blühenden Landschaften, Kiepenheuer & Witsch, Köln 2022, 336 Seiten, 20 Euro