In Russland wird für einen Krieg einberufen, den Putin nicht beenden will

Antreten zum Krieg

In Russland hat die Einberufung von Wehrpflichtigen begonnen. Sie müssen mit einem Einsatz in der Ukraine rechnen. Trotz der mili­tärischen Misserfolge scheint Putin zu einem Waffenstillstand nicht bereit.

Viele junge Männer in Russland erwarten den Frühling derzeit mit gemischten Gefühlen, da sich ihr Land im Kriegs­zustand befindet. Vom 1. April bis Mitte Juli läuft die Einberufung Wehrpflich­tiger zur Armee. Wer an einer Universität immatrikuliert ist, wird für das laufende Jahr zurückgestellt. Mit der Vorlage entsprechender Gesundheitszeugnisse kann man versuchen, seine Untauglichkeit unter Beweis zu stellen; mit etwas Hartnäckigkeit kann es einem gelingen, den Wehrdienst zu verweigern und stattdessen Zivildienst ­abzuleisten. Nach wie vor bieten einige wenige russische Organisationen bei all diesen Fragen aktive Unterstützung, doch viele Wehrpflichtige wissen nicht, an wen sie sich wenden können, oder zögern mit solchen Schritten.

Als das russische Verteidigungsministerium Anfang März meldete, es seien Wehrpflichtige bei der sogenannten Spezialoperation in der Ukraine eingesetzt worden, dauerte es noch einige Wochen, bis die Telefone bei den Soldatenmüttern zu klingeln begannen. Während des ersten Tschetschenien-Kriegs Mitte der neunziger Jahre ­hatte sich deren Netzwerk, die Union der Komitees der Soldatenmütter Russlands, einen Namen gemacht, als der Einsatz gerade mal volljährig Gewordener noch für öffentliche Empörung sorgte. Walentina Melnikowa, die Vorsitzende des Verbandes der Soldatenmütter, sieht erneut enormen Handlungsbedarf: Wehrpflichtige könnten durchaus nach einer viermonatigen Vorbereitungszeit legal in Kampfzonen entsendet werden.

Auf oppositionellen russischen Youtube-Kanälen wird derzeit gerne über die Möglichkeiten einer Palastrevolution debattiert. Nur so könne der Krieg gestoppt werden, meinen viele.

Um die Kampfmoral in den russischen Streitkräften scheint es insgesamt schlecht bestellt zu sein. Regelmäßig verbreiten ukrainische Kanäle in ­sozialen Medien Mitschnitte von Telefongesprächen in der Ukraine eingesetzter russischer Soldaten mit ihren Angehörigen. Daraus geht hervor, dass sie über die wahre Zielsetzung ihres Einsatzes nicht informiert worden seien und als Kanonenfutter missbraucht würden. Die Armee sucht derzeit händeringend nach neuen Soldaten. So erhalten auch Männer über 27 Jahre – der Altersgrenze für die allgemeine Wehrpflicht – Vorladungen zu den Wehrersatzämtern. Verpflichtet werden können sie nicht, stattdessen wird ihnen der Vorschlag unterbreitet, sich freiwillig den Kampfeinheiten anzuschließen.

Es kommt sogar vor, dass Angehörige des Polizeiapparats einen Einsatz in der Ukraine verweigern. Bereits am 25. Februar, einen Tag nach dem Einmarsch russischer Truppen in die Ukraine, weigerte sich ein Kompaniechef einer Sonderpolizeieinheit aus Krasnodar mit seinen elf Untergebenen, von der annektierten Krim weiter in ukrainisches Gebiet vorzudringen. Auf der Halbinsel hielten sie sich seit Anfang Februar zu einem Militärmanöver auf. Alle zwölf waren früher an der gewaltsamen Auflösung von Demonstrationen für den in Haft sitzenden Oppositionellen Aleksej Nawalnyj beteiligt, dennoch setzt sich die Menschenrechtsorganisation Agora nun für die Wiedereinstellung der inzwischen entlassenen Polizisten ein – auf deren ausdrücklichen Wunsch. Das Beispiel machte Schule. Auch aus Omsk, Stawropol, Nowgorod und der Krim ersuchten Betroffene bei Agora um juristischen Beistand.

Aus der Ukraine treffen derweil grauenvolle Nachrichten ein. In der unweit von Kiew gelegenen Stadt Butscha wurden nach dem Rückzug russischer Einheiten ermordete Menschen in Zivilkleidung gefunden, bei einigen waren die Hände gefesselt. Fotojournalisten und die Menschenrechtsorganisation Human Rights Watch dokumentierten die Vorfälle. Auch hier drängen sich unweigerlich Erinnerungen an die beiden Tschetschenien-Kriege auf, die mit unfassbarer Brutalität gegen die Zivilbevölkerung geführt worden waren.

Aus Moskau wurden die Vorwürfe dementiert, die russische Seite habe in Butscha gewütet. Außenminister Sergej Lawrow sprach am Montag von einer »Fake-Attacke« gegen Russland und wies darauf hin, dass ähnliche Provokationen eine unmittelbare Bedrohung der internationalen Sicherheit darstellten. Satellitenbilder zeigen allerdings, dass die Toten in Butscha teils schon seit Wochen auf den Straßen liegen. Am Wochenende hatte das Verteidigungsministerium hingegen stolz von der Zerstörung der größten ukrainischen Ölraffinerie unweit von Odessa berichtet. Das ist ein herber Schlag gegen die Verteidigungsfähigkeit der Ukraine, die nun komplett auf Treibstofflieferungen aus dem Ausland angewiesen ist.

Zuvor hatte Verteidigungsminister Sergej Schoigu durch seine Aussage für leichte Irritationen gesorgt, dass die erste Phase der Militäroperation beendet sei und sich die Armee nun auf die Sicherung der Interessen der sogenannten Volksrepubliken im Donbass konzentriere. Vor nicht allzu langer Zeit hatte der Generalstab noch dargelegt, für das Erreichen der Kriegsziele sei die Bindung ukrainischer Truppen in ­anderen Regionen notwendig. Tatsächlich dürften die hohen Verluste für die nun erfolgte Umgruppierung der russischen Streitkräfte verantwortlich sein, die zumindest zum jetzigen Zeitpunkt ihre Positionen um Kiew und Tschernihiw räumen. Das geplante schnelle Vordringen in die Ukraine gelang auch deshalb nicht, weil die Ope­ration während des ersten Tauwetters begann, wenn schweres Kriegsgerät nur auf befestigten Straßen bewegt werden kann und somit zum leichten Ziel des Gegners wird. Nun bekommt die ukrainische Hauptstadt zumindest eine Atempause.

Am 29. März trafen sich eine ukrainische und eine russische Delegation zu Verhandlungen in Istanbul. Bei der Gesprächsrunde fiel auf, dass beide Seiten eine sachlichere Tonart als bislang anschlugen. Die ukrainische Regierung unterbreitete einige schriftliche Vorschläge, mit denen sie unter anderem zu eruieren versuchte, wie Russland auf eine etwaige Mitgliedschaft der Ukraine in der Europäischen Union ­reagieren würde. Wladimir Medinskij, Delegations­leiter aus Moskau, äußerte sich in dieser Hinsicht kompromissbereit. An der medialen Heimatfront ­kamen solch eher versöhnlichen Worte nicht gut an. Wladimir Solowjow, allgegenwärtiger Fernsehpropagandist und einer der wichtigsten Scharfmacher Putins, wetterte, Äußerungen, wie sie Medinskij tätige, führten russische Soldaten in die Irre und demoralisierten sie.

Weiter kämpfen müssen sie ohnehin, auf einen Waffenstillstand lässt sich die russische Seite derzeit nicht ein. Russland ist ganz offensichtlich nicht in der Lage, die gesamte Ukraine zu besetzen, aber solange die Armee über Kampfressourcen verfügt, wird Präsident Wladimir Putin kaum den Befehl für eine Beendigung des Angriffs geben. Zumindest mit lokal begrenzten Attacken wird Russland den Krieg wohl in die Länge ziehen.

Während die Ukraine die Bereitschaft zur militärischen Neutralität signalisiert – der eine EU-Mitgliedschaft allerdings widersprechen könnte, da mit dieser eine militärische Kooperation mit überwiegend der Nato angehörenden Staaten einhergehen könnte –, stehen zentrale Punkte aus Putins Forderungskatalog nicht zur Debatte. Die Krim als russisches Territorium ­anzuerkennen, wäre wohl nur im Rahmen einer völligen Kapitulation der Ukraine durchsetzbar. Deren Präsident Wolodymyr Selenskyj plädiert für die Verschiebung der Debatte über die Zugehörigkeit der Krim, über »Kom­promisse« solle dann, wie über den zukünftigen Status der Gebiete im Donbass, per Referendum entschieden werden. Auf eine komplette Demilitarisierung wird sich die Ukraine nach der jetzigen Erfahrung kaum einlassen, denn damit setzte sie ihre Eigenstaatlichkeit aufs Spiel.

Auf oppositionellen russischen Youtube-Kanälen wird derzeit gerne über die Möglichkeiten einer Palastrevolution debattiert. Nur so könne der Krieg ­gestoppt werden, meinen viele. Der Journalist Roman Badanin sinnierte über einen anderen Ausweg. Über seine Plattform »Projekt« veröffentlichte er Ende voriger Woche die Ergebnisse seiner Recherche über Putins Gesundheitszustand. Im Lauf der Jahre soll sich der Präsident mit unzähligen Ärzten umgeben haben, darunter auch ein Onkologe. Womöglich halten die Heilbäder in aus Hirschgeweihen gewon­nenem Blutextrakt, die Putin zur Lebensverlängerung auch anderen Quellen zufolge praktiziert, nicht das, was sich der Autokrat von ihnen verspricht.