Die Auswirkungen des Kriegs auf die Gesundheitsversorgung in der Ukraine

Krieg als Pandemiebooster

Der Krieg, die Armut und die schon lange vernachlässigte Gesundheits- und Sozialpolitik begünstigen in der Ukraine die Ausbreitung von Krankheiten. Nicht nur Sars-CoV-2 gibt Anlass zur Sorge.

Was der vielfach verwendete Begriff »humanitäre Katastrophe« im Fall des Gesundheitssystems der Ukraine und der von dort Geflohenen bedeutet, lässt sich unter anderem aus dem Wochenbericht der Weltgesundheitsorganisation (WHO) vom 7. April entnehmen: Über vier Millionen Menschen mussten aus der Ukraine fliehen, mehr als 18 Millionen sind von Kampfhandlungen bedroht. Die medizinische Versorgung ist in weiten Teilen des Landes zusammengebrochen oder wurde auf Kriegsmedizin umgestellt. Die Konsequenzen für die Versorgung kranker Menschen lassen sich erahnen, wenn man bedenkt, dass sich annähernd 1 000 Kliniken in unmittelbarer Nähe von Kampfgebieten befinden. Die Hälfte aller Apotheken hat geschlossen und zwischen dem 24. Februar und 6. April wurden 70 Krankenwagen und 274 Krankenhäuser beschossen, von Letzteren sind 13 komplett zerstört.

Die Verbreitung von Sars-CoV-2 ist in der Ukraine völlig außer Kontrolle geraten.

Die Verbreitung von Sars-CoV-2 ist in der Ukraine völlig außer Kontrolle geraten. So fiel die Zahl der im Land wöchentlich vorgenommenen PCR-Tests von 42 460 vor Beginn des Angriffs auf 1 634 täglich. Impfungen finden kaum noch statt.

In der Zeit vor dem Angriff berichtete die WHO über hohe Infektions- und Todeszahlen in der Ukraine und auch in der Woche des Kriegsbeginns wurden 240 000 Infektionen sowie 1 100 Todesfälle durch Sars-CoV-2 gemeldet. Zweifach geimpft sind circa 35 Prozent der Bevölkerung, noch etwas niedriger fällt die Quote bei den über 60jährigen aus. Eine dritte Impfdosis haben erst zwei Prozent erhalten.

Hinzu kommt, dass gerade zu Beginn der Impfkampagne im vergangenen Jahr überwiegend mit dem russischen Impfstoff Sputnik V oder mit dem aus China stammenden Vakzin des Herstellers Sinovac geimpft wurde. Beide Impfstoffe sind in der EU nicht zugelassen, unter anderem weil bis heute keine zuverlässigen Zahlen zu Wirksamkeit und Verträglichkeit vorliegen. Als relativ gut gesichert kann gelten, dass der Impfstoff aus chinesischer Produktion nur geringen Schutz gegen die Omikron-Variante von Sars-CoV-2 bietet. Auch aus diesem Grund stuft das Robert-Koch-Institut (RKI) Flüchtlinge aus der Ukraine als besonders vulnerable Personengruppe ein und empfiehlt die sofortige Impfung mit einem in der EU zugelassenen Impfstoff.

Doch nicht nur die Ausbreitung von Covid-19 wird sich in der Ukraine wohl beschleunigen, sondern auch die anderer Infektionskrankheiten, die dort seit Jahren große Probleme bereiten. Selbst die durch das Poliovirus ausgelöste Kinderlähmung, die in den meisten Ländern der Welt aufgrund kon­sequenter Impfkampagnen seit Jahrzehnten verschwunden ist, trat in der Ukraine im vergangenen Jahr auf. Die großangelegte Impfkampagne, die dagegen im Februar begonnenen wurde, musste mit Beginn des russischen Angriffs eingestellt werden.

Die WHO registrierte in den vergangenen Jahren auch sporadische Choleraausbrüche in der Ukraine. Da deren Erreger sehr lange unentdeckt bleiben können und sich die sanitären Verhältnisse im Verlauf des Kriegs für viele Menschen verschlechtern, muss spätestens Anfang des Sommers bei ansteigenden Temperaturen mit Ausbrüchen überall dort gerechnet werden, wo sauberes Wasser nicht in ausreichenden Mengen zur Verfügung steht.

Besonders die Verbreitung von HIV und damit einhergehend die der Tuberkulose (Tbc) steht seit vielen Jahren im Fokus der WHO und von Hilfsorganisationen wie Ärzte ohne Grenzen. Die hauptsächlich die Lungen befallende, durch Tröpfchen übertragbare bakterielle Erkrankung Tbc verbreitet sich besonders leicht unter HIV-Infizierten, da deren Immunantwort oft geschwächt ist. In Regionen, in denen der Zugang zu HIV-Therapien, also zu kontinuierlicher antiretroviraler Medikation, eingeschränkt ist, ist auch die Rate an Koinfektionen mit Tbc höher. Die Behandlung von Tbc ist aufwendig und langwierig, da die Patienten über Monate oder Jahre vier verschiedene Antibiotika täglich einnehmen müssen, gegebenenfalls zusätzlich zu den Medikamenten gegen HIV. Eine Überwachung der Behandlung durch erfahrene Ärztinnen ist Voraussetzung für den Therapie­erfolg.

Die WHO äußert sich daher besorgt, dass in der Ukraine bereits erzielte Fortschritte in der Behandlung und Prävention dieser Infektionskrankheiten durch den Krieg in kurzer Zeit zunichte gemacht würden. So musste zum Beispiel die NGO Ärzte ohne Grenzen ihre Tbc-Programme in Schytomyr und HIV-Programme in Sjewjerodonezk mit Beginn der Invasion einstellen. Gewarnt wird auch vor der Entwicklung resistenter Bakterien durch den Abbruch der Behandlung, denn bereits jetzt ist in der Ukraine die Verbreitung solcher Tbc-Erreger ein großes Problem.

Eine Ahnung davon, was auf die ukrainische Bevölkerung zukommt, vermitteln die Berichte von NGOs nach der Besetzung der Krim durch russische Truppen und von Teilen des Donbass durch die von ihnen unterstützten Warlords im Jahr 2014. HIV-Präventionsprogramme wurden verboten, Aktivistinnen und Mitarbeiter entsprechender Orga­nisationen wurden mit staatlicher Verfolgung bedroht. Daraufhin breiteten sich HIV und Tbc wieder stark aus. Drei Jahre später lebten in diesen Gebieten fast 40 Prozent der auf ukrainischem Territorium regis­trierten HIV-Infizierten.

Die Ursachen für die relativ starke Verbreitung von HIV und Tbc in der Ukraine sind vielfältig und lassen sich bis zum Zerfall der Sowjetunion zurückverfolgen. Der Zusammenbruch staatlicher Strukturen und damit des Gesundheitssystems sowie der wirtschaftliche Niedergang in den neunziger Jahren führten in weiten Teilen der ehemaligen Sowjetunion zu einer rasanten Verschlechterung der Lebensbedingungen. Da zugleich große Mengen Drogen über die Ukraine in andere europäische Länder gebracht wurden und außerdem Mohn als Vorstufe zur Opiumproduktion in der Ukraine ­angebaut wird, entstand in den Jahren nach dem Zerfall der Sowjetunion ein Drogenmarkt mit einer großen Anzahl Drogenabhängiger, die intravenös ­konsumierten.

Vorurteile gegen Drogenabhängige und Prostituierte, Stigmatisierung sexueller Minderheiten und Korruption verhinderten Prävention und Therapie und begünstigten eine HIV-Epidemie. In der Folgen stiegen die Infektionszahlen rasant, eine Entwicklung, die erst ab 2002 mit Hilfe zahlreicher NGOs verlangsamt werden konnte. Im Gegensatz zu Russland erreichte die Ukraine vor allem in den Jahren nach 2014 und nach dem Sturz der russlandfreundlichen Regierung eine deutliche Senkung der HIV-Infektionszahlen. Dazu trugen eine schrittweisen Entkriminalisierung von Risikogruppen, Aufklärungskampagnen,

Drogensubstitutionsprogramme, Enttabuisierung und eine Verbesserung der medizinischen Behandlung bei. Dennoch schätzte UN-Aids die Zahl mit dem HI-Virus Infizierter in der Ukraine noch im Jahr 2020 auf 260 000 – zum Vergleich: Für Deutschland gibt das RKI schätzungsweise 91 600 Infizierte an, bei annähernd doppelt so hoher Einwohnerzahl.

All diese Zahlen sollen nicht darüber hinwegtäuschen, dass die Mehrheit der an chronischen Krankheiten leidenden Ukrainer nicht von Infektionen betroffen ist. Nach Angaben der WHO bilden Bluthochdruck, Diabetes und chronische Lungenkrankheiten wie Asthma den Hauptteil der Krankheitslast. Die Ukraine unterscheidet sich darin nicht wesentlich von anderen europäischen Ländern. Aber auch hier besteht wegen des Kriegs die Gefahr einer akuten ­Unterversorgung.

Aus diesen Gründen empfiehlt das RKI, wenig überraschend, die Unterbringung von Flüchtlingen in Wohnungen als effektiven Infektionsschutz ­sowie deren gute, kontinuierliche und niedrigschwellige medizinische Versorgung. Man könnte erwarten, dass aus diesem weit über 100 Jahre alten epidemiologischen Basiswissen inzwischen Konsequenzen gezogen worden wären, und sei es erst seit der Ankunft syrischer Flüchtlinge ab 2015. Doch ein Blick auf die Realität lässt daran Zweifel aufkommen. In Hamburg beispiels­weise sollen etwa 2 000 Flüchtlinge in den Messehallen unterkommen. Die ­medizinische Versorgung soll durch ehrenamtliche Helfer des Roten Kreuzes erfolgen.