Im Krieg appelliert die ukrainische Regierung an die Verbundenheit aus sowjetischer Zeit

Kampf den Faschisten

Kommentar Von Stanislav Serhiienko

Wegen des Kriegs verändert sich auch die ukrainische Erinnerungspolitik. Waren die vergangenen Jahre von einer Abkehr von sowjetischen Mythen mit Bezug zum Zweiten Weltkrieg geprägt, wird nun versucht, diese gegen Russland in Anschlag zu bringen.

Um die Menschen in Russland zur Unterstützung des Angriffskriegs gegen die Ukraine zu bewegen, beschwört Präsident Wladimir Putin den Großen Vaterländischen Krieg herauf und stellt die gegenwär­tigen Ereignisse in einen historischen Zusammenhang zu diesem. Daher stammen sowohl die Forderungen nach der »Entnazifizierung« und »Entmilitarisierung« der Ukraine als auch der Vorwurf des Völkermords an der Bevölkerung des ostukrainischen Donbass.

Die ukrainische Erinnerungspolitik im Krieg wirkt dagegen improvisiert und schlecht durchdacht. Aber man sieht schon jetzt eine erstaunliche Entwicklung: Die staatliche Erinnerungspolitik in der Post-Maidan-Ukraine, also nach 2014, basierte zum einen darauf, sowjetische Mythen in Frage zu stellen, und zum anderen auf dem Bild der Ukraine als einem Land, das sich historisch im Kampf gegen zwei Totalitarismen befand. Damit verbunden war eine affirmative Bezugnahme auf die ultranationalistische Organisation Ukrainischer Nationalisten (OUN) und ihren militärischen Flügel, die Aufständische Armee der Ukraine (UPA). Die schwarzroten Fahnen der UPA, nach 2014 ein populäres Symbol bei nationalistisch gesinnten Ukrainern, sind mittlerweile jedoch so gut wie verschwunden. Selbst der gegenwärtige Kampf hinter den feindlichen Linien wird nicht mit dem der UPA im Zweiten Weltkrieg verglichen. Nur der indirekte Hinweis in dem Slogan »Slawa Ukrajini! Herojam ­Slawa!« (Ruhm der Ukraine! Ruhm den Helden!) bleibt, denn diese Parole der OUN ist seit 2018 offizieller Gruß der ukrainischen Streitkräfte.

Stattdessen werden im Versuch, die Menschen in der Ukraine, aber auch in Belarus und Russland für den Widerstand zu gewinnen, dieselben Geschichtsbilder bemüht, die auch der Kreml verwendet. Der ukrainische Präsident Wolodymyr Selenskyj vergleicht Putins Regime mit dem der Nazis und spricht von einem Völkermord der »Besatzer« an den Ukrainern. In seiner Rede vor dem israelischen Parlament Ende März zog er ausdrücklich Parallelen zwischen dem Schicksal der Jüdinnen und Juden im Zweiten Weltkrieg und dem der Ukrainer gegenwärtig. Die Rhetorik der ukrainischen Regierung kehrt die Behauptungen aus dem Kreml einfach um und richtet sie gegen ihre Urheber. Auch in der ukrainischen Bevölkerung ist die Gleichsetzung der Brutalität der deutschen Besatzung mit der der russischen weitverbreitet.

Selenskyj beschwor zu Beginn des Kriegs die Ukrainer, Russen und Belarussen einende Erfahrung des Zweiten Weltkriegs. In einer seiner Reden bezeichnete Selenskyj den gegenwärtigen Krieg als »vaterländischen Krieg«. Witalij Kim, der Verwaltungsleiter der umkämpften Region Mykolajiw, der wegen seines Auftretens in den ­sozialen Medien landesweit bekannt wurde, erinnerte an die sowjetischen Kriegshelden, die gegen die Nazis für die Befreiung Mykolajiws gekämpft hatten. Eine solche Rhetorik steht im Gegensatz zu Äußerungen des ukrainischen Botschafters in Deutschland, Andrij Melnyk, der weiterhin eine antisowjetische nationalistische Ideologie propagiert und den Anführer der OUN, Stepan Bandera, verehrt.

Im Krieg ist die bisherige offizielle Erinnerungspolitik der Ukraine zusammengebrochen. Die Kämpfe finden nun in Regionen statt, in denen die Verherrlichung der OUN und der UPA historisch kaum Unterstützung fand. Selenskyj versucht, eine möglichst einigende historische Rhetorik zu verwenden, die alle ukrainischen Bürger zum Kampf mobilisiert. In gewisser Weise ist es eine Rückkehr zum Populismus seines Präsidentschaftswahlkampfs vor drei Jahren und der ersten Monate seiner Amtszeit, als er versuchte, die gesellschaftlich polarisierenden geschichtspolitischen Konflikte zu überwinden.
Es ist schwer zu sagen, ob das von Dauer sein wird oder ob im Laufe des Kriegs oder nach dem Krieg die nationalistische Erinnerungspolitik zurückkehren wird. Sie könnte von dem Hass profitieren, den der Krieg nährt. Nach dem Scheitern der Antikriegspro­teste in Russland und der Erkenntnis, dass der Krieg bei russischen Bürgern und Bürgerinnen zumindest passive Unterstützung findet, nach den Bildern von Mariupol, Butscha oder Kramatorsk, wächst unter Ukrainern der Hass auf Russen. So entsteht eine Nachfrage nach einer Historiographie, die die Geschichte der Ukraine und Russlands als vollständig separat voneinander schildert. Die Nationalisten bieten eben diese an.

Stanislav Serhiienko ist ukrainischer Historiker. Er wuchs in Krywyj Rih auf, studierte Geschichte in Kiew und Berlin und lebt seit 2017 in Deutschland.