Finnlands entscheidet in Bälde über ein Beitrittsgesuch zur Nato

Abkehr von der Neutralität

Der ukrainische Präsident Wolodymyr Selenskyj sprach in einer Videoübertragung zum finnischen Parlament. Eine Entscheidung über ein Gesuch Finnlands, der Nato beizutreten, wird in Bälde erwartet.

Dass ein ausländisches Staatsoberhaupt dem finnischen Parlament (Eduskunta) eine Videobotschaft übermittelt, war eine Premiere in Helsinki. Die Rede des ukrainischen Präsidenten Wolodymyr Selenskyj am Freitag voriger Woche verfolgten die 200 Abgeordneten gemeinsam mit dem finnischen Präsidenten Sauli Niinistö, der ukrainischen Botschafterin und dem deutschen Bundespräsidenten Frank-Walter Steinmeier.

Der äußerte sich zur Ukraine-Politik zurückhaltend, sagte aber im Hin­blick auf einen möglichen Nato-Beitritt Finnlands: »Welche Entscheidung Finnland auch immer fällt: Ihr könnt jedenfalls des deutschen Rückhalts sicher sein.« Das Land zieht ebenso wie sein Nachbar Schweden ein offizielles Ersuchen um Aufnahme in die Nato noch in diesem Jahr in Betracht. Die beiden Länder sind bereits seit längerem enge Partner der Nato, ihre Streitkräfte und Waffensysteme sind mit denen der Nato interoperabel und die Zusammenarbeit wurde in zahlreichen Großmanövern geübt. Seit Jahren beteiligt sich die Marine beider Staaten etwa an den Baltops genannten regelmäßig stattfindenden Nato-Manövern in der Ostsee. Am Nato-Manöver Cold Response in Norwegen wiederum nahmen im März und April dieses Jahres fast 700 Soldaten aus Finnland teil.

Ein Beitritt Finnlands und Schwedens zur Nato hätte »ernsthafte militärische und politische Konsequenzen«, sagte der Leiter der Europa-Abteilung des russischen Außenministeriums Mitte März.

Nach dem Beginn des russischen Angriffskriegs in der Ukraine gab es in schwedischen und finnischen Umfragen Zustimmungswerte für einen ­Nato-Beitritt in Rekordhöhe. Bei einer Umfrage des Meinungsforschungs­instituts Novus sprachen sich in Schweden 47 Prozent für einen Beitritt aus, sogar 63 Prozent befürworten dies im Fall, dass sich auch Finnland dem Mi­litärbündnis anschließe. Dort hat der Nato-Beitritt mittlerweile die Unterstützung von mehr als 60 Prozent der Bevölkerung. Die neue Lage quittierte die russische Regierung bereits mit einer Drohung. Ein Beitritt Finnlands und Schwedens zur Nato hätte »ernsthafte militärische und politische Konsequenzen«, sagte Sergei Beljajew, Leiter der Europa-Abteilung des russischen Außenministeriums, Mitte März.

Ende Juni soll ein Nato-Gipfel in Madrid stattfinden, das Nato-Beitrittsersuchen Finnlands wird wahrscheinlich noch vor Mittsommer, also vor dem 21. Juni, gestellt werden. Im Land ist die herrschende Anspannung erkennbar. Seit Wochen verzeichnen zum Beispiel Elektronikgeschäfte Rekordumsätze bei batteriebetriebenen Radios. Diese gehören ebenso wie Konserven, Medikamente und Taschenlampen zur empfohlenen Ausstattung für Privathaushalte in Krisenzeiten. Finnlands Mitte-links-Regierung hat vorige Woche zwei Milliarden Euro zusätzlich für Militär und Grenzschutz bereitgestellt.

Die Entscheidung für den teuersten Waffenkauf in der finnischen Geschichte war bereits im Dezember gefallen. Die Regierung bestellte 65 US-amerikanische F-35-Mehrzweckkampfflugzeuge für etwa zehn Milliarden US-Dollar, die in den kommenden Jahren ausgeliefert werden ­sollen – der gesamte Staatshaushalt ­Finnlands beträgt nur ungefähr 65 Milli­arden Euro pro Jahr. Der finnische Präsident Sauli Niinistö war Anfang März in Washington zu Gast, nach einem Gespräch mit US-Präsident Joe Biden wurde eine noch engere sicherheitspolitische Zusammenarbeit angekündigt.

Finnland ist für die westliche Sicherheitspolitik vor allem wegen der 1 300 Kilometer langen Grenze zu Russland relevant. Ein Kommentar in der wichtigsten Tageszeitung des Landes, Helsingin Sanomat, forderte vor Selenskyjs Ansprache, Finnland solle auch im eigenen Interesse mehr Waffen an die Ukraine liefern: »Jeder von den Ukrainern zerstörte Panzer und jeder heruntergeholte Kampfjet stärkt Finnlands Sicherheit.« Selenskyj zog in seiner gut 15minütigen Rede Parallelen zum sowjetisch-finnischen Winterkrieg von 1939/1940: »Genau wie Finnland vor 83 Jahren hat die Ukraine den Mut, sich gegen einen Gegner zu verteidigen, der zahlenmäßig so überlegen ist.«

Überschattet wurde Selenskyjs Ansprache von Hackerangriffen auf die Homepages des finnischen Außen- und Verteidigungsministeriums. Zudem verletzte nach Angaben des Verteidigungsministeriums an diesem Tag ein russisches Regierungsflugzeug den finnischen Luftraum – der erste Vorfall dieser Art seit Juli 2020.