Das Neun-Euro-Ticket und die von der Bundesregierung beschworene »Verkehrswende«

Das große Experiment für nur neun Euro

Die Bundesregierung plant ein Neun-Euro-Ticket für den öffentlichen Personennahverkehr, um den privaten Kraftstoffverbrauch zu senken. Doch lokale Experimente mit Preissenkungen konnten in der Vergan­genheit den individuellen Autoverkehr nicht beträchtlich verringern.

Ab dem 1. Juni soll es für drei Monate erhältlich sein: das Neun-Euro-Ticket. Diesen Betrag sollen dann bundesweit Monatstickets für Busse, Straßenbahnen, S- und U-Bahnen sowie Züge des Regionalverkehrs kosten. Damit möchte die Bundesregierung Pendler entlasten, die mit steigenden Benzinpreisen besonders zu kämpfen haben. Allerdings müssten Bundestag und Bundesrat dem noch zustimmen. Mit dem Ticket soll auch ein Anreiz gesetzt werden, den öffentlichen Nahverkehr anstelle des Autos zu nutzen, um den Kraftstoffverbrauch in Deutschland zu reduzieren – freilich weniger dem Klimaschutz zuliebe, als vielmehr um für ein mögliches Ölembargo gegen Russland gewappnet zu sein.

Das erinnert an die vier autofreien Sonntage, die neben zeitweiligen Tempolimits in der BRD und Westberlin als Reaktion auf die Ölkrise 1973 beschlossen worden waren. Damals hatte die Organisation der arabischen erdölexportierenden Staaten (OAPEC) während des Yom-Kippur-Kriegs die Ölförderung gedrosselt, was zu einem Preisanstieg bei Erdöl von 70 Prozent führte. So sollten die westlichen Staaten unter Druck gesetzt werden, ihre Unterstützung für Israel einzustellen. Während damals mit Fahrverboten an Feiertagen reagiert wurde, soll diesmal der motorisierte Berufsverkehr, der den größten Teil des privaten Kraftstoffverbrauchs in Deutschland ausmacht, durch eine Vergünstigung des öffentlichen Personennahverkehrs (ÖPNV) ­reduziert werden.

Das Vorhaben stößt nicht auf ungeteilte Begeisterung. Der Verkehrsclub Deutschland (VCD), der sich als ökologisches Gegenstück zum Allgemeinen Deutschen Automobil-Club (ADAC) versteht, kritisiert, ein auf drei Monate ­beschränktes Angebot sei zu wenig, zumal vielerorts die notwendigen Bus- und Bahnlinien fehlten, um Menschen dazu zu bringen, dauerhaft vom PKW auf den ÖPNV umzusteigen. Der Verband Deutscher Verkehrsunternehmen (VDV) merkt an, dass es in Bussen und Zügen voll werden könne, weil für die geschätzt 30 Millionen Nutzerinnen und Nutzer des Tickets nicht genügend Transportmittel zur Verfügung stünden.

Der massenhafte Besitz von PKW trug zur Auflösung der klassischen Arbeiterquartiere in den Städten bei, Arbeiter mussten nicht mehr in der Nähe der sie beschäftigenden Fabrik leben.

Der VDV-Hauptgeschäftsführer Oliver Wolff sagte dazu: »Es ist ein großes Experiment.« Ein Experiment, dessen Ausgang allerdings vorhersagbar ist. Die Idee eines kostenlosen oder stark verbilligten ÖPNV wird in Deutschland unter Fachleuten und politisch Interessierten seit den Auseinandersetzungen um Fahrpreiserhöhungen in den sechziger und siebziger Jahren diskutiert. Diese Debatte gewann in den neunziger Jahren an Breite, als sich allmählich die Erkenntnis durchsetzte, dass der Verbrauch fossiler Kraftstoffe aus ökologischen Gründen unbedingt reduziert werden müsse. Zuletzt wurde darüber 2018 diskutiert, als Deutschland Strafzahlungen wegen Verstößen gegen die in der EU geltenden Grenzwerte für Luftschadstoffe drohten. In diesen Jahren kam es sowohl in Deutschland als auch im Ausland immer wieder zu Modellprojekten, in denen auf kommunaler Ebene erprobt wurde, welche Effekte ein kostenloser ÖPNV hätte.

In Deutschland wird immer wieder auf das Beispiel Templin verwiesen, eine nördlich von Berlin in der Uckermark gelegene Kleinstadt. Als sich nach dem Beitritt der DDR zur BRD die Zahl der zugelassenen privaten Kraftfahrzeuge rapide erhöhte, hatte das Auswirkungen auf die Luftqualität in dem Städtchen, das sich als Kurort etablieren wollte. Um dem entgegenzuwirken, beschloss Templin 1998, für den kommunalen ÖPNV keine Fahrpreise mehr zu erheben. Das örtliche Busnetz wurde dar­aufhin viel stärker genutzt, wobei Umfragen zufolge 35 bis 50 Prozent Passagiere sonst zu Fuß und weitere 30 bis 40 Prozent mit dem Fahrrad unterwegs gewesen wären und nur zehn bis 20 Prozent vom Auto auf den ÖPNV umstiegen. Letztlich wurde das Projekt 2002 beendet, weil es zu teuer war, die gestiegene Nachfrage zu bedienen.

Auch Versuche andernorts belegen die Erfahrung, dass kostenloser ÖPNV zwar vermehrt genutzt wird, dies aber den Autoverkehr geringfügig vermindert. Fahrpreise wirken sich vor allem sozial aus. Das System des Verkehrs ist zu komplex, als dass sich seine Verteilung auf die verschiedenen Verkehrsmittel allein durch die Preisgestaltung des ÖPNV grundlegend verändern ließe. Dass der langfristige und massenhafte Umstieg vom PKW auf den ÖPNV eine im Wortsinne historische Wende wäre, zeigt der Blick auf die Geschichte, wie die Deutschen ins Auto kamen.

Maschinell angetriebener Verkehr war in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts vor allem der ÖPNV. Eisenbahn, Straßenbahnen und Busse transportierten die Menschen in und zwischen den Städten. Individueller Verkehr fand zu Fuß und oder per Fahrrad statt. Automobile waren schlicht zu teuer, als dass sie massenhaft nachgefragt worden wären. Das sollte sich ab den dreißiger Jahren ändern. Die Nationalsozialisten betrachteten das Auto als Grundlage eines weiteren Industrialisierungsschubs Deutschlands und verbanden dieses Vorhaben sowohl mit den Kriegsvorbereitungen als auch mit dem ideologischen Projekt der Volksgemeinschaft. Der Autobahnbau, die Gründung Wolfsburgs, der »Stadt des KdF-Wagens«, und der Konzern Volkswagen stehen bis heute emblematisch dafür. Doch auch wenn diese Form spezifisch deutsch ist – auf der Basis des Verbrennungsmotors entwickelte sich in dieser Zeit in allen westlichen Staaten der nächste Zyklus der Industrialisierung, der nach dem Zweiten Weltkrieg Produktion und Verkehr erfassen sollte.

Ab den Sechzigern wurde der PKW zum Leitprodukt kapitalistischer Industriestaaten und gleichzeitig zum Symbol des Massenwohlstands, der auch großen Teilen der Arbeiterklasse eine Teilhabe an den industriellen Errungenschaften der Zeit ermöglichte. Das veränderte das Aussehen von Städten und Landschaften grundlegend. Eisenbahn- und Straßenbahnlinien wurden eingestellt und abgebaut. In Berlin zum Beispiel ist am Straßenbahnnetz bis heute ablesbar, wo die Grenze zwischen Ost- und Westberlin verlief. In der Stadtplanung Westdeutschlands galt das Ideal der »autogerechten« Stadt, Fernverkehr sollte maßgeblich über Autobahnen erfolgen. Der massenhafte Besitz von PKW trug auch zur Auflösung der klassischen Arbeiterquartiere in den Städten bei. Arbeiter mussten nicht mehr in der Nähe der sie beschäftigenden Fabrik leben, in Verbindung mit steigenden Löhnen wurde der Umzug ins Einfamilienhaus am Stadtrand zur Option.

Wie grundlegend diese Veränderung war, lässt sich beim Vergleich mit Städten des Ostblocks erkennen, in denen aus ökonomischen Gründen diese individuelle Massenmotorisierung nicht möglich war. In dem dokumentarischen Roman »Kinder von Hoy« beschreibt Grit Lemke Aufstieg und Niedergang der ostdeutschen Industriestadt Hoyerswerda und wie in den Achtzigern der Takt der Schichtbusse den Alltag dort strukturierte. In der Bundesrepublik hingegen wurde der private PKW sowohl Mittel als auch Ausdruck der Individualisierung. Gerade für Angehörige der unteren Mittelschicht ermöglichte er tatsächlich ein erhöhtes Maß an individueller Freiheit.

Ideologisch aufgeladen findet sich das in der Parole »Freie Fahrt für freie Bürger« wieder, mit der der ADAC 1974 erfolgreich gegen die Einführung eines Tempolimits auf deutschen Autobahnen vorging. Rückhalt findet diese Idee in der wirtschaftlichen und politischen Stärke der deutschen Autoindustrie. Noch jede Bundes- oder Landes­regierung hat sich bemüht, den hiesigen Binnenmarkt für sie zuzurichten, erinnert sei nur an die Abwrackprämie von 2009, mit der die Bundesregierung den Kauf von Neuwagen subventionierte, um die Automobilindustrie zu retten. Die aktuell ebenfalls geplante Senkung der Energiesteuer auf Kraftfahrstoffe, der sogenannte »Tankrabatt«, widerspricht zwar dem Ziel der Minimierung des Spritverbrauchs in Deutschland, dient aber ebenso dazu, den motorisierten Individualverkehr zu stützen. Die Einschränkung der Lebensqualität und die ökologischen Schäden, die sich aus dem Autoverkehr ergeben, lassen allerdings eine Umkehr geboten erscheinen, für die das Verhältnis von Arbeit und Wohnen ­sowie die Gestaltung von Städten und Landschaften völlig neu zu ordnen wären. Doch um das zu vermeiden, versuchen die politisch Verantwortlichen, mit der umfangreichen staatlichen Förderung des Umstiegs auf E-Mobilität Deutschland als Standort der PKW-­Produktion und damit auch den motorisierten Individualverkehr als Grund­lage des alltäglichen Personenbeförderung zu retten. Vor diesem Hintergrund wird es das Neun-Euro-Ticket vielen Menschen mit wenig Geld ermöglichen, mal weitere Ausflüge zu machen. Einen substantiellen Beitrag zu ­einer wie auch immer gearteten Verkehrswende stellt es nicht dar.