Emmanuel Carrères Autofiktion »Yoga« hat in Frankreich eine juristische Debatte ausgelöst

Die Wahrheit liegt unter der Yoga-Matte

In seinem autobiographischen Roman »Yoga« erzählt der französische Autor Emmanuel Carrère von einer Lebenskrise und wie er sie bewältigte.

Emmanuel Carrère gehört seit Jahren zum Kreis der Autoren, über ­deren Bücher bereits vor ihrer Veröffentlichung viel und verkaufsfördernd spekuliert wird. Carrère wird regelmäßig mit Literaturpreisen ­bedacht und gilt seit Jahren als Anwärter auf den Prix Goncourt, die Auszeichnung für den besten französischsprachigen Roman des Jahres. Als vor zwei Jahren sein Roman »Yoga« (jetzt in deutscher Übersetzung bei Matthes & Seitz) erschien, debattierte das französische Feuilleton ausgiebig darüber, inwiefern der Autor darin die Trennung von seiner Ehefrau Hélène Devynck ­verarbeitet habe. Die Debatte drehte sich um juristische und literarische Fragen.

Devynck und Carrère hatten in ihrem Ehevertrag vereinbart, dass er nach der Scheidung nicht mehr über seine ehemalige Gattin schreiben dürfe. Genau das aber hatte Carrère in einer ersten Fassung offensichtlich getan. Aber auch mit der veröffentlichten Version war Devynck unzufrieden. In einem Beitrag für die Online-Ausgabe der französischen Vanity Fair schrieb sie, Carrère habe die Dinge zu seinen Gunsten geschönt: »Diese Geschichte, die als autobiographisch präsentiert wird, ist falsch, arrangiert, um dem Bild des Autors zu dienen, und hat nichts mit dem zu tun, was meine Familie und ich zusammen mit ihm durchgemacht haben.«

Carrère beharrt darauf, dass sein Schreiben nicht fiktional sei, sondern höchste Aufrichtigkeit zum Ziel habe. Die Bezeichnung »Roman« für sein Buch lehnt er deshalb ab.

Carrère beharrt dagegen darauf, dass sein Schreiben nicht fiktional sei, sondern höchste Aufrichtigkeit zum Ziel habe. Die Bezeichnung »Roman« für sein Buch lehnt er deshalb ab. Kritiker fragten daraufhin, ob die Nominierung von »Yoga« für den Prix Goncourt unter diesen Voraussetzungen überhaupt rechtens sei. Der Preis sei ausdrücklich fiktionaler ­Literatur vorbehalten. Wie der Erzähler gleich zu Beginn des ersten Ka­pitels schildert, geht es ihm darum, einen »Bericht« zu verfassen, »ein heiteres, feinsinniges Büchlein über Yoga«. Dazu reist er zu einem zehntägigen Vipassana-Retreat zwei Autostunden von Paris entfernt, um dort möglichst reglos auf seinem Zafu, dem traditionellen Meditationskissen, zu sitzen und seinen Atem zu spüren. Yoga, das er weitgehend mit Meditation gleichsetzt und von unter westlichen Hippies und Hipstern verbreiteten Spielarten modisch-esoterischer Gymnastik unterschieden wissen will, praktiziert er zu diesem Zeitpunkt seit 20 Jahren. Er bezeichnet es als erlernbare Form und Technik, die es ermöglichen soll, den ewigen Schmerzen, die das Leben mit sich bringt, wenn schon nicht zu entgehen, so doch wenigstens etwas souveräner gegenüberzustehen.

Hierfür entwickelt Carrère eine Vielzahl an Definitionen davon, was Meditieren sein soll, und verbindet sie essayistisch flott mit seinem Wissen um tradierte Vorstellungen fernöstlicher Denkschulen, Gedanken Nietzsches und Ideen aus Erzählungen von Philip K. Dick oder David-Cronenberg-Filmen. Auch seine Erinnerungen an »Tim und Struppi«-Episoden und die eigene Biographie fließen in die Schilderungen ein. Das geschieht unterhaltend und mit einigem Understatement, so dass man sich gern darauf einlässt, auch wenn immer mal die Frage auftaucht, wohin das Unterfangen eigentlich führen soll.

Genau das, so sagt Carrère im Text, sei auch ihm lange Zeit nicht klar gewesen; wie es seiner Arbeitsweise entspreche, habe er sich aber darauf eingelassen, den Überraschungen des Schreibvorgangs zu folgen, und darauf vertraut, dass der Bericht die ihm entsprechende Form schon finden werde. Und tatsächlich entfaltet sie sich schließlich durch eine Reihe von Zumutungen und Verletzungen, die sich durch das Einbrechen der Katastrophen in den Nahbereich des Autors ergeben und dabei Ton und Richtung des Textes verändern.

Während der erste Teil des Buchs bei aller inneren Widersprüchlichkeit vor allem die gelingende Seite des Lebens beschreibt, folgen im zweiten und dritten manifester Terror und Wahnsinn. In Paris ereignet sich der islamistische Anschlag auf die Redaktion von Charlie Hebdo, bei der auch Carrères Freund, der Wirtschaftswissenschaftler und Autor Bernard Maris, getötet wird. Carrère verlässt sein Yoga-Refugium, um in Paris die Trauerrede zu halten. Damit nicht genug, muss er die Trennung von seiner Ehefrau bewältigen. Dieser Verlust bildet die Leerstelle im Zentrum des Berichts, über den er laut Vertrag nicht – offen und ­explizit – schreiben darf. Zudem verschwindet die Frau, mit der er eine leidenschaftliche Affäre hatte, aus seinem Leben. Die Geliebte, die wohl mit ein Grund für die Trennung ­gewesen ist, zieht es im Wortsinn auf die andere Seite der Welt. Nach einem Totalzusammenbruch mit Todeswunsch wird der Erzähler in die Psychiatrie eingewiesen, wo sich sein Zustand noch verschlimmert. Die Diagnose lautet bipolare Störung. Er wird einer Elektrokonvulsionstherapie unterzogen, die selbst unter Vollnarkose für ihn der dunkelste Horrortrip ist, der sich we­der erinnern noch in Worte fassen lässt. Im vierten und fünften Teil ­seines Berichts schildert er den mühsamen Weg zurück in ein beschädigtes Leben, in dem Yoga weiterhin eine Rolle spielt, aber an Bedeutung verloren hat.

Autofiktionales Schreiben erfuhr mit den Lebensberichten von Annie Ernaux, Édouard Louis oder Karl Ove Knausgård und den Neuauflagen der Bücher von Tove Ditlevsen auf dem Buchmarkt viel Aufmerksamkeit. Wahrhaftigkeit gilt als wichtiges Kriterium gelungener Literatur. Ob Texte überzeugen und gefallen, hängt so nicht zuletzt davon ab, ob es dem Autor gelingt, eine Gefolgschaft für sich einzunehmen, statt als narzisstischer Unsympath zu erscheinen. Ein eher lakonisches Verhältnis zur eigenen Biographie pflegt dagegen Houellebecq, mit dem Carrère oftmals verglichen wird.

Schreiben, Carrère zufolge ein andauerndes »Sätze-Bauen«, bedeutet auch, dass man im Ringen um Ausdruck immer wieder entscheiden muss, was gesagt und was – über sich selbst und andere – preisgegeben werden kann. Gerade da, wo es in »Yoga« persönlich wird, lässt der Verfasser Taktgefühl vermissen. Wenn er über seine Familie schreibt oder über seine Arbeit mit Geflüchteten, verfällt er immer wieder in unbeholfene Egozentrik. Angesichts des Elends um ihn herum schämt er sich, wie er einräumt, für seine Luxusprobleme. Dieses Eingeständnis verstärkt beim Leser vor allem das Mitleid, das man mit dem narzisstischen Autor wegen seiner leidvollen Erfahrungen hat. Oft scheint es so, dass Carrère das Leid anderer vor allem benötigt, um sein eigenes auszustellen. Trotz der weithin überzeugenden Form und sehr persönlicher Einsichten in Krankheit und Schrecken der Gegenwart wirkt das Beharren auf wahrem Erleben und Aufrichtigkeit in diesem Buch seltsam rechthaberisch.

Emmanuel Carrère: Yoga. Aus dem ­Französischen von Claudia Hamm. ­Matthes & Seitz, Berlin 2022, 341 Seiten, 25 Euro