Ein politisch geschwächter Macron bleibt Frankreichs Präsident

Hauptsache nicht Le Pen

Die Rechtsextreme Marine Le Pen ist bei der Stichwahl um die französische Präsidentschaft dem Amtsinhaber Emmanuel Macron unterlegen. Sie erlangte aber so viele Stimmen wie bei keiner Kandidatur zuvor.

Tote reden bekanntlich nicht. Aber manchmal werden sie gewählt, wie bei der zweiten Runde der Präsidentschaftswahl am Sonntag in Frankreich. Zwar reichte es jeweils nicht, um in den Élysée-Palast einzuziehen, doch Achtungserfolge erzielten zum Beispiel Napoleon Bonaparte und der 2019 verstorbene frühere Staatspräsident Jacques Chirac, deren Namen einige Wählerinnen und Wähler auf ihre Stimmzettel schrieben. Auch Pokémon und Micky Maus sowie die Fußballstars Zinédine Zidane und Kylian Mbappé heimsten so einige Stimmen ein. Die beiden Letztgenannten sind immerhin lebende Personen.

Der Anteil der ungültigen Stimmen betrug in der Stichwahl dem Innenministerium zufolge 8,6 Prozent, der der Stimmenthaltung 28 Prozent. Das ergibt zusammen einen neuen Rekordwert an Wahlverweigerung in der Stichwahl zwischen dem wirtschaftsliberalen Amtsinhaber Emmanuel Macron und der Neofaschistin Marine Le Pen.

Der ehemalige Parteikommunist Pierre Lévy und der ehemalige Anarchist Michel Onfray fabulieren in Hinblick auf Le Pens Wähler bereits vom »Block der Volkskräfte gegen den elitären Block«.

Dennoch hatte der Linkspopulist Jean-Luc Mélenchon unrecht, als er am Sonntagabend behauptete, Macron sei der demokratisch am schwächsten legitimierte Staatspräsident in der Geschichte der 1958 begründeten Fünften Republik. 1969 lag die Stimmenthaltung noch höher, bei über 31 Prozent. Damals stand der Postgaullist Georges Pompidou dem Mitte-rechts-Politiker Alain Poher in der Stichwahl gegenüber, beide vertraten also sehr ähnliche Programme. Allerdings war der Anteil ungültiger Stimmen mit 6,4 Prozent niedriger als heute.

Erstmals hatte sich Le Pen, die Kandidatin des Rassemblement national (RN), echte Chancen auf die Präsidentschaft ausgerechnet. Die frühesten demoskopischen Erhebungen zur Stichwahl, an den ersten beiden Tagen nach dem ersten Wahldurchgang vom 10. April, prognostizierten ihr bis zu 49 Prozent der Stimmen gegenüber 51 Prozent für Macron. In den beiden ­Wochen zwischen den Wahlgängen gewann Macron jedoch an Zustimmung und siegte nun mit 58,5 Prozent der Stimmen.

Völlig sicher konnte man sich allerdings bis zuletzt nicht sein. In Brüsseler EU-Kreisen, im französischen Arbeitgebermilieu und anderswo wurde bereits ernsthaft darüber diskutiert, wie man mit einem Wahlsieg der Rechtsextremen umgehen solle. Auch wenn Le Pen letztlich klar unterlag, hat sie über ihre bislang drei Präsidentschaftskandidaturen hinweg kontinuierlich Stimmen hinzugewonnen: 2012 schied sie mit 17,9 Prozent der Stimmen als Drittplatzierte vor der Stichwahl aus, 2017 scheiterte sie als Zweitplatzierte des ersten Wahlgangs mit 33,9 Prozent in der Stichwahl. In diesem Jahr erhielt sie 41,5 Prozent. Bekam Macron vor fünf Jahren insgesamt 10,1 Millionen Stimmen mehr als Le Pen, waren es dieses Mal nur noch 5,4 Millionen.

Neben Faktoren wie der Mobilisierung von Prominenten aus Kultur, Sport und einem Teil der Wirtschaft gegen einen rechtsextremen Wahlsieg hatte vermutlich auch das Auftreten Le Pens bei der Fernsehdebatte mit Macron am 20. April zu ihrer Niederlage beigetragen. Zwar machte Le Pen bei der diesjährigen Debatte keine so schlechte Figur wie bei der zwischen ihr und Ma­cron 2017. Damals hatte sie sich in allen wirtschaftspolitischen Themen als inkompetent erwiesen. Dieses Mal wirkte sie keineswegs wie eine unwissende Schülerin, die sich vor dem Volkswirtschaftslehrer Macron blamiert. Gleichwohl betrachteten einer Umfrage in der Nacht nach der Debatte zufolge 59 Prozent der Befragten Macron als Debattensieger, nur 39 Prozent Le Pen.

Viele von Le Pens vermeintlichen Wunderlösungen für soziale Probleme stellten sich als inkonsistent heraus, andere Programmpunkte unterschieden sich im Kern nicht von denen bürgerlich-wirtschaftsliberaler Politiker wie eben Macron. Le Pen servierte diese allerdings mit Rassismus garniert. So bei einer Kontroverse zum Thema Lohnerhöhungen. Macron möchte die im Winter 2018/2019 in Reaktion auf die Proteste der »Gelbwesten« eingeführte steuer- und sozialabgabenbefreite Lohn- oder Gehaltszulage verdreifachen. Demnach sollen Arbeitgeber bis zu 6 000 Euro jährlich an eigentlich abzuführenden Steuern und Sozial­abgaben einbehalten können, wenn sie diese als Sonderzahlungen an ihre Beschäftigten ausschütten. Le Pen hingegen schlug vor, den Unternehmen ­finanzielle Spielräume zu verschaffen, indem die Sozialkassen die Kosten von »Immigration und Sozialbetrug« einsparen; wenn dann die Sozialbeiträge für die Unternehmen sinken würden, sollten diese ihre Einsparungen in Form von Lohnerhöhungen beziehungs­weise Zulagen an die Beschäftigten weitergeben.

Beiden ist gemeinsam, dass sie das Kapital nicht stärker belasten möchten. Im Kern gefällt der Mechanismus einer nicht vom Kapital finanzierten Lohnzulage Rechten aller Couleur. Le Pens rechtsextremer Konkurrent Éric Zemmour wollte gar bis zu einem Viertel des durchschnittlichen Jahresgehalts über solche Prämien ausschütten lassen. Die konservative Kandidatin Valérie Pécresse versprach vor der ersten Runde der Präsidentschaftswahl, im Laufe der kommenden fünf Jahre »die Löhne um zehn Prozent inflationsbereinigt zu erhöhen« durch den Abbau sogenannter Lohnnebenkosten. Ihr Plan: Die Abgaben der Arbeitgeber in die Sozialkassen sollten sinken; die dadurch entstehenden Defizite sollte der Staat durch Subventionen an diese Kassen kompensieren und dafür seinerseits anderswo Gelder einsparen, etwa durch die Abwälzung von Staatsaufgaben auf die Kommunen.

Auf den zu Frankreich zählenden Karibikinseln und in anderen sogenannten Überseegebieten schnitt Le Pen besonders gut ab, mit erstaunlichen 69,6 Prozent der Stimmen auf der Insel Guadeloupe, je 60,7 Prozent auf La Martinique und in Französisch-Guayana. Dabei zählten 90 Prozent ihrer Wählerschaft zu people of color. Die im Karibikraum sehr starke Bewegung von Covid-19-Impfgegnern und die Stärke der Evangelikalen dürfte hier eine erhebliche Rolle gespielt haben. Le Pen hatte im Wahlkampf versprochen, alle wegen Impfverweigerung aus dem Gesundheitsdienst entlassenen Beschäftigten wiedereinzustellen, inklusive Nachzahlung sämtlicher Löhne.

Insgesamt stimmten einer Umfrage des Instituts Elabe zufolge 71 Prozent der besser bezahlten Angestellten für Macron und 68 Prozent der Industrie­arbeiterschaft für Le Pen. Einige frühere Linke, die längst Le Pen als das kleinere Übel betrachten und ihr lediglich ihren mangelnden Willen zum EU-Austritt vorwerfen, wie der ehemalige Parteikommunist Pierre Lévy – vormals Deutschland-Korrespondent der KP-Tageszeitung L’Humanité – und der ehemalige Anarchist Michel Onfray, fabulieren deswegen bereits vom »Block der Volkskräfte gegen den elitären Block«, den diese Stichwahl angeblich abbilde.

Am 12. und 19. Juni sollen die beiden Runden der Parlamentswahl abge­halten werden. Seit 2002 finden diese stets wenige Woche nach der Präsidentschaftswahl statt. Bislang haben die Wahlen dem designierten Präsidenten meist eine politisch genehme Mehrheit in der Nationalversammlung verschafft, wozu das französische Mehrheitswahlrecht beiträgt. Das ist wichtig, denn das Parlament bestimmt den Premierminister. Ersten Umfragen zufolge könnte es dieses Jahr anders aussehen: 63 Prozent möchten Macron zu einer cohabitation zwingen, also eine Zusammenarbeit mit einer politisch anders orientierten Parlamentsmehrheit. Allerdings würde sich eine solche Mehrheit gegen Macron in ein linkes und ein rechtes Lager teilen. Mélenchon sagte bereits in der Woche vor der Stichwahl um die Präsidentschaft, auf diese komme es nicht so sehr an, sondern vielmehr darauf, dass er im Juni Ministerpräsident werde. Der Druck auf Macron in der französischen Innenpolitik bleibt also erhalten.