Sexualisierte Gewalt im Sport ist ein systemisches Problem

Missbrauch im geschlossenen Soziotop

Der ehemalige britische Radprofi Bradley Wiggins hat zum ersten Mal öffentlich darüber gesprochen, dass er als 13jähriger von einem Trainer sexuell missbraucht worden sei.

Bradley Wiggins sprach das Thema sexualisierter Gewalt im Sport in einem Gespräch mit der Zeitschrift Men’s Health Mitte April nur kurz an, trotzdem machte sein Bericht national und international Schlagzeilen. Denn Wiggins, der als Profiradsportler fünf Olympische Goldmedaillen und 2012 die Tour de France gewann, sprach zum ersten Mal darüber, dass er als 13jähriger von einem Trainer sexuell missbraucht worden sei. Details des Missbrauchs erwähnte er nicht, auch nannte er keinen Namen. Wohl aber sprach der ehemalige Radrennstar über die schwerwiegenden Folgen: »Ich habe das nie ganz akzeptiert. Das hat mich als Erwachsener beeinträchtigt. Ich habe es vergraben.«

Wiggins’ Mut, öffentlich über das Geschehene zu sprechen, ist bemerkenswert. Er ist auch deshalb wichtig, weil jeder Prominente, der sich so äußert, dazu beiträgt, das Problem sexualisierter Gewalt im Sport zu verdeutlichen.

30 Prozent der deutschen Kaderathletinnen und -athleten erlebten einer Umfrage zufolge sexualisierte Gewalt im Sport. Es dürfte sich, ähnlich wie in der katholischen Kirche, um ein systemisches Problem handeln.

Was der ehemalige Profi berichtet, weist Parallelen zu vielen Fällen auf. Häufig wird den Betroffenen nämlich erst Jahre später bewusst, was ihnen angetan wurde; dann kommen lange verdrängte Erinnerungen und Gefühle hoch. So war es etwa nach dem massenhaften Missbrauch im englischen Männerfußball, der erst 2016 publik wurde. Nachdem der ehemalige Profifußballer Andy Woodward berichtet hatte, von seinem Jugendtrainer vielfach sexuell missbraucht worden zu sein, meldeten sich in kürzester Zeit viele weitere Betroffene. Die britische Polizei bilanzierte zwei Jahre später, sie habe von 849 mutmaßlichen Missbrauchsopfern, rund 300 Tatverdächtigen und 340 betroffenen Clubs erfahren – allein im Fußball, allein in Großbritannien und allein in alten, meist voneinander unabhängigen Fällen, die im Zuge der Berichterstattung 2016 bekannt geworden waren.

Diese enormen Zahlen sind also nur die sprichwörtliche Spitze des Eisbergs. Viele Betroffene hatten die Ereignisse verdrängt, bis sie Woodwards Aussagen lasen. Viele litten lebenslang unter psychischen Folgen – und merkten erst viel später, dass diese mit dem Missbrauch zu tun hatten. 95 Prozent der damals Betroffenen waren Männer. Auch das ist eine Parallele zum Fall Wiggins, die deutlich macht: Das Problem betrifft keinesfalls nur Frauen. Und es handelt sich nicht um Einzelfälle. Das Problem ist systemisch.

Wiggins hatte schon vorher öffentlich über seine schwere Kindheit gesprochen, auch seine Depressionserkrankung hatte er publik gemacht. Nun sagte er, aufgrund seiner schweren Kindheit habe es niemanden gegeben, dem er sich hätte anvertrauen können. »Mein Stiefvater war ziemlich gewalttätig, er nannte mich eine Schwuchtel, weil ich Lycra (eine Marke für elastischen Stoff, der unter anderem für Radsportbekleidung genutzt wird, Anm. d. Red.) trug. Ich dachte, ich könnte es ihm nicht sagen.«

Der biologische Vater, der australische Radrennfahrer Gary Wiggins, hatte die Familie verlassen, als Bradley noch klein war. Der Zeitschrift Men’s Health sagte Wiggins über seinen Vater: »Er war mein Held. Ich wollte ihm beweisen, dass ich es kann. Er war ein guter Radfahrer – er hätte wirklich gut sein können –, aber er hat sein Talent vergeudet. Er war ein Alkoholiker, manisch-depressiv, ziemlich gewalttätig und er hat viele Amphetamine und andere Drogen genommen.« Gary Wiggins soll auch gedealt und seine Frau geschlagen haben.

Der Fall Bradley Wiggins zeigt, wie soziale, psychische und ökonomische Faktoren im Kapitalismus ineinandergreifen. Vater Gary Wiggins stammte aus armen Verhältnissen, er wuchs in einer Arbeitersiedlung nahe eines Tagebaus auf. Sport war die einzige Möglichkeit, der Armut zu entkommen. Aufgrund der ökonomischen Marginalisierung hatte er schon statistisch deutlich höhere Risiken für das, was sich bei ihm manifestierte: psychische Erkrankungen, Gewalterfahrungen und Sucht. Die Probleme des Vaters wiederum wurden zu Problemen des Sohns: durch dessen Abwesenheit, durch die Instabilität des Umfelds, durch Rollenbilder.

Auf die Frage, wovor er in seinem Leben auf der Flucht gewesen sei, erwidert Bradley Wiggins in Men’s Health: »Es hatte definitiv mit meinem Vater zu tun. Keine Antworten zu bekommen, als er 2008 ermordet wurde.« Erst als 18jähriger hatte er den Vater zum ersten Mal wiedergetroffen. Es sei eine Art Bindung entstanden, aber dann habe man nicht mehr gesprochen. 2008 wurde Gary Wiggins, der weiter mit seiner Alkoholsucht kämpfte, nach gewalttätigen Auseinandersetzungen bei einer Hausparty tot aufgefunden. Die Umstände sind bis heute ungeklärt. All das prägte den Sohn. Sich selbst beschreibt er als Einzelgänger: »Ich war isoliert. Ich war in vielerlei Hinsicht ein ziemlich seltsamer Teenager, und ich glaube, dass daher der Antrieb zum Radfahren kam.«

Klassenzugehörigkeit, Instabilität des Umfelds, Gewalt, all das wurde fatal, als er sexualisierte Gewalt erfuhr. Wo Vertrauenspersonen und Ansprechpartnerpartnerinnen fehlen, ist es umso unwahrscheinlicher, dass Betroffene sprechen. Erst recht in einem Umfeld, wie es Wiggins schildert, in dem der Stiefvater klischeehafte Normen von Männlichkeit etablierte. Wiggins wusste nicht, an wen er sich wenden sollte. Und schwieg. Der Erfolg auf dem Rad, von dem er sich Befreiung erhoffte – »Ich wollte einfach nur raus aus diesem Umfeld«, sagte er in Men’s Health –, half nur kurzfristig.

Der Star, der nach seinem Sieg bei der Tour de France zum Ritter geschlagen wurde, berichtet, dass er nach dem großen Erfolg erst recht unglücklich geworden sei: »Das Leben wurde nie wieder wie früher. Ich wurde über Nacht berühmt und verehrt, aber ich bin ein introvertierter, privater Mensch. Ich wusste nicht, wer ich war, also habe ich eine Art Schutzschild aufgebaut – ein Rockstar-Schutzschild. Das war nicht wirklich ich. Es war wahrscheinlich die unglücklichste Zeit meines Lebens. Es ging nur darum, für andere Menschen zu gewinnen, und um Druck.«

Dass dieses Interview viel Aufmerksamkeit erhielt, erstaunt nicht: So bemerkenswert offen und kritisch zeichnen im medialen Zeitalter wenige Stars ein Selbstporträt. Und ein Porträt des ungesunden, gewalttätigen Umfelds, das der Leistungssport ist. Einige Dinge haben sich seit Wiggins’ Jugend verbessert. In England hat das Thema sexuali­sierter Gewalt vor allem nach 2016 enorm viel Aufmerksamkeit erhalten – schließlich waren die Betroffenen Männer und ihr Sport war ­Fußball.

Mittlerweile erhalten auch hierzulande Studien zur Dramatik und Häufigkeit sexualisierter Gewalt im Sport mehr Beachtung. Die Studie »Safe Sport«, für die zwischen 2014 und 2017 erstmals umfassend 1 800 deutsche Kaderathletinnen und -athleten befragt wurden, stellte fest: Drei von zehn haben sexualisierte Gewalt im Sport erlebt. Es dürfte sich, ähnlich wie in der katholischen Kirche, um ein systemisches Pro­blem handeln. Es gibt mehr Ansprechpartner und -partnerinnen in den Vereinen, die Spitzensportverbände verlangen seit 2019 in Deutschland verpflichtend von den Sportvereinen, Beauftragte für Prävention und Intervention zu ernennen. Und es gibt Kommissionen, die alte Fälle aufarbeiten. Es bewegt sich einiges.

Das ist überfällig, denn vieles könnte noch sehr viel besser werden, wenn die Sportfunktionäre nur wollten. Unabhängige Ansprechstellen, wie sie etwa Athletinnen und Athleten fordern, gibt es in Deutschland noch nicht. Und es bleiben ­systemische Probleme: das enge und oft autoritäre Verhältnis von Trainern zu Sportlerinnen und Sportlern, das Missbrauch begünstigt, und die Dominanz von Männern in Macht­positionen (Studien zeigen: die Täter sind ganz überwiegend Männer, die Betroffenen mehrheitlich Frauen); das geschlossene Soziotop Verein, in dem Trainer und Eltern oft befreundet sind und Missbrauch gedeckt wird; die fehlende Kontrolle von außen, die fehlende demokratische Mitsprache der Aktiven. All das kann und muss sich ändern, es braucht, wie etwa Athleten Deutschland e. V. fordert, einen »flächendeckenden Kulturwandel« im Sport. Der beginnt vielleicht gerade.

Auch Bradley Wiggins hat offenbar seine Stimme und seinen Weg gefunden. Er schlägt nun beruflich eine andere Richtung ein, studiert Medizin und möchte Arzt werden. Er versuche, sich mit dem geliebten, verhassten Radsport zu versöhnen, sagte er. Täglich zu trainieren, eine Routine zu haben, so Wiggins, helfe ihm gegen die Depression. Sein nächstes Ziel formuliert er bescheiden, doch dürften alle mit schwerem Lebensweg wissen, dass es nicht leichter zu erreichen ist, als die Tour de France zu gewinnen: »Glücklich zu sein.« Eine Teilstrecke scheint Wiggins bereits zurückgelegt zu ­haben.