Die Jungle World empfiehlt einige Beiträge des Berliner Fußballfilmfestivals »11mm«

Helden ohne Happy End

Das größte Fußballfilmfestival der Welt fand nach pandemiebedingter Pause Anfang Mai wieder in Berlin statt. Rund 50 nationale und ­internationale Filme zeigte das Festival »11mm«, die diesjährigen Schwerpunkte waren »Fußball als Heimat« und die Ukraine.

Tigers

Ein behüteter schwedischer Junge aus einem Mittelschichtshaushalt schafft es im Spielfilm »Tigers« zur Jugend von Inter Mailand. Doch dort zeigt sich die Brutalität der Nachwuchsleistungszentren des Fußballs: Homophobie, lässiges Machotum, zerbrechende Seelen und »Wehr’ dich oder ich fress’ dich«. In einer denkwürdigen Szene will ein aussortiertes Talent betrunken von einem Baugerüst auf die Mitspieler herunterwichsen, und keiner der Untenstehenden unternimmt etwas, um ihn vor dem drohenden Sturz zu bewahren, denn, wie einer sagt: »Ich bin 500 000 Euro wert und er nur einen Cheeseburger.«

Das alles beruht mehr oder weniger auf der wahren Geschichte des großen schwedischen Talents Martin Bengtsson, der Anfang der nuller Jahre bei Inter Mailand einen Suizidversuch unternahm und anschließend dem Fußball den Rücken kehrte. Protagonist Martin (sehr stark: Erik Enge) wird hier vom schüchtern grinsenden Teenager zur Leistungsmaschine mit schnellem Auto, das er nie wollte, oder vielleicht doch. Alfred Enoch (bekannt aus den Harry-Potter-Verfilmungen) als sympathischer Kann-alles-weiß-alles-Typ im Team, der dann aussortiert wird, und Frida Gustavsson angenehm klischeefrei als Martins lebenshungrige, freigeistige Model-Freundin komplettieren die starke Besetzung. Fußball als beklemmender Horror zwischen »Black Swan« und »Einer flog über das Kuckucksnest«, wo Scheitern der wahre Widerstand ist.


The Other Chelsea

Der kluge und nachdenkliche Dokumentarfilm »The Other Chelsea: Eine Geschichte aus Donezk« von Regisseur Jakob Preuss könnte derzeit kaum gedreht werden. 2010 war das noch möglich. Das Porträt der ostukrainischen Stadt Donezk und des Clubs Schachtar Donezk ist ein Film, der den Krieg vielleicht nicht vorausahnt, zumindest aber die Abspaltung der ­sogenannten Volksrepublik Donezk.

Preuss besuchte für seine Dokumentation den ukrainischen Osten, der damals bereits überwiegend prorussisch wählte, und zwei verschiedene Schichten dort. Der eine Protagonist ist Kolja, ein netter und mutmaßlich sehr korrupter Nachwuchspolitiker aus der prorussischen Partei der Regionen, der Schachtar Donezk für politische Zwecke nutzt. Er gesteht ganz offen, die Siege von Schachtar »helfen unserer Partei«. Der Milliardär Rinat Achmetow, damals noch ein Freund der Partei, ­finanziert Schachtar. Umschmeichelnd spinnt Regisseur Preuss ein Netz, in dem sich Kolja mit seinen Auskünften über zweifelhafte Nebeneinkünfte immer weiter verfängt. Er tut aber bloß, lässt der Film durchblicken, was fast alle in der ukrainischen Politik dieser Jahre tun. Und ausgerechnet in jener Saison schenkt Achmetow der Stadt den Sieg beim Uefa-Pokal.

Der zweite Strang erzählt von der Wählerschaft dieser Partei, Fans von Schachtar. Dass der Bergarbeiterclub die Menschen mit Stolz erfüllt, hat Gründe. Viele Arbeiter, mit denen Preuss spricht, fühlen sich in der Ukraine diskriminiert wegen ihrer russischen Sprache, an der wirtschaftlichen Entwicklung haben sie nicht teil und alles, was der Staat tut, ist, sie mit Geldstrafen zu belegen, während er ihre Mine verkommen lässt. Ihre heimliche Hauptstadt heißt seit eh und je Moskau. Sascha, Walja und Stepanowitsch, gute Menschen mit Herz, lieben Schachtar und sie lieben Achmetow. Und am wichtigsten ist ihnen nicht der Triumph im UefaCup, sondern dass man im Halbfinale Kiew geschlagen hat. Da wirkt dieses Land wie zwei Länder. Die Arbeiterinnen aus Donezk wissen, dass die eigenen Oligarchen sie betrügen: »Ein ehrlicher Mann verdient keine Millionen.« Aber sie glauben: Unter Leuten aus dem Osten dürfte es ihnen besser gehen als unter denen aus dem Westen, die sie verachten. All das ergibt ein faszinierendes Bild einer Region, deren Haltung in der derzeitigen Berichterstattung kaum erklärt wird, weil es die Darstellung einer homogenen Ukraine stört.

»Wir wollten alle Teil von Russland sein«, sagen die Arbeiter. Und man wüsste gerne: Was denken sie heutzutage über den Krieg? Ist die sogenannte Volksrepublik Donezk die Erfüllung ihrer Träume?


Robin’s Hood

Der Preis für den besten Filmtitel und blödesten Wortwitz des Festivals geht zweifellos an »Robin’s Hood«. Die österreichische Dokumentation handelt von genau dem: Einem Protagonisten namens Robin, der in seinem Viertel, seiner Hood eben, einen Fußballverein aufbaut. Robin hat eine Knastvergangenheit, weil er 2007 mit 70 Kilogramm Gras hochgenommen wurde, nach seiner Freilassung gründet er den RSV, benannt nach sich selbst. Es soll ein multikultureller Verein sein, wo arme Jungs verschiedener Herkunft zusammenspielen.

Was klingt wie eine schlechte französische Wohlfühlkomödie, ist tatsächlich eine Milieustudie, die gekonnt zwischen Humor und Kritik balanciert. Robin ist nämlich ein schwieriger Charakter. Einerseits ist es kaum möglich, diesen Menschen nicht als Helden zu sehen. Robin diskutiert unnachgiebig mit Rassisten im Clubheim, kämpft sich mit seinem Team durch Auswärtsspiele voller menschenfeindlicher Beleidigungen und sagt seinem Team Sätze wie: »Gute Dinge sind nie leicht im Leben. Wenn ihr ein Unrecht seht, dann hilft man. Das macht man einfach, wenn man ein guter Mensch ist.« Robin ist ein guter Mensch. Gleichzeitig ist das mit dem Antirassismus nicht so einfach, denn auch innerhalb des Teams sind rassistische Witze gang und gäbe, alle sehen sie als selbstverständlich an. Und Robin ist auch ein übermächtiger Patriarch, der nach Belieben Trainer feuert, sich selbst verdammt wichtig nimmt und oft wahlweise betrunken oder anderweitig breit wirkt. »Der Robin zerstört die Mannschaft«, sagt ein Spieler einmal. Irgendwann ist alles dahin. Ein Held ohne Happy End.


La Fortaleza

Hooligans haben unzählige, meist schlechte Fußballfilme inspiriert. Aber manchmal kommen die Hools ganz unscheinbar daher: keine ­bulligen Glatzen, sondern Teenager, die vom Stadion aus ihre Mütter anrufen, um zu sagen, dass sie gut angekommen sind, und vorher fuchsteufelswild mit dem Messer auf andere losgerannt sind.

Der Dokumentarfilm »La Fortaleza« spielt in Kolumbien, beim Zweit­ligisten Atlético Bucaramanga, der nach acht Jahren in der zweiten Liga um den Aufstieg kämpft. Die Eröffnungsszene ist Programm: Ein junger Mann wird beerdigt, der bei gewalttätigen Auseinandersetzungen am Rand eines Matches gestorben ist. Trauer und Zorn vermischen sich mit Party und Trompeten – der Tod ist Leben, und viele der Jungs erwarten selbstverständlich, gewaltsam zu enden. Klugerweise verzichtet »La Fortaleza« auf Voice-over oder Interviews. Von den drei Protagonisten erfährt man nichts, außer dass es in ihrem Leben nur Atlético gibt. Regisseur Andrés Torres präsentiert das angenehm vorurteilsfrei als einen einzigen Rausch.

Er begleitet die drei Teenager, wie sie zur Auswärtsfahrt auf Lastwagen springen, in ausgebrannten Schulen schlafen, ins Stadion klettern oder sich auf andere Fans stürzen, bevor sie herausfinden, dass diese ebenfalls Atlético-Fans sind. Sie sind naiv, gleichgültig und permanent auf Drogen, eine gefähr­liche Kombination. »Du weißt, Mama, ich brauche mein Messer«, sagt einer der Jungs vor dem Spiel routiniert zu seiner Mutter, die ihm ebenso routiniert mit den Worten »Sei schön brav« das Küchenmesser reicht, als schicke sie ihn auf Klassenfahrt. Die Eltern sind so gleichgültig wie die Söhne. Und der Film versteht ihren Rausch. Das permanente Adrenalin, die bedingungslose Liebe zu einem Club, die wilde Romantik, die Gewalt, das Glück, niemals nüchtern zu sein. Den Preis zeigt Torres ruhig am Ende auf, einige Jahre später. Da kommt einer der Jungs gerade aus dem Knast, er ist selbst fast gestorben. Aber so ist es eben.


90 Minutos

Ein Film über den Fußball, der beginnt wie ein Western. Ein erschöpfter Mann nähert sich einer Hütte. Die Zuschauerin ahnt, dass diese Hütte nichts Gutes bedeuten kann. Es ist eine Bar in Mexiko, und der Mann ein Flüchtling aus Honduras. Knarzende Schritte, ein desinteressierter Barkeeper, der den halben Inhalt eines Wasserglases in Zeitlupe in den Abfluss kippt, als der Geflüchtete nur die Hälfte zahlen kann. Im Fern­sehen läuft Fußball, Mexiko gegen Honduras. Der Honduraner interessiert sich nicht einmal für Fußball. Aber als zwei mexikanische Rassisten auftauchen, ist das egal.

Schnitt, radikaler Stimmungswechsel. Schnelle Bildfolgen, laute Gesänge, bunte Farben, ein Fußballstadion in Honduras. Dort geht der sanfte Ángel hin, der es jedem recht machen will und für den Fußball die einzige Freude im Leben ist. Zur Verzweiflung seiner hochschwangeren Freundin Ana, die wegen der dort herrschenden Gewalt­tätigkeit um seine Sicherheit fürchtet. Und weil Ángel allen Gutes will, trifft er die falsche Entscheidung. Der Geflüchtete und das herzergreifende Drama um Ángel und Ana sind zwei der vier Vignetten, die der honduranische Regisseur Aeden O’Connor Agurcia in seinem Spielfilm »90 Minutos« in – na klar – 90 Minuten erzählt. In den vier hervorragenden Kurzgeschichten über schlechte Entscheidungen zeigt er den Fußball als Heilsbringer und als Zerstörer. Und in aller Tragik seiner Figuren, die man gern länger begleitet hätte, findet er stets etwas Versöhnliches.