Ein Gespräch mit Nitzan Menagem über die Geschichte von Hashomer Hatzair

»Diese Organisation könnte auch 91 Jahre alt sein«

Interview Von Josefine Rein Rosa Budde

Nitzan Menagem spricht über die Aufarbeitung der Geschichte und das zehnjährige Jubiläum der Neugründung des deutschen Zweigs der sozialistisch-zionistischen Jugendorganisation Hashomer Hatzair.

Wer sind die Hashomer Hatzair?

Hashomer Hatzair ist eine sozialistische Jugendbewegung, eine der ­ältesten noch bestehenden jüdischen Jugendorganisationen weltweit. Un­sere Grundwerte sind Sozialismus, ­Internationalismus, Zionismus, Humanismus und säkulares Judentum. In unserem progressiven Zionismus geht es darum, Israel als Heimat des jüdischen Volkes anzuerkennen und gleichzeitig Kritik an rechter Politik in Is­rael zu üben. Sozialismus ist für uns der Glaube an die Kraft der Gruppe, die Realität zu verändern und Räume zu schaffen, in ­denen die Unterdrückung durch den Kapitalismus nicht erlebt oder zumindest kritisch be­handelt wird.

»Es gibt kaum Informationen über die letzte Generation der Hashomer Hatzair in Deutschland, die in den dreißiger Jahren lebte.«

Seit wann besteht die Organisation?

Hashomer Hatzair existierte in Deutschland in den schwierigen Jahren zwischen 1931 und 1939. Nach dem Zweiten Weltkrieg und dem Holocaust wurde beschlossen, die von Israel aus koordinierte weltweite Bewegung wiederaufzubauen. Aufgrund der Vergangenheit entschied man sich jedoch, nicht nach Deutschland zurückzukehren. Es dauerte 73 Jahre, bis diese Entscheidung geändert wurde. Der Grund dafür war der Kontakt zwischen den sozialistischen und sozialdemokratischen Organisationen in Deutschland und Israel. Ha­shomer Hatzair Israel und die »Sozialistische Jugend Deutschlands – Die Falken« haben eine lange Partnerschaft, es kamen Austauschdelegationen und besuchten uns, und es entstand eine Freundschaft. Vor zehn Jahren gab es dann die Entscheidung, dass es jetzt an der Zeit ist, diese Organisation auch in Deutschland wieder zu gründen. Die jüdische Gemeinde in Deutschland ist im Wandel, es kamen viele junge Israelis nach Deutschland, besonders nach Berlin. Diese israelischen Familien suchten auch hier in Berlin eine säkulare jüdische Jugendbewegung, um ihre Kinder zu stärken.

Zum Anlass des zehnjährigen Jubiläums der Neugründung der ­Hashomer Hatzair in Deutschland in diesem Jahr haben Sie ein Geschichtsprojekt gestartet, um die Geschichte der ersten Hashomer-Hatzair-Generation zwischen 1931 und 1939 aufzuarbeiten. Wieso ist das so wichtig?

Wir können nicht einfach unser zehnjähriges Bestehen feiern, ohne zu erwähnen, dass diese Organisation auch 91 Jahre alt sein könnte. Es gibt kaum Informationen über die letzte Generation der Hashomer Hatzair in Deutschland, die in den dreißiger Jahren lebte. Das ist eine Generation, auf die wir stolz sind, denn sie haben in der schrecklichen Zeit des Nationalsozialismus das Leben der Menschen verändert, indem sie zum Beispiel ihren Mitgliedern zur Flucht nach ­Israel verhalfen. Wenn man diese Organisation in Deutschland wiederaufbaut, muss man ihre Geschichte hier kennen. Bei den Hashomer Hatzair gibt es ein Sprichwort: »Um vorwärts zu kommen, muss man seine Vergangenheit kennen.« Von über einer Million Menschen, die im Holocaust ermordet wurden, wissen wir nicht, wer sie waren und was mit ihnen geschah. Sie sind aus der Geschichte verschwunden, weil alle um sie herum umgekommen sind und es noch nicht genügend Forschung gab. Wir fühlen uns dafür verantwortlich, diese Informationen aufzudecken und zu sammeln.

Wie finden Sie diese vergessenen Geschichten wieder?

Ende März sind wir mit einer Delegation nach Israel gereist, haben verschiedene Kibbuz-Archive besucht und mit ehemaligen Mitgliedern der Hashomer Hatzair Deutschland und mit ihren Nachkommen gesprochen. Der Kontakt mit den Familien war sehr bewegend. Viele von ihnen wussten nicht, dass es die Hashomer Hatzair in Deutschland wieder gibt. Eine Nachfahrin erzählte uns, dass die einzig positive Erinnerung ihrer Mutter an ihre Kindheit in Deutschland ihre Zeit bei den Hashomer Hatzair war. Wenn diese Familie mehr über diese Zeit erfahren möchte, wollen wir ihr dies ermöglichen. Mit diesem Projekt wollten wir also nicht nur Informationen sammeln, sondern auch Kontakt zu den Familien herstellen. Wir hören ihnen nicht nur zu und fragen, welche Informationen sie für uns haben, sondern fragen auch, welche sie haben möchten.

Regina, eines der Mitglieder unserer ersten Generation, verstarb leider im Alter von 104 Jahren nur wenige Wochen vor unserer Ankunft in Israel. Ihre ­Enkelin erzählte uns von einem Foto von Regina und ihrer Freundin Romi bei einem Zeltlager der Hashomer Ha­tzair, das bei ihnen im Wohnzimmer hing. Die Enkelin erzählte uns, dass Regina gerne über diese Freundschaft sprach, davon, wie sie sich bei den Zeltlagern der Hashomer Hatzair kennengelernt hatten und dann durch den Krieg auseinandergerissen wurden. Regina konnte 1936 fliehen und hat danach nie wieder etwas von Romi gehört. Wir wollen etwas über Romis Schicksal herausfinden, um die Informationen an die Nachkommen von Regina weiterzugeben. Vielleicht wurden Romi und ihre Familie im Holocaust ermordet, und dies könnte eine Möglichkeit sein, an sie zu erinnern. Indem wir die Geschichte ihrer Freundschaft erzählen, können wir sie durch unsere Generation weiterleben lassen.

Auf welche Geschichten sind Sie bei der Recherche gestoßen?

Wir fanden heraus, dass mindestens fünf Mitglieder der Hashomer Hatzair in der Herbert-Baum-Gruppe, einer ­jüdisch-kommunistischen Widerstandsgruppe in Berlin, aktiv waren. Es waren zwei Schwesternpaare, Alice und Hella Hirsch und Eva und Hildegard Loewy; außerdem Gerhard Zadek, der bis Anfang der nuller Jahre lebte. Es waren junge Frauen, die gegen den Aufstieg des Nationalsozialismus kämpften, ­Alice Hirsch war gerade einmal 17 Jahre alt. Ihre inspirierende Geschichte ist in Vergessenheit geraten, stattdessen wird in Deutschland vor allem an ­Sophie Scholl erinnert. Natürlich ist es einfacher für Deutsche, sich Sophie Scholl anzugucken und zu denken: »Wir waren alle Widerstandskämpferinnen, sie ist wie wir, wir hätten Sophie Scholl sein können.« Die Geschichte der Herbert-Baum-Gruppe, einer jüdischen, linken Widerstandsgruppe, muss bekannter gemacht und aufgearbeitet werden – innerhalb der Linken, aber auch in der deutschen Gesellschaft allgemein. Deshalb organisieren wir für den 29. Mai im Rahmen der Veranstaltungsreihe der Vereinigung der Verfolgten des Nazi­regimes zum 80. Jahrestag der Aktionen der Herbert-Baum-Gruppe einen Stadtrundgang für Jugendliche zu der Geschichte der Hashomer-Hatzair-Mitglieder in der Herbert-Baum-Gruppe.

Wieso waren gerade die Hashomer Hatzair im Widerstand aktiv?

Ich spreche aus meiner Erfahrung als Jugendliche bei den Hashomer Hatzair heute: Die Organisation ist ein Raum, in dem man kritisches Denken entwickelt, sich als Teil einer Gruppe mit ­einem gemeinsamen Schicksal fühlt, in dem man gegenseitiges Vertrauen lernt. Ich denke, dieser Kollektivismus half den Jugendlichen damals, das Kommende zu erkennen und sich auf den Widerstand vorzubereiten. Die Herbert-Baum-Gruppe, aber zum Beispiel auch der Aufstand im Warschauer Ghetto, an dem auch die Hashomer Hatzair maßgeblich beteiligt waren, waren Koalitionen zwischen jüdischen Jugendorganisationen. Hashomer Hatzair führte auch kleine Widerstandsaktionen in Berlin durch. Von viel größerer Bedeutung aber war ihre Zusammenarbeit mit verschiedenen anderen Gruppen, mit denen sie sich auch häufig nicht einig waren. Wir als Linke sollten uns davon inspirieren lassen, das Trennende zu überwinden, Punkte zu finden, an denen wir uns einig sind, und verstehen, was die gemeinsame Gefahr ist, bevor es zu spät ist. Wenn man nicht aus der Vergangenheit lernt, wird man zwangsläufig dieselben Fehler machen.

Was passiert jetzt mit den Geschichten, die Sie gefunden haben?

Die erste Phase des Projekts, die Forschung, haben wir fast abgeschlossen. Als Nächstes wollen wir aus den Forschungsergebnissen Bildungsmaterialien für unsere Jugendlichen entwickeln. Wir wollen, dass sich die heutige Generation mit der Generation in den dreißiger Jahren auseinandersetzt. Deshalb haben wir nach Briefen und Tagebüchern gesucht, nach Dingen, die für Kinder sinnvoll und interessant sind. Wir planen, gemeinsam mit den Jugendlichen Stolpersteine für die Familien Hirsch und Loewy zu verlegen. Letztes Jahr hatten wir bereits Kontakt mit ­einem anderen lebenden Mitglied in Chile, Rudi Haymann. Er hatte ein ­Gespräch mit unseren Jugendlichen; sie interviewten ihn, er erzählte ihnen von seiner Zeit in der Hashomer Ha­tzair. Er war sehr bewegt, dass Hashomer Hatzair in Deutschland wieder existiert. In diesem Austausch liegt die große Bedeutung unserer Wiedergründung und unseres Geschichtsprojektes.

 

Nitzan Menagem
Foto: Friedrich Schuster

 

Nitzan Menagem ist Vorsitzende der Hashomer Hatzair Deutschland, eines Zweigs der internationalen sozialistisch-zionistischen Jugendorganisation. Mit neun Jahren wurde sie Mitglied bei den Hashomer Hatzair in Israel. Seit 2008 ist sie am Friedensprojekt Willy-Brandt-Center in Jerusalem und Berlin beteiligt. Anfang August 2012 wurde Hashomer Hatzair (»Der junge Wächter«) in Deutschland neu gegründet.