Künstler wissen es oft auch nicht besser. Aber sie können helfen, der elenden Wirklichkeit für einen Moment zu entfliehen

Lass uns abhauen!

Viele Musikerinnen und andere Künstler gehen ganz selbstverständlich davon aus, sie müssten zur Meinungsbildung einer Gesellschaft beitragen. Aber dient Popkultur nicht eher dazu, die Wirklichkeit einen Moment lang zu vergessen? Muss wirklich jeder Song ein Protestsong sein? Ein kleines Lob des Eskapismus.

Desperado«, ein Song der US-amerikanischen Sängerin Rihanna, beginnt mit einer einfachen Melodie, einem Beat und einem Auto. »Desperado«, singt Rihanna, »sitting in an old Monte Carlo, a man whose heart is hollow. Take it easy, I’m not trying to go against you, I can be a lone wolf witcha.« Die Sängerin schludert die Zeilen mit grandioser Nachlässigkeit heraus, rollenadäquat, denn der Song handelt nicht nur von dem Desperado mit dem hohlen Herzen, der in einem Chevrolet Monte Carlo an einer staubigen Straßenecke steht – sondern auch von ihr, Rihanna, und damit auch von uns: ihrem Publikum. Hey Fremder!, ruft sie, lass uns zusammen abhauen. »If you want, we could be runaways«, geht der Song weiter, »running from any sight of love.« Und: »There ain’t nothing here for me anymore. I don’t wanna be alone.«

»Desperado« erschien 2016 auf ­Rihannas jüngstem Album »Anti«, einer der wirklich großen Platten der vergangenen Jahre. Auf den ersten Blick handelt er von einer geradezu klassischen US-amerikanischen Phantasie. Man sieht die Bilder vor sich: Ein Mann verlässt eine Stadt, um nie wiederzukommen, lässt das alte falsche Leben hinter sich, um noch einmal neu anzufangen, woanders, im Westen. Er hat Herzen gebrochen, oder vielleicht wurde ihm auch das Herz gebrochen, auf jeden Fall ist er fertig mit dieser Stadt. Und dann ist da Rihanna. Auch so eine einsame Seele, der große enigmatische Popstar unserer Zeit, das Mädchen, das auf die bösen Jungs steht, die Künstlerin, die sich nie erklärt, die einfach immer macht, was sie will. Was in diesem Fall heißt: ab­hauen.

Es gab eine Menge offener Briefe diverser Künstlerinnen und Künstler. Gegen die Pandemiemaßnahmen, gegen die deutsche Ukraine-Politik. Sie alle bezogen ihre Kraft aus der Annahme, dass Kunstschaffende einen privilegierten Zugang zur Wahrheit hätten.

Das ist aber noch nicht alles. »Desperado« lässt sich auch noch ganz anders interpretieren. Als Song über den Pop selbst. Und als Feier des Pop als Medium der Flucht. Wer würde nicht gern zusammen mit Rihanna zum geheimnisvollen Fremden in den Wagen steigen und das ganze Elend hinter sich lassen? Der Alltag, die Politik, die erfolglose Weltverbesserung? »Hier leben, nein danke«, »Kapitulation«, »sag alles ab« – um ein paar Zeilen einer ganz anderen Band zu zitieren, durch deren Songs sich ein ähnlicher Faden zieht. Weggehen, alles stehen und liegen lassen, Fluchtwege suchen.

Der Eskapismus hat traditionell keinen guten Ruf bei der Linken. Nicht bei der des Ostblocks, die die Kunst einspannen wollte in die Konstruktion der großen und kleinen neuen Menschen. Aber auch nicht bei den meisten Spielarten kritischer Ästhetik, die die Kunst am Ende doch meist auf den Einspruch gegen das herrschende Falsche verpflichten. Die Negation der Negation.

Auch in der Kritik liebt man den Eskapismus nicht sonderlich. Ob in der Kino-, oder in der Literatur-, vor allem aber in der Popkritik – gerne wird das Werk als Zeichen der Zeit gelesen, als Protest gegen den Weltlauf. Oder zumindest, eine Nummer kleiner, als das kleine identitätspolitische Drama, der alltagspolitische Aufstand gegen die Normalisierungsmaschine. All das ist selbstverständlich prima. Aber es übergeht den einen basalen Wunsch, der einen den Kopfhörer aufsetzen oder das Kino betreten lässt: dass man weg möchte. In eine andere Welt. Ohne die alte verbessern zu müssen.

Tatsächlich ist es mit dem Pop­eskapismus aber so eine Sache. Er ist nämlich so einfach nicht zu haben. Nur in die andere Welt zu wollen, ist nicht genug. Jede und jeder, der oder die in den Monaten der pandemiebedingten Kontaktbeschränkungen zu Hause saß, hatte Fluchtphantasien. Aber gleichzeitig wusste man: Daraus wird nichts. Da draußen ist gerade nichts zu gewinnen. Der Pop­eskapismus braucht die anderen. Ganz wie in »Desperado«, wo auch Rihannas Flucht erst in dem Augenblick gelingt, in dem sie den anderen sieht: »I don’t wanna be alone.«

Der Popeskapismus braucht den anderen, den Bruder oder die Schwester im Geiste. Den, mit dem man die Leidenschaft teilt. Die, die ebenfalls in ihrem Zimmer die Intimität mit dem Star teilt, den Traum der Nähe (der ja viel damit zu tun hat, dass man der aufgenommenen Stimme so viel näher kommt als den meisten echten Stimmen) – und diese Gemeinschaft will man wiederum mit anderen Ausbrecherinnen und Ausbrechern teilen. Nur wer sich gespiegelt sieht, weiß, dass die eigene Flucht real ist.

Dass diese Nähe unmöglich wurde, konnte die Zeit der Kontaktbeschränkungen so bleiern machen. Und keine »Corona-Platte« konnte das ausgleichen. In der Kritik war viel von solchen »Corona-Platten«, »Corona-Songs« und so weiter die Rede, von Werken also, die unter dem Eindruck der pandemiebedingten Isolation in irgendeiner Weise ganz besonders gelungen seien.

Dass das so oft erwähnt wurde, lag sicherlich an dem unbedingten Wunsch zu glauben, dass die Einsamkeit der künstlerischen Wahrheitsfindung hilft. Aber die eskapistischen Popflüchtlinge rennen vor genau dieser Einsamkeit weg, in den Konzertsaal oder in den Club. Die Flucht ist eine der popistischen Grundgesten. Und all die Geschichten, die die Songs erzählen und die die Stars verkörpern, handeln von dieser Bewegung.

Es gab in letzter Zeit eine Menge offener Briefe und politischer Aktionen diverser Künstlerinnen und Künstler. Gegen die Pandemiemaßnahmen, gegen die deutsche Ukraine-Politik. Sie alle bezogen ihre Kraft aus der Annahme, dass Künstlerinnen und Künstler einen privilegierten Zugang zur Wahrheit hätten – und zwar nicht nur durch ihr Werk, sondern auch als Personen. Dass sie, weil sie der Wahrheit bei ihrer sonstigen Arbeit so nahe kämen, auch in der Lage seien, einen Weg durch das Gestrüpp komplizierter politischer Abwägungen zu weisen und eine vorbildliche Haltung zu zeigen.

Dieser Glaube hat eine lange Geschichte, und er hatte seine großen Momente. Zum Beispiel als Émile Zola sich in der Dreyfus-Affäre engagierte – und aus der künstlerischen Kraft seines literarischen Realismus Politik machte. Oder als sich Thomas Mann im Zweiten Weltkrieg an die deutsche Bevölkerung wandte und sagte, die deutsche Kultur sei mit ihm zusammen ins Exil gegangen.

Seit Bob Dylan bezieht sich dieser Glaube auch auf Popstars. Aber wenn derartige Interventionen der vergangenen Jahre eines gezeigt haben, dann das: Macht es besser nicht. Egal ob man mit den jeweiligen Anliegen sympathisiert oder nicht, ob man für die Coronamaßnahmen war oder dagegen, für schwere Waffen an die Ukraine oder dagegen: Die Welt zu verbessern, überfordert die Kunst und die Künstler, den Pop und die Popstars. Es ist nicht ihre Zuständigkeit.

Die Menschheit steht vor gewaltigen neuen Problemen: dem Klimawandel, den Kämpfen um eine geopolitische Neuaufteilung der Welt, den Unwägbarkeiten des digitalen Wandels, der neue Öffentlichkeiten schafft, denen die alten Institutionen nicht gewachsen sind. Und die alten Probleme sind ja nicht weg: Rassismus, Sexismus, der Unterschied zwischen Arm und Reich. Die Künste und der Pop werden zur Lösung all dieser Probleme nicht viel beizutragen haben.

Künstlerinnen und Künstler wissen die meisten Dinge außerhalb ihrer Kunst eben auch nicht besser. Oft kaschieren sie mit der Politik einfach nur ihre Einfallslosigkeit. Oder versuchen, sich mit ihr eine Relevanz zu erkämpfen, die ihnen ansonsten fehlt. Sie verbessern die Welt nicht. Was sie können, ist: Fluchthilfe anbieten. Mit dem schnellen Auto an der Ecke stehen. Und einen mitnehmen, wenn man einsteigt. Auf dass man, für die Dauer eines Songs oder eines Films, das Elend hinter sich lässt.