Die Wahrheit hängt von der Perspektive ab, wie das Höhlengleichnis von Platon zeigt

Danke für nichts, Platon

In der Philosophie geht es um das Gute, Schöne und Wahre. Denn bereits Platon wusste, dass die Wahrheit nicht immer unkompliziert ist. Im Höhlengleichnis schildert er die Illusion des Schattenspiels und dessen Zuschauer, die dabei die Welt im Rücken haben. Denn Wahrheit hängt auch von der Perspektive ab. Eine moderne Betrachtung.

Der Weg der Philosophie wird oft vorgestellt als eine Suche nach der Wahrheit. Selten wird man als Philosophin allerdings gefragt, was denn Wahrheit sei. Was man normalerweise gefragt wird, ist eher a) »Und wovon lebst du?«, b) »Und worum geht’s da?« oder, besonders beliebt, c) »Kannst du das in einem Satz erklären, so dass ich es verstehe?«

In der Philosophie wird eigentlich selten nach der Wahrheit gesucht. Meist wird eher danach gefragt, wie wir zu dem gelangen, was wir für Wahrheit halten – mit der erklärten Annahme, dass die erste Frage sich mit Beantwortung der zweiten erübrigt. Das ist wie in dem alten Witz mit dem Mathematiker, der ausrechnen soll, wie hoch ein Haus ist, und der dann davorsteht, an ihm emporschaut und sagt: Ja, das geht.

Wahrheit ist Verlässlichkeit, und da wir keine haben, konstruieren wir sie.

Einer der beiden alten Meister, die immer zitiert werden, machte sich einen Spaß daraus: »Zu behaupten, dass das Seiende sei und das Nichtseiende nicht sei, ist wahr.« Ja, danke vielmals, Aristoteles. Der Versuch, das Wahre zu nehmen, kann nur schiefgehen, meinte Hegel. Warum? Weil alles, was wir haben, nur dieser Vorgang der lebendigen Wahrnehmung ist: unsere Berührung mit dem, was wir nicht selbst sind, im Verlauf der Zeit. Ein Prozess, der dann für uns in ein Abbild dessen erzeugt, was wir für wirklich halten, und einen Raum für Reflexion eröffnet, in dem wir die Pfade des Irrtums entdecken.

Doch lasst euch nicht von meinen ­dilettantischen Worten verwirren. Der andere von den beiden alten Meistern hat die Sache etwas ernster genommen, und statt sich über euch lustig zu machen, hat er mit seinem bekannten Höhlengleichnis eine Geschichte erzählt, in der sich die Wahrheit verbirgt. Hier ist sie:

Stelle dir Menschen in einer mittels russischer Gaslieferungen zuverlässig mit Strom versorgten Wohnstätte vor, die sie aufgrund von Pandemie, Inflation und Klimawandel immer seltener verlassen. Von klein auf sind sie in dieser Stätte an Bildschirme gebannt. Sie sehen nur geradeaus vor sich hin; dabei erscheint ihnen ein blaues Leuchten, das bewegliche Bilder auf ihre kleinen Displays projiziert. Auf diesen Bildschirmen werden allerhand Ausschnitte von Abbildern der Außenwelt gezeigt. Auch wenn die Menschen sich bewegen und bei den seltenen Gelegenheiten, da sie ihre Wohnstätte verlassen müssen, bleiben die Bildschirme in ihren Händen fixiert, begleitet von lautlicher Untermalung durch kleine Geräte, die in die Ohrmuschel eingesetzt werden. Können solche Gefangenen sowohl von sich selbst wie voneinander mehr gesehen haben als die Bildfolge, die in der Ordnung der sogenannten Timeline auf den Displays erscheint, sowie die Kommentare, die dazu angezeigt werden?

Diese Gefangenen würden nichts anderes für wahr gelten lassen als die Bildfolgen und Kommentare in ihren Timelines. Wenn einer von ihnen entfesselt und genötigt würde, plötzlich aufzustehen, den Hals umzuwenden und von dem Bildschirm emporzublicken, und wenn man ihn nun zwänge, seinen Blick auf die Quellenangaben selbst zu richten, täten ihm dann seine Augen nicht weh? Wenn man ihn gar gewaltsam einem digital detox unterwürfe und nicht eher ruhte, als bis man ihn an analoge Kommunikation, ungeschnittene Bildfolgen und recherchierte Zeitungsartikel mit Quellenangaben gewöhnt hätte, würde er diese Gewalt nicht als schmerzlich empfinden und sich dagegen sträuben?

Zuletzt würde er die Berichterstattung, nicht etwa bloß Zusammenschnitte derselben auf Youtube, in voller Wirklichkeit schauen und ihre Beschaffenheit zu betrachten imstande sein. Wenn ein solcher nun wieder herabstiege und sein Profil erneut aktivierte, würden dann seine Augen nicht förmlich eingetaucht in Finsternis? Und wenn er nun wieder wetteifern müsste in der Deutung jener Kommentare, würde er sich da nicht lächerlich machen und würde es nicht von ihm heißen, sein Aufstieg nach oben sei schuld daran und schon der bloße Versuch, nach einer Quelle zu fragen, sei verwerflich? So weit das moderne Höhlengleichnis.

Wir fragen nach der Wahrheit, wenn wir wissen wollen, ob wir etwas Wahres sagen: Ob unsere Erklärung oder Beschreibung der Welt adäquat ist. Darin möchten wir uns sicher fühlen. Solide fake news bubbles gewähren uns diese Form von Sicherheit. Die durchgeknalltesten Verschwörungstheoretiker, die ich je traf, waren die leidenschaftlichsten Sucher und Verteidiger der Wahrheit. Wahrheit ist Verlässlichkeit, und da wir keine haben, konstruieren wir sie. Diese Konstruktion muss allerdings funktionieren, sie muss damit vereinbar sein, wie wir uns in der Welt bewegen und was als Nächstes geschieht. Sie muss belastbare Vorhersagen treffen, damit wir nicht gegen Wände rennen, damit Kommunikation grundsätzlich möglich ist und der Umgang mit den Dingen zu bewältigen.

Alles, was über die unmittelbare dreidimensionale Topologie des Nicht-gegen-Wände-Rennens hinausgeht, erschließen wir uns durch Geschichten: Mythos ist Logos. Platons Vertrauen in das Licht der Vernunft und der Quellenangaben ist eine Geschichte, die sich durch mehr Konsistenz und damit durch mehr Wirkkraft auszeichnet als eine Verschwörungstheorie, die nach drei Schritten auseinanderfällt – wenn wir sie uns nicht dauernd gegenseitig bestätigen. Aber natürlich ist auch diese Geschichte letztlich nur eine Geschichte.

Der Abglanz der Ideen ist ebenso konstruiert wie die Vorstellung, es gebe eine objektive Beschreibung wirklicher Prozesse, die alle Ebenen mit einschlösse. Das Wahre ist das Ganze, schien Hegel es uns einfach zu machen, bevor er hinzufügte: »Das Ganze aber ist nur das durch seine Entwicklung sich vollendende Wesen.« Weder das Seiende noch das Nichtseiende, nicht die Sonne im Rücken, in deren Licht wir die wirklichen Dinge erkennen können, sondern nur das, was geschieht, und die Beziehung, in der es zu sich selbst steht. Geschichten darüber zu erzählen, ist nur eine Weise, damit umzugehen, zu handeln und zu gestalten.

Darum fragen diejenigen Philosophinnen und Philosophen, die sich tatsächlich für die Dinge in der Welt interessieren, nicht nach Wahrheit, sondern nach Wirklichkeit. Denn was zählt, ist die Wirkung, nicht die Abbildung – oder die Abbildung nur, insofern sie Wirkung ist. Die Übereinstimmung von Ding und Intellekt ist ein logischer Kategorienfehler. Durchschaut man ihn, wird die philosophische Frage nach der Wahrheit zu einer Frage nach den Verhältnissen, und die Frage nach der Übereinstimmung wird zur Frage nach der Perspektive. Wenn es einen Grund gibt, unsere Blase zu verlassen, dann das Wissen darum, dass die Wirklichkeit eine gestaltete ist und dass gegenseitige Bestätigung der Verhältnisse uns handlungsunfähig macht.

Wechselseitige Anerkennung hingegen kann die Verhältnisse verändern. Darum ist die Frage, wie wir leben wollen, wichtiger als die Frage nach der Wahrheit. Oder wie die Philosophin Jane Austen schrieb: Es ist eine allgemein anerkannte Wahrheit, dass diejenigen, die die gesellschaftliche Macht haben, nach nichts so sehr Verlangen haben müssen wie danach, den Rest der Welt zum Objekt ihrer subjektiven Vorstellungskraft zuzurichten.