Die Suche nach dem »wahren Ich« kann zu spiritueller Arroganz führen

Das wahre Ich und die spirituelle Arroganz

Yoga ist ein globales Massenphänomen, bei dem das »True Self« – das »wahre Ich« – eine wichtige Rolle spielt. Eine Google-Suche nach den Begriffen »True Self« und »Yoga« ergibt 265.000 Suchergebnisse. Doch was hat es damit auf sich?

Ich beginne meine Suche nach dem »True Self« auf der Website »Self Yoga – the path to your true self«. Hier erhalte ich die folgende Information: »Self Yoga führt Dich durch einen (…) erhabenen Pfad voller Natürlichkeit und Loslösung, jenseits aller falschen Identifikationen mit vergänglichen Dingen.« Ich frage mich, wie ich mich nicht mit vergänglichen Dingen identifizieren soll, denn alle Menschen, Tiere und Pflanzen, aber auch die meisten Dinge und Ereignisse, mit denen ich mich identifizieren könnte, sind qua Naturgesetz vergänglich. Am längsten halten noch Plastikverpackungen und Atommüll, aber darum geht es hier offensichtlich nicht.

Die Psychoanalyse besteht darauf, dass wir ausschließlich in der Interaktion mit anderen zu dem werden, was wir sind. Das bewusste Ich steht demnach in einem permanenten Widerstreit mit unserem emotionsgeleiteten Unbewussten (Es) und den Erwartungen, Werten, Normen und Regeln, die durch unsere Beziehungen mit anderen und der Gesellschaft geprägt wurden (Über-Ich).

In die heutige Welt übersetzt bedeutet Satya: Prüfe deine Quellen und die Fakten.

Viele Strömungen des Yoga geben dagegen vor, ein von allen äußeren Einflüssen und Beziehungen losgelöstes (detached) »Ich« freilegen zu können. Detachment hat deshalb eine zentrale Bedeutung im Yoga: Wir sollen uns nicht an Menschen, Beziehungen und Dinge klammern, sondern sie »loslassen« können, wenn sie uns nicht guttun. So weit, so heilsam. Sollte ich folglich auch Ängste und Sorgen rund um Klimawandel, Krieg und Pandemie mittels Yoga einfach loslassen, um zu meinem »wahren Ich« zu gelangen? Und was ist dann der Unterschied zu Gleichgültigkeit?

Politisch gesehen ist die globale ­Yogabewegung allerdings alles andere als gleichgültig. Seit Beginn der Covid-19-Pandemie finden sich sehr viele Menschen, die sich für Yoga interessieren oder damit ihr Geld verdienen, unter den Teilnehmerinnen und Teilnehmern von Demonstrationen gegen die Coronamaßnahmen in Deutschland. Deshalb gründete sich im August 2020 die Facebook-Gruppe »Shantifa – Yogis gegen rechts«. Die Gruppe erklärt die Attraktivität der Corona-Skepsis für die Yogaszene mit »spiritueller Arroganz«: Wer beginne, Yoga zu praktizieren, habe oft eine Art Erweckungserlebnis. Wer sich zuvor gestresst und unglücklich gefühlt habe, spüre, wie gut die Körperübungen und Meditation tun. Viele halten deshalb den meist vorübergehenden Zustand von körperlicher Entspanntheit und mentaler Ruhe während und nach der Yogapraxis für das »wahre Ich«. Sie denken, dass sie über ein Geheimwissen verfügten und ein Allheilmittel gefunden hätten, das sie über andere erhebt.

Das hat während der Coronakrise zu abstrusen Überzeugungen geführt – namentlich der, dass Yoga ausreiche, um Körper und Geist gegen das Virus zu wappnen. Zusammen mit dem egozentrischen Freiheitsbegriff des detachment, der in der Idee des »True Self« steckt, wird dann der Weg frei für Verschwörungsmythen und Wissenschaftsskepsis. Diese »spirituelle Arroganz« weisen die Sozialpsychologin Anouk Visser und der Sozialpsychologe Roos Vonk von der Radboud-Universität Nijmegen sogar in einer empirischen Studie von 2019 nach. Sie analysieren, wie spirituelles Training je nach Methode eine Selbstwahrnehmung der »spirituellen Überlegenheit« fördern kann, ein Phänomen, das Visser und Vonk als »kollektiven Narzissmus« ­bezeichnen.

Das von dem indischen Gelehrten Patanjali vermutlich vor mehr als 2.000 Jahren verfasste »Yogasutra« gilt als der Ursprungstext Text des Yoga. Es definiert acht Schritte zur »Erkenntnis«. Der erste Schritt sind die Yamas – die ethischen Regeln im Umgang mit unserer Umwelt. Hier geht es mitnichten um das »wahre Ich«, wohl aber um Satya – Wahrhaftigkeit oder Aufrichtigkeit. In die heutige Welt übersetzt bedeutet ­Satya: Prüfe deine Quellen und die Fakten. Im Unterschied zu den zahllosen Publikationen selbsternannter Pandemieexperten entspricht die genannte Studie von Visser und Vonk allen wissenschaftlichen Güte­kriterien.

Trotz allem ist Yoga eine schöne Sache. Wer innere Ruhe aber besser beim Angeln, Kochen oder beim Beobachten von Tieren oder Schiffen finden kann, erreicht eigentlich das Gleiche: endlich mal chillen.