Paul McCartney steht zu Unrecht im Ruf, ein Schnulzensänger zu sein

Dumme Liebeslieder

Paul McCartney, der am 18. Juni 80 wird, verbreitet seit Jahrzehnten gute Laune. Was soll daran falsch sein?

Nach der Auflösung der Beatles im Jahr 1970 gab es zwischen John Lennon und Paul McCartney eine Zeitlang böses Blut. In einer Reihe von Interviews mit dem damals bedeutenden Musikmagazin Rolling Stone, dessen Herausgeber mit Lennon befreundet war, wurde die Legende in die Welt gesetzt, Lennon sei der Hippe und der kulturell wie politisch Wache, McCartney der apolitische, unkultivierte und geldgierige Schnulzenheini. Auch wenn das Unsinn ist, den Ruf wurde McCartney so schnell nicht los.

Nach der Trennung sang John Lennon über Heroin, Angela Davis und Feminismus; sein Song »Imagine« (1971) ist vielleicht der einzige marxistische Welthit. Demonstrativ links zu sein, war cool. Heroin, obwohl es damals eine der Haupttodesursachen von Rockstars war, hatte einen Nimbus von Romantik und – damals ganz wichtig – von Gegenkultur. McCartney hatte zwar bald zwei Nummer-eins-Hits in den USA, aber weder das verspielte Spät-Psychedelic-Kammerstück »Uncle Albert/Admiral Halsey« (1971) noch die zuckrige Ballade »My Love« (1973) galten als cool.

Zum Vorwurf, Paul McCartney sei ein unpolitischer Singer-Songwriter, lässt sich sagen, dass die Beatles sich vor allem auf seinen Druck weigerten, in den Südstaaten der USA vor einem nach »Rasse« segregierten Publikum aufzutreten.

1972 versuchte McCartney, auch einmal cool zu sein, und schrieb als Reaktion auf den »Bloody Sunday« in Nordirland, an dem britische Truppen 13 irische Zivilisten und Zivilistinnen erschossen hatten, einen der schlechtesten Protestsongs aller Zeiten, das hochnotpeinliche »Give Ireland Back to the Irish«. Dass Lennon dieses Stück musikalischer Fremd­scham kurz danach mit »The Luck of the Irish« textlich wie musikalisch noch unterbieten sollte, machte die Sache auch nicht besser.

McCartney lernte seine Lektion und hielt sich mit tagesaktuellen politischen Stellungnahmen fortan ­zurück. Er umarmte stattdessen sein Image als Good-Vibrations-Sunnyboy und arbeitete sich mit einem Welt­hit nach dem anderen zum ersten Popmilliardär hoch. Einer seiner Nummer-eins-Songs war das selbstironische »Silly Love Songs« (1976), in dem er sang: »Some people wanna fill the world with silly love songs. And what’s wrong with that, I’d like to know? ’Cause here we go again: I love you. I love you.«

Derart offene Bekenntnisse zur leichten Muse waren erfrischend in einer Zeit, in der sperrige und versponnene Prog-Rock-Acts wie Yes und Pink Floyd oder breitbeinige Macho-Rock-Kapellen wie Led Zeppelin die Bühnen und Schallplattengeschäfte dominierten. McCartney bediente die Kundschaft, die einfach nur hübsche Melodien im Radio und eine gute Zeit auf Konzerten haben wollte, und er bediente sie besser als die meisten anderen. Nörgler, die an McCartney mangelnden Tiefgang und das Fehlen einer politischen Botschaft kritisierten, übersahen, dass manche Menschen keine Lust darauf hatten, sich von reichen Rockstars belehren zu lassen. Nach einer harten Woche voller Maloche wollten viele einfach nur abschalten und unterhalten werden.

Die McCartney-Hater ignorierten zudem, wie schwer es ist, erfolgreiche »seichte« Popsongs zu schreiben – und welch großartiger Musiker McCartney war. Bob Dylan hingegen wusste das: Er sagte, McCartney sei der einzige Kollege, vor dem er »Ehrfurcht« empfinde. Andere Musikerinnen und Musiker wussten ebenfalls Bescheid; Bassisten zumal, denn McCartney hatte in seiner Zeit mit den Beatles das Bassspiel revolutioniert. Wer das nachhören möchte, dem sei das Stück »Silly Love Songs« mit seinem unfassbar fetten und groovenden Bass-Riff empfohlen. Oder »Something« von den Beatles. Oder jede andere Beatles-Nummer nach 1965. McCartney ist außerdem ein begnadeter Sänger mit einem Stimmumfang von vier Oktaven. In Expertenkreisen gilt er als einer der besten Rocksänger überhaupt oder auch als »Mann der 1 000 Stimmen«, da er mühelos zwischen Balladensäusler und Rockshouter hin und her wechseln konnte.

Die popkulturelle Bedeutung McCartneys kann man kaum hoch genug einschätzen. Nicht nur begleitete er als Mitglied der einflussreichsten Band der Gegenwart die gesellschaftlichen Umbrüche der sechziger Jahre, er schrieb mit »Helter Skelter« auch den ersten Heavy-Metal-Song, popularisierte mit seinem James-Bond-Titellied »Live and Let Die« (1973, gemeinsam mit Linda McCartney) Reggae und hatte mit seiner ausgeprägt hohen Arbeitsmoral einige Werke der Beatles überhaupt erst ermöglicht. Es war Paul McCartney, der – auch mit Hilfe einer Prise Kokain – seine drei Kollegen dazu brachte, aus einer losen Ansammlung von Probeaufnahmen das essentielle Meisterwerk des Psychedelic, »Sgt. Pepper’s Lonely Hearts Club Band« (1967), zu machen. Es war McCartney, der John Lennon in Untergrund-Clubs und Galerien schleppte, wo dieser dann seine spätere Frau Yoko Ono kennenlernen sollte.

Zum Vorwurf, McCartney sei ein unpolitischer Singer-Songwriter, lässt sich sagen, dass die Beatles sich vor allem auf seinen Druck weigerten, in den Südstaaten der USA vor einem nach »Rasse« segregierten ­Publikum aufzutreten. »Segregation ist verrückt«, begründete er so pointiert wie richtig in einem Interview im Jahr 1965 die Absage eines Konzerts in Jacksonville, Florida. Mit »Blackbird« (1968) schrieb er einen der besten und schönsten Songs über die Bürgerrechtsbewegung der sechziger Jahre. Und bis heute kann man dem Mann nicht vorwerfen, er hätte sich politisch grob daneben­benommen, wie zum Beispiel Roger Waters mit seinem antiisraelischen Antisemitismus. McCartney war immer gegen Rassismus, unterstützte Bemühungen um eine Schusswaffenregulierung in den USA, trat für ein Verbot von Landminen ein, propagierte Vegetarismus und warb für die Legalisierung weicher Drogen. Was soll daran falsch sein?

Apropos weiche Drogen: Nachdem ihn Bob Dylan mit Marihuana bekannt gemacht hatte, entwickelte er eine fast lebenslange Leidenschaft für Cannabis, die ihn auch immer wieder mit dem Gesetz in Konflikt brachte. Einmal wäre das fast böse ausgegangen. 1979 fand der japa­nische Zoll in seinem Gepäck über 200 Gramm besten Grases, woraufhin er neun Tage in einer Gefängniszelle saß. Ihm drohten im schlimmsten Fall zehn Jahre Knast. Dank di­plomatischer Interventionen entkam er diesem Schicksal und wurde nur aus dem Land geworfen. Mit dem Kiffen hörte er aber erst viele Jahre ­später auf, nämlich kurz nach seinem 75. Geburtstag.

Paul McCartneys musikalische ­Relevanz endete Anfang der achtziger Jahre. Im Duett mit Stevie Wonder landete er mit der zuckersüßen Anti-Rassismus-Ballade »Ebony and Ivory« (1982) noch einmal in allen Hitparaden der Welt. Das dazugehörige Album »Tug of War« war auch das letzte, auf dem McCartney zu Bestform auflief, vielleicht angetrieben durch den Schock, den John Lennons Ermordung 1980 bedeutet hatte. Ein Popjuwel reiht sich auf dieser Platte an das andere. Das von dem ehema­ligen Beatles-Arrangeur George Martin produzierte Album war das erste von Paul McCartney, das digital abgemischt und auf CD veröffentlicht wurde. Sein letzter großer Hit war kurz darauf »Say Say Say« (1983), wieder ein Duett, diesmal mit Michael Jackson.

Nach diesen letzten Welthits tat McCartney es den Rolling Stones gleich und verdiente seine Millionen hauptsächlich mit Welttourneen, auf denen er bis heute vor einem dank­baren Publikum seine größten Hits abspult. Nein, nicht abspult, sondern engagiert vorträgt. Klar, seine Stimme ist nicht mehr, was sie noch vor gut zehn Jahren war, aber dank einer der besten Begleitbands der Welt und einem fast unerschöpflichen Reservoir an Evergreens, die fast jeder mitsingen kann, ist kaum ein Konzertbesucher wirklich enttäuscht.