Die Forderungen nach einer ­besseren »Work-Life-Balance« bleiben harmlos

Mit mehr Balance das Soll erfüllen

Die Generation der Millennials wünscht sich mehr Freizeit und Erfüllung am Arbeitsplatz. Doch den grundlegenden Zwang zur Erwerbsarbeit stellt sie selten in Frage.

Die jungen Leute wollen nicht mehr arbeiten! Als gegen Ende der siebziger Jahre die erste im sogenannten Wirtschaftswunder aufgewachsene Generation, die der Babyboomer, auf den Arbeitsmarkt strömte, waren die Sorgen der Älteren groß. Diese Kinder der Fünfziger und Sechziger verfügten, so hieß es, nicht mehr über die notwendige Arbeitsdisziplin, sie seien nicht mehr bereit, sich in die Betriebshierarchie einzufügen, besäßen kein Leistungsethos und würden überhaupt viel lieber ihr Leben genießen, als hart zu arbeiten. Die Psychologie diagnostizierte einen »Neuen Sozialisationstypus« (NST), der narzisstisch, hedonistisch und konsumistisch geprägt sei; und in der Soziologie war von einem grundlegenden »Wertewandel« (Ronald Inglehart) die Rede, der mit einer »postmaterialistischen« Orientierung auf Selbstverwirklichung, individuelle Autonomie und Lebensqualität einhergehe.

Doch weder trafen die damaligen düsteren Prognosen der Konservativen (etwa der Kommunikationswissenschaftlerin Elisabeth Noelle-Neumann) ein, die mal wieder eine Art Untergang des Abendlandes befürchteten, noch erfüllten sich die linksliberalen Hoffnungen auf eine »Humanisierung der Arbeitswelt« mit dem Generationenwechsel oder gar auf die Entwicklung hin zu einer humanen Gesellschaft. Vielmehr stellte sich heraus, dass die Bedürfnisse der nachwachsenden Generation durchaus kompatibel waren mit den neuen Anforderungen, die das damals entstehende postfordistische Arbeitsregime an die Verkäufer und Verkäuferinnen der Ware Arbeitskraft stellte.

Durch die allgemeine Flexibilisierung sowie die Verschärfung der Konkurrenz und des Leistungs­drucks wurden die Individuen nur noch stärker auf sich und ihre privaten Interessen zurückgeworfen.

Nicht mehr der Typus des Betriebssoldaten, der bereitwillig die immer gleichen, monotonen Tätigkeitsabläufe wiederholte, war gefragt, sondern der flexible Mensch, der in der Lage ist, auch eigene Entscheidungen zu treffen, mit unvorhersehbaren Situationen umzugehen und komplexe Prozesse zu steuern. Dass es dieser Mensch mit den Arbeitszeiten nicht so genau nimmt, sondern gerne auch mal länger im Betrieb bleibt, wenn ihm dabei das Gefühl vermittelt wird, »eigenverantwortlich« und »kreativ« tätig zu sein, war ein willkommener Nebeneffekt dieser Neustrukturierung der Produktion.

Auf diese Weise verwandelte sich die Rebellion gegen die fordistischen Arbeitsnormen bald in eine Revolution der Arbeitsproduktivität, die es dem Kapital erlaubte, trotz einschneidender Krisen immer weiter zu akkumulieren. Der Arbeitsdruck nahm nicht ab, sondern zu, weil immer mehr Verantwortung auf die Einzelnen abgewälzt und die Leistungsmessung weiter indivi­dualisiert wurde. Und auch die Arbeitszeit, deren Verkürzung noch in den achtziger Jahren als wichtiger Beitrag zur Verbesserung der Lebensqualität und zur Bekämpfung der Arbeitslosigkeit galt, ist seitdem selbst in den meisten tarifgebundenen Sektoren faktisch wieder verlängert worden – ganz zu schweigen von dem wachsenden Sektor prekärer Arbeit, wo 60 und mehr Stunden pro Woche sowieso schon der erbärmliche Standard geworden sind.

Die katastrophalen Folgen dieser Entwicklung belegt eindrucksvoll eine gemeinsame Studie der Weltgesundheitsorganisation (WHO) und der Interna­tionalen Arbeitsorganisation (ILO), die im vergangenen Jahr vorgestellt wurde. Demnach sterben weltweit pro Jahr rund 750 000 Menschen an einem Herzinfarkt oder einem Schlaganfall, weil sie mindestens 55 Stunden pro Woche gearbeitet haben. »Wir haben den tödlichsten Risikofaktor in der ­Arbeitswelt gefunden. Es sind nicht die Maschinen, nicht der Feinstaub, es sind zu viele Arbeitsstunden«, wird Frank Pega, der Leiter der Studie im Spiegel zitiert.

Vor diesem Hintergrund ist es mehr als verständlich, dass die Generation der sogenannten Millennials, also der heute 27- bis 41jährigen, offenbar nicht mehr bereit ist, ihr ganzes Leben der Karriere zu opfern und in allen anderen Lebensbereichen zurückzustecken. Das jedenfalls geht aus verschiedenen Untersuchungen hervor, die in letzter Zeit vorgelegt wurden, zum Beispiel dem Report »Working Better Together« der dänischen Firma Workday, die ­unter anderem interaktive »Feedback-Technologie« entwickelt, die helfen soll, »die Mitarbeitereinbindung und -produktivität zu steigern«, um so die »geschäftliche Performance« zu verbessern.

Deutlich wird allerdings auch, dass diese skeptische Haltung zur Arbeit sehr individualistisch geprägt ist. Nicht die Erwerbsarbeit als solche wird in Frage gestellt, wie es zumindest ansatzweise in den achtziger Jahren im Rahmen der Neuen Sozialen Bewegungen der Fall war, vielmehr wird eine aus­geglichene »Work-Life-Balance« angestrebt – man will also neben der Arbeit noch Zeit und Energie für Freizeit und Familie haben. Außerdem soll die Arbeit »sinnhaft« sein, wobei freilich sehr vage bleibt, was darunter zu verstehen ist. Wenn der »Sinn« aber gegeben scheint, identifizieren sich die Millennials umso mehr mit ihrer Tätigkeit und sind durchaus zu überlangen Arbeitszeiten bereit, wie eine Studie des Instituts für Demoskopie Allensbach (IfD) aus dem Jahr 2020 festgestellt hat. Von einer grundsätzlichen Ablehnung des kapitalistischen Arbeits- und Leistungszwangs kann also nicht die Rede sein, auch wenn dieser durchaus partiell kritisiert wird.

Verwundern kann diese ebenso individualisierte wie widersprüchliche Haltung eigentlich nicht. Immerhin handelt es sich um eine Generation, die in der Ära des Neoliberalismus auf­gewachsen ist und der von Anfang an eingebläut wurde, dass nur von ihrer ­eigenen Leistung abhänge, was sie aus ihrem Leben macht. Und in einer Gesellschaft, die auf allgemeiner Warenproduktion beruht, ist Arbeit das ­zentrale Mittel gesellschaftlicher Teilhabe und Anerkennung. Daran hat der postfordistische Umbruch der Arbeitswelt nichts geändert. Im Gegenteil: Durch die allgemeine Flexibilisierung sowie die Verschärfung der Konkurrenz und des Leistungsdrucks wurden die Individuen nur noch stärker auf sich und ihre privaten Interessen zurückgeworfen.

Weil damit auch der Blick auf das gesellschaftliche Ganze immer mehr verloren gegangen ist, wird bei den Diskussionen über die »Work-Life-Balance« gerne ausgeblendet, dass die Mehrheit der Menschen innerhalb des Systems der Arbeit ohnehin kaum ernsthafte Wahlmöglichkeiten besitzt. Sie können sich keine als sinnvoll empfundene Tätigkeit aussuchen und auch nicht auf eine sogenannte Kar­riere verzichten, um mehr Zeit für sich haben, sondern müssen sich schlicht mit den miesen Jobs an der Supermarktkasse, in der Putzkolonne oder beim Paketdienst ­abfinden und überlange Arbeitszeiten hinnehmen, wenn sie überhaupt über die Runden kommen ­wollen.

Momentan hilft ihnen zwar ein wenig, dass in den kapitalistischen Zentren die Nachfrage nach Arbeitskräften sehr hoch ist, so dass sie leichter zwischen verschiedenen schlechten und etwas weniger schlechten Stellen wählen können. Doch erstens wird diese Konjunktur eher früher als später zu Ende gehen. Zweitens lässt sich der Arbeitskräftemangel im prekären Sektor leicht durch weitere Einwanderung abmildern. Und drittens schließlich frisst derzeit die Inflation die relativen Lohnsteigerungen schnell wieder auf.

Allerdings haben der relative Arbeitskräftemangel und die nachlassende Arbeitsmotivation in den westlichen Ländern auch demographische Gründe. Da die Babyboomer nach und nach in Rente gehen, werden zumindest im qualifizierten Segment derzeit mehr Arbeitsplätze frei, als durch ­jüngere Fachkräfte besetzt werden können. Eine unternehmerisch clevere ­Lösung für dieses Problem wird derzeit in Großbritannien ausprobiert. Dort begann Anfang Juni ein großangelegtes Pilotprojekt zur Einführung der Viertagewoche in 70 Unternehmen von der großen Bank bis hin zum Fish-and-Chips-Restaurant. Die Idee stammt von dem Finanz- und Immobilien­unternehmer Andrew Barnes, der die NGO »4 Day Week Global« gegründet hat. Er ist überzeugt, dass die Menschen in vier Tagen genauso produktiv sein können wie in fünf Tagen, weil sie dann motivierter und ausgeruhter sind. Deshalb soll die Bezahlung gleich bleiben, doch müssen sich die Mitarbeiter und Mitarbeiterinnen auch dazu verpflichten, in der reduzierten Zeit das Gleiche zu leisten wie vorher.

In dem britischen Pilotprojekt, das wissenschaftlich begleitet wird, soll nun untersucht werden, ob diese Rechnung tatsächlich aufgeht. Sollte das der Fall sein, ist klar, wohin es führen wird, wenn das Modell sich durchsetzt: Nach und nach könnte der neue Produktivitätsstandard, der auf einer weiteren Intensivierung und Verdichtung der Arbeit beruht, verallgemeinert werden, während die Löhne, anderslautenden Versprechen zum Trotz, sukzessive sinken dürften, etwa durch mangelnde Anpassung an die Inflation.

Das Konzept von 4 Day Week Global bedeutet daher das genaue Gegenteil des emanzipatorischen Fortschritts, den es verspricht. Es stellt keine Befreiung vom Arbeits- und Leistungsdiktat dar, sondern verschärft dieses vielmehr. Etwas ganz anderes ist die Forderung nach einer radikalen Arbeitszeitverkürzung, wie sie etwa die 4-Stunden-Liga erhebt, ein 2016 gegründetes Bündnis, das sich für den 4-Stunden-Tag einsetzt. Ihr geht es darum, die Lohnarbeit zurückzudrängen, um mehr Zeit für ein gutes Leben zu haben, für eine geschlechtergerechte Neuverteilung von Sorgetätigkeiten und um dem Raubbau an der Natur ein Ende zu setzen. Sie zielt also nicht auf eine neue Produktivitätsrevolution, sondern auf den Bruch mit der kapitalistischen Effizienz- und Leistungslogik. Der Boomer-Generation mag diese Arbeitskritik wie das Gespenst ihrer eigenen Jugend vorkommen. Tatsächlich jedoch ist sie aktueller denn je.