Die Forderung nach Arbeitszeitverkürzung könnte die Gewerkschaften mit der Klimabewegung zusammenbringen

»Bündnisbildungen sind zwingend nötig«

Interview Von Tobias Prüwer

Oft stehen die Ziele von Gewerkschaften und Klimabewegung in Konflikt zueinander, doch der Kampf um eine Verkürzung der Arbeitszeit ist ein Feld, auf dem sie zusammenarbeiten könnten, argumentiert der Arbeitssoziologe Steffen Liebig.

Klima- beziehungsweise Ökobe­wegung und Gewerkschaften haben oft ein distanziertes Verhältnis. Warum eigentlich?

Die gegenseitige Distanz geht darauf zurück, dass bei großen Teilen der Klimabewegung die Konsum- und die Wachstumskritik im Fokus stehen, ­weniger die Interessen von Lohnabhängigen und betriebliche Konflikte. Auf der anderen Seite haben die Gewerkschaften in den vergangenen Jahren große Teile ihrer Mitglieder- und Machtbasis und ihres gesellschaftlichen Gestaltungsanspruchs eingebüßt. Die Utopiefähigkeit nahm ab, man konzentrierte sich zunehmend auf Abwehrkämpfe und eher strukturkonservative Interessenpolitik.

Sie sprechen von einer »doppelten Leerstelle« in der Politik beider Gruppen. Worin besteht die?

Sie besteht darin, dass zwar sowohl Gewerkschaften als auch Klimabewegung Arbeitszeitverkürzung als wichtiges politisches Thema identifiziert haben, aber wenig gegenseitige Bezüge bestehen. So fehlt es den sehr weitgehenden arbeitszeitpolitischen Vorschlägen aus der sogenannten Ökologischen Ökonomik an Um- und Durchsetzungsperspektiven. Und die Gewerkschaften verbinden ihrerseits tarifliche Arbeitszeitpolitik selten mit Klimapolitik. Die einen sind machtlos und verfolgen eher individuelle Ansätze, die anderen verknüpfen arbeitsmarktpolitische Ziele zu zögerlich mit der sozialökologischen Transformation.

Arbeitszeitverkürzung zielt darauf ab, bei gleichbleibender Produktion Vollbeschäftigung zu erhalten. ­Warum ist das ökologisch?

Arbeitszeitverkürzung sichert Beschäftigung, aber nicht wie üblich primär über Wirtschaftswachstum. Da wirtschaftliche Aktivitäten mit Ressourcenverbrauch und Emissionen einhergehen, ist dies ökologisch vorteilhafter als der klassische Wachstumspfad. Hinzu kommt, dass sich die Motivation zur Arbeitszeitverkürzung gewandelt hat. Im Fokus stehen heute kollektiv erkämpfte individuelle Wahlmöglichkeiten zur Arbeitszeitverkürzung und ganze freie Tage zur Entlastung, nicht nur ein kürzerer Arbeitstag bei gleichem Gehalt. Derartige Verkürzungen bedeuten ­weniger große Einkommenssteigerungen, oft sogar Einkommensverzicht für mehr Freizeit, womit ein ökologisch positiver, quasi antikeynesianischer Effekt verbunden sein kann.

»Das Dilemma ›Jobs vs. Umwelt‹ lässt sich nicht in allen Branchen auflösen.«

Die Senkung des Arbeitsvolumens führt zur Stabilisierung der gesellschaftlichen Lohnsumme und damit zur Stabilisierung der Umweltbelastung durch Konsum. Außerdem kann mehr freie Zeit eine ressourcensparendere Lebensweise ermöglichen, da lange Arbeitszeiten mit dem Konsum von relativ energieintensiveren Waren und Dienstleistungen einhergehen, man denke an Mobilität und Ernährung. Grundsätzlich kann Arbeitszeitverkürzung aber nur ein Baustein einer ökologischen Politik sein.

Bleibt gewerkschaftliche Arbeitszeitpolitik nicht dennoch produk­tivitätsorientiert?

Ja, aber das finde ich wenig überraschend. Bemerkenswert ist vielmehr, dass die Gewerkschaften vor der Pandemie unter schwierigen Bedingungen die Arbeitszeitpolitik überhaupt wiederbelebt haben. Die Wahlmodelle zwischen Geld und Zeit sind beliebt. Beispielsweise bei der Eisenbahn- und Verkehrsgewerkschaft fand die Möglichkeit, bis zu zwölf Tage mehr Urlaub zu nehmen, großen Zuspruch. Das führte zu Tausenden neu ausgeschriebenen Stellen. Und die IG Metall hat Anspruchskriterien formuliert, über die man Geldleistungen in freie Tage umwandeln kann. Da geht es um soziale Faktoren wie familiäre Sorgearbeitsverpflichtungen für Kinder oder zu pflegende Angehörige. Daraus erfolgt eine Aufwertung nicht erwerbsförmiger Arbeit. Das kratzt am alten produktivistischen Bild. Kritik am Produktivismus bleibt notwendig, muss sich aber fragen, wie sie wirkmächtig werden will.

Wird die Gewerkschaftsmacht nicht sowieso überschätzt? In Nordrhein-Westfalen werden seit Wochen Kliniken bestreikt, ohne dass die Öffentlichkeit davon Notiz nimmt.

Man muss sich der betrieblichen und gesellschaftlichen Machtverhältnisse bewusst sein. Allerdings gilt das für die Klimabewegung noch mehr. Viele Aktivisten von Fridays for Future mussten erleben, dass 2019 trotz großer Massenmobilisierung nur ein halbherziges »Klimaschutzgesetz« verabschiedet wurde. Aufgrund der relativen Schwäche allerlei progressiver Akteure sind gesellschaftliche Bündnisbildungen zwingend nötig, was verbindende Projekte voraussetzt – und die Einsicht in die eigene relative Ohnmacht.

Gewerkschaften setzen sich für die Kohleförderung ein, für den Verbrennungsmotor – wie können sie sich ökologisch ausrichten?

Ökologie ist ja nicht ihre primäre Aufgabe, sondern die Interessenvertretung ihrer Mitglieder. Das Dilemma »Jobs vs. Umwelt« lässt sich nicht in allen Branchen auflösen. In den fossilen Branchen müssen für den Klimaschutz Arbeitsplätze verlorengehen, anderswo könnten Beschäftigungskapazitäten auf­gebaut werden. Da in diesen eher umweltgerechten Branchen, etwa personennahen Dienstleistungen, weniger Profit erwirtschaftet wird, geht das nicht ohne Umverteilung. Arbeitszeitverkürzungen können die Folgen dieses Wandels moderieren. Die Gewerkschaften bewegen sich da durchaus. Die IG Metall schlug ein sogenanntes Transformationskurzarbeitsgeld vor, das das bestehende Instrument des Kurzarbeitsgeldes mit einer Qualifizierungszeit von maximal zwei Jahren für Bereiche kombiniert, wo die Produktion umgestellt wird.

Welches Ausmaß der Zusammenarbeit zwischen Gewerkschaften und Klimabewegung halten Sie für realistisch?

Das hängt von der Bereitschaft ab, gemeinsame Perspektiven zu entwickeln. Im ÖPNV sind die Bedingungen für eine Zusammenarbeit, wie 2020 die gemeinsame Kampagne »Wir fahren ­zusammen« von Fridays for Future und Verdi zeigte, natürlich besser als in der Kohleindustrie, gleichwohl auch diese Allianzbildung kein Selbstläufer war. Verdi und Fridays for Future agierten damals in 30 Städten mit einer ­gemeinsamen Kampagne und haben mit Forderungen nach einem Ausbau des ÖPNV laufende Tarifrunden politisiert. Sie machten einen offensiven Transformationskonflikt daraus, statt wie sonst einen Abwehrkampf zu ­führen.

Besonders in Ostdeutschland schlagen ökologischen Ideen auch Ablehnung und Hass entgegen. Aktivisten der Kampagne »Ende Gelände« wurden in der Lausitz bedroht, Aktivisten gegen den Ausbau der A 14 direkt angegriffen. Verliert hier eine grün agierende Gewerkschaft ihre Basis?

Der lokale Schulterschluss der extremen Rechten mit antiökologischen Akteuren ist eine große Gefahr. Hier braucht es gut aufgestellte Gegenbewegungen und Schutzstrukturen für Ak­tionen. Der DGB positioniert sich deutlich gegen die AfD. Gewerkschaften, ob grün oder nicht, sind durch die extreme Rechte ebenfalls bedroht.

Die Forderung nach Stundenabbau bleibt dem Arbeitsfetisch verhaftet, könnte man einwenden.

Die zentrale Stellung von Lohnarbeit ist ein Kennzeichen der Arbeitsgesellschaft, in welcher wir immer noch ­leben. Der Arbeitsfetisch hat somit eine materielle Grundlage. Dennoch be­obachteten wir im Rahmen von tariflichen Wahlmodellen, dass die Beschäftigten mehr Freizeit bevorzugen. Das kann im Sinne einer vorsichtigen ­Infragestellung verstanden werden. Nicht jede Arbeitszeitverkürzung ist systemtransformierend. Dennoch berührt sie, anders als reine Lohnpolitik, auch nicht erwerbsförmige Arbeits­bereiche.

Wie passen Mehrfachjobber oder Erwerbslose in die Diskussion über Arbeitszeitverkürzung?

Im Niedriglohnbereich gibt es wenig Spielraum. Der gesetzliche Mindestlohn war hier zwar ein Erfolg, aber es zeigt sich auch die Schwäche der Gewerkschaften, die diesen Bereich kaum abdecken. Eine Ausdehnung des Flächentarifs steht ebenfalls nicht auf dem Programm. Wenn die Tarifbindung stark ist, geraten auch die nichttariflichen Bereiche unter Zugzwang. Auch hier braucht es Bündnispolitik, um im Tarifsystem und über es hinaus zu ­wirken.

Um auf die Utopiefähigkeit zurückzukommen: Welche Perspektive schlagen Sie vor?

Die gewerkschaftlichen Kämpfe für Arbeitszeitverkürzungen haben ihre systemische Grenze im Erhalt beziehungsweise der Steigerung der Konkurrenzfähigkeit der Einzelkapitale auf dem Markt. Dem konkurrenzgetriebenen »Heißhunger nach Mehrarbeit«, wie Marx es nennt, und der immer »dichteren Ausfüllung der Poren der Arbeitszeit« sollte die radikale Perspektive einer bedürfnisorientierten Absenkung der Arbeitszeit entgegengestellt werden – auch aus ökologischen Gründen. Diese Perspektive scheint in der Forderung nach Arbeitszeitverkürzung immer durch. Das absolute Arbeits­volumen könnte abgesenkt werden. Dabei müssten zeitliche und materielle Umverteilungen sicherstellen, dass das nicht wie bisher zu Erwerbslosigkeit und sozialer Existenzangst führt.

 

Arbeitssoziologe Steffen Liebig
Foto: sfb294-eigentum.de

 

Der Arbeitssoziologe Steffen Liebig hat in seiner Studie »Arbeitszeitverkürzung als Konvergenzpunkt? Sozial-ökologische Arbeitskonzepte, Wachstumskritik und gewerkschaftliche Tarifpolitik« mögliche Gemeinsamkeiten zwischen Gewerkschafts- und Klimabewegung untersucht. Im Interview erklärt er, worin diese bestehen können – und wo es Konflikte gibt.