Die Nazi-Vergangenheit der Sportzeitschrift Kicker

Zentrales Sprachrohr der NS-Propaganda

Zum 100. Jubiläum ließ die Zeitschrift »Kicker« ihre Geschichte von Sporthistorikern aufarbeiten.

Mitte der zehner Jahre leisteten die Sporthistoriker Lorenz Peiffer und Henry Wahlig Pionierarbeit. In ihrem Buch »Jüdische Fußballvereine im nationalsozialistischen Deutschland« brachten sie einen Teil der Sportgeschichte ans Licht, der bis dahin weitgehend unbekannt war. Einen ähnlichen Charakter hat nun das von ihnen ­herausgegebene Buch »Einig. Furchtlos. Treu. Der ›Kicker‹ im Nationalso­zialismus – eine Aufarbeitung«. Der Verlag der Fußballzeitschrift hatte sein 100jähriges Jubiläum zum Anlass genommen, diese wissenschaftliche Studie in Auftrag zu geben – und allen Autoren Zugang zum kompletten ­Archiv der Zeitschrift zu geben.

Der Sportjournalismus in der Zeit des Nationalsozialismus ist bisher kaum erforscht worden, obwohl die Sportpublizistik ab 1933 »zu einem zentralen Sprachrohr der NS-Propaganda wurde«, wie Peiffer und Wahlig schreiben. Was sich wiederum auch an dem Bedeutungszuwachs ablesen lässt, den der Kicker zwischen 1933 und 1939 erlebte: Als die Nationalsozialisten an die Macht kamen, lag die Auflage bei 20 000 Exemplaren, sechs Jahre später hatte sie sich verfünffacht.

Es erschienen im »Kicker« auch Texte, die keinerlei sportlichen Bezug hatten. Unter Überschriften wie »Einig, furchtlos, treu« wurde der Überfall der Wehr­macht auf Polen bejubelt.

Dazu dürften auch Artikel beigetragen haben, in der Politik eine größere Rolle spielte als der Fußball. Im Juli 1939 schrieb Otto Nerz, der zehn Jahre lang Trainer der DFB-Auswahl (1926–1936) gewesen war, in seinem Aufsatz »Der deutsche Fußball-Lehrer als Sportlehrer«: »In der Zeit vor der Machtübernahme durch den Na­tionalsozialismus« hätten »Ausländer und Juden die besten Stellen inne und übten – von der jüdischen Presse gestützt – eine zersetzende Wirkung aus«. Seit 1933 habe sich, so Nerz, herausgestellt, »daß es ohne diese Elemente nicht nur geht, sondern, daß es jetzt erst geht, nachdem sie verschwunden sind«.

Es erschienen im Kicker aber auch Texte, die keinerlei sportlichen Bezug hatten. Der Buchtitel etwa geht auf die Überschrift eines Artikels zurück, in dem der Überfall der Wehrmacht auf Polen bejubelt wurde. Zu Beginn des Zweiten Weltkrieges erschien eine Zeitlang eine Rubrik, in der ein »Dr. R.« militärische Erfolge feierte, etwa einen »kühnen Angriff auf schwere britische Seestreitkräfte«, bei dem »6 schwere und 4 Treffer mittleren Kalibers auf Schlachtschiffe und Kreuzer das stolze Ergebnis waren«.

Äußerst wertvoll für die Geschichtsschreibung des hiesigen Sportjournalismus sind knapp 30 »biographische Skizzen« von prägenden Kicker-Mitarbeitern – obwohl die Herausgeber bescheiden darauf hinweisen, dass »die Identifizierung einer großen Zahl der zeitgenössischen ›Kicker‹-Redakteure« gar nicht möglich gewesen sei, weil viele Artikel nur mit Nachnamen oder Kürzel oder gar nicht gekennzeichnet waren.

Eine der, so die Herausgeber, »schillerndsten Persönlichkeiten in der Reihe der ›Kicker‹-Redakteure der 1930er und 1940er Jahre« war Franz Richard Behrens, der vorwiegend unter dem Pseudonym Peter Mohr für das Blatt schrieb. Er hatte vorher unter anderem am Drehbuch für den Stummfilm »Hamlet« mitgewirkt und expressionistische Gedichte veröffentlicht. 1995 erschien in der renommierten Edition Text + Kritik eine Behrens-Werkausgabe, deren Herausgeber Gerhard Rühm schreibt, die frühen Gedichte des 1977 in Ostberlin verstorbenen Autors nähmen »manches von dem vorweg, was als Erfindung von Kurt Schwitters gilt«.

Als Peter Mohr schrieb Behrens für den Kicker ab 1939 die Kolumne »Hier spricht die Reichshauptstadt«, später bekam sie den Titel »Tagebuch von F. Richard«. In dieser Funktion rühmte der Dichter Joseph Goe­b­­bels’ berüchtigte Sportpalastrede als »große Rede« und hetzte gegen den »Machtdurst der Juden«. Peiffer und Wahlig schreiben: »Je schlechter sich (…) die Kriegslage für Deutschland entwickelte, desto radikaler politisierte Behrens seine Texte und verstieg sich immer häufiger zu Durchhalteparolen, die auch eins zu eins aus der Feder des NS-Propagandaministeriums hätten stammen können.«

Diese Entdeckung ist ein für die Literaturgeschichte relevanter Scoop. Denn bisher war zwar bekannt, dass Behrens unter dem Pseudonym Peter Mohr als Sportjournalist tätig war, nicht aber, dass er unter anderem unter diesem Namen NS-propagan­distische Texte verfasst hatte. In der Kurzbiographie, die die Edition Text + Kritik zu Behrens’ Büchern veröffentlicht hat, ist die Rede davon, dass er sich 1935 in die »innere Emigration« zurückgezogen habe.

Ebenso essentiell wie die Recherche über den zum nationalsozialistischen Kolumnisten gewordenen Pionier des Expressionismus ist ein Beitrag der Autoren Thorben Pieper, Christopher Kirchberg und Marcel Schmeer. Sie werfen einen Blick auf Entnazifizierungsverfahren von Journalisten, die während der NS-Zeit oder danach oder in beiden Phasen Kicker-Mitarbeiter waren. Diese hätten sich, so das Autorentrio, in den Verfahren »oftmals als dezidiert unpolitisch inszeniert« – was sich mit den zahlreichen teilweise oder ausschließlich politischen Texten, die in »Einig. Furchtlos. Treu« analysiert werden, eher nicht in Einklang bringen lässt.

Pieper, Kirchberg und Schmeer stellen in ihrem Beitrag die zentrale Rolle heraus, die während der Zeit der Entnazifizierung Friedebert Becker spielte. Er war ab 1941 »Hauptschriftleiter«, also Chefredakteur, beim Kicker und ab 1951 dann dessen Herausgeber – nachdem er 1946 den Olympia-Verlag gegründet hatte, in dem der Kicker bis heute erscheint. Becker war nicht Mitglied der NSDAP gewesen, weshalb er prädestiniert war, für entsprechend belastete Kollegen »Persilscheine« auszustellen, von denen diese dann in ihren Entnazifizierungsverfahren profitierten. Die Kontakte, die sich durch dieses Netzwerk um Becker bildeten, kamen letztlich auch beim Wiederaufbau des Kicker zum Tragen.

Zu diesem Netzwerk gehörte auch August Rasch, laut den Herausgebern »einer der prägenden ›Kicker‹-Journalisten während und unmittelbar nach der Zeit des Nationalsozialismus«. Er war ab 1935 Mitglied des SS und dort ab 1942 Untersturmführer gewesen. Im Rahmen des Entnazifizierungsverfahrens begründete Rasch seinen Eintritt unter anderem damit, »dass er für sein berufliches Fortkommen Mitglied einer nationalsozialistischen Organisation habe werden müssen«. Ein nicht untypisches Argumentationsmuster seinerzeit: Ich hatte gar keine andere Wahl, und mit Politik hatte das nichts zu tun.

In einem anderen Teil seiner Ausführungen bewies Rasch dann aber einen Phantasiereichtum, der ungewöhnlich gewesen sein dürfte: »Ich sagte mir, wenn Du schon zu irgend einem Haufen musst, dann suchst Du Dir schon die schönste Uniform heraus.« Um zu erklären, dass er im Alltag sehr häufig in SS-Uniform zu sehen war, drehte er seine Argumentation noch etwas weiter ins Absurde: »Dass der Krieg nicht gewonnen werden kann, stand für mich von Haus aus fest. Also sagte ich mir: Diese Uniform brauchst Du nicht mehr lange. Bevor Du Deine Zivilanzüge kaputt machst, wird zuerst die Uniform abgewirtschaftet.«

Diese Erzählung war zunächst nur bedingt erfolgreich, die zuständige Spruchkammer ordnete ihn 1947 in die Kategorie III (Minderbelastete) ein – was aber eine Bewährungsfrist von zwei Jahren mit sich gebracht hätte, in der er nicht als Journalist hätte arbeiten können. Die von ihm ­angerufene Berufungsinstanz stufte ihn aber schließlich als »Mitläufer« (Kategorie IV) ein.

Andere Formen der Geschichts­umschreibung findet man in Texten, in denen sich der Nachkriegs-Kicker mit dem 1933 aus Deutschland vertriebenen jüdischen Zeitschriftengründer Walther Bensemann beschäftigte. Darauf gehen Frank Wolff und Lewis Wellbrock in dem Kapitel »Der Geist Walther Bensemann. Der ›Kicker‹ und das Erbe des Nationalsozialismus 1951–2019« ein. 1960 stellte Friedebert Becker ihn und Bensemanns Chefredakteurs-Nachfolger Hans-Jakob Müllenbach, der sein Soll an Linientreue zu den Nationalsozialisten in vielen Beiträgen übererfüllt hatte, auf eine Stufe: Becker malte sich aus, wie »unser guter Müllenbach« gemeinsam mit dem »weisen Urvater« Bensemann auf den »Wolkenbänken des Jenseits« dem damaligen DFB-Generalsekretär Georg Xandry Geburtstagswünsche zurief. Wäre der 1934 im Exil verstorbene Bensemann 1960 noch am Leben gewesen, hätte er Xandry ganz gewiss nicht gratuliert, denn dieser hatte zu den führenden Sportfunktionären in der NS-Zeit gehört.

»In jenen Jahren war im ›Kicker‹ allgemein nur chiffriert vom Nationalsozialismus die Rede, und wenn von Personen gesprochen wurde, ob Täter, Opfer oder Mitläufer, dichteten die Autoren sich rückblickend eine große Fußballfamilie herbei«, erläutert das Autorentrio. Noch 1970 umschrieb die Zeitschrift den Nationalsozialismus recht wolkig als Zeit, »als die Bösen ihre harte Hand auf Deutschland legten«. Auch insofern ist es verdienstvoll, dass nun, etwas mehr als ein halbes Jahrhundert später, ein vom Kicker in Auftrag gegebenes Buch erschienen ist, das deutlich macht: Auch die eigenen Redakteure gehörten einst zu den »Bösen«.

Lorenz Peiffer/Henry Wahlig (Hrsg.): »Einig. Furchtlos. Treu. Der ›kicker‹ im Nationalsozialismus – eine Aufarbeitung«, Verlag Die Werkstatt, Bielefeld 2022, 432 Seiten, 39,90 Euro