Das Regierungslager hat in Frankreich hat seine absolute Parlamentsmehrheit verloren

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In Frankreich hat das Regierungsbündnis in der zweiten Runde der Parlamentswahl schlechter abgeschnitten als erwartet. Einige seiner Vertreter bemühen sich um Bündnisse mit der Rechten.

Veränderung ja, aber bitte nicht zu viel. Am Dienstagvormittag kurz vor zehn Uhr reichte die erst seit dem 16. Mai amtierende französische Premierministerin Élisabeth Borne ihren Rücktritt ein. Diesen lehnte Staatspräsident Emmanuel Macron jedoch Umgehend ab. Damit zeigte er sich unbeeindruckt vom relativ schlechten Abschneiden seines Parteienbündnisses Ensemble (Gemeinsam) bei den Parlamentswahlen, deren zweite Runde am 19. Juni stattfand. Ensemble erreichte mit 245 von insgesamt 577 Sitzen in der Nationalversammlung zwar eine relative, aber keine absolute Mehrheit. Dass die amtierende Regierung nach einer Parlamentswahl ihren Rücktritt anbietet, ist in Frankreich üblich. Macron wollte jedoch, dass die Regierung »handlungsfähig« bleibe.

Borne, die als farblose Technokratin gilt und zuvor Transport-, dann Arbeitsministerin war, ist mittlerweile auch im Regierungslager umstritten, aber auch Macron wird dort immer häufiger kritisiert. Hatte dieser sich doch nicht erst im Parlaments-, sondern bereits im zurückliegenden Präsidentschaftswahlkampf rar gemacht und nur selten geäußert. Macrons Beschäftigung mit dem Ukraine-Krieg lieferten ihm einen bequemen Vorwand, um möglichst ­keine kontroverse Debatte über die französischen Innenpolitik aufkommen zu lassen, an der er hätte teilnehmen können. Der doppelte Wahlkampf, erst vor den Präsidentschafts- und dann vor den Parlamentswahlen, erschien vielen deshalb als inhaltsarm.

Mélenchon und seinem linken Bündnis ist es nicht gelungen, Präsident Macron in eine »cohabitation« zu zwingen.

Als autoritären Neoliberalismus bezeichnen manche kritische Journalisten und Gewerkschafter eine solche Politik, die es durchaus wohlwollend in Kauf nimmt, dass große Teile der Gesellschaft sich gleich ganz aus der Politik heraushalten. War das das Ziel, ist es teilweise, jedoch nicht vollständig erreicht worden. Die Wahlbeteiligung in der zweiten Runde der Parlamentswahl lag bei 46,2 Prozent, in der ersten vom 12. Juni waren es noch 47,5 Prozent.

Lediglich die Aufmerksamkeit, die der Linkspopulist Jean-Luc Mélenchon durch seine lautstarken Proklamationen, sein Bündnis Neue ökologische und soziale Volksunion (Nupes) werde eine Mehrheit im Parlament erzielen und er selbst dann als Premierminister gegen den ihm verfassungsrechtlich übergeordneten Präsidenten regieren, sorgte in den vergangenen Wochen für eine Belebung der Debatte (Jungle World 24/2022). Mélenchon und seinem Bündnis ist es nicht gelungen, Präsident Macron in eine cohabitation zu zwingen: Nupes wurde nur zweitstärkste Kraft im Parlament, der Pariser Abendzeitung Le Monde von Dienstag zufolge mit 142 Sitzen.

Nupes erhielt im zweiten Wahlgang, bei dem nicht alle Parteien in allen Wahlkreisen vertreten waren, 31,6 Prozent der Stimmen, Ensemble 38,6 Prozent. Dennoch wird Nupes möglicherweise nicht stärkste Oppositionskraft werden. Denn entgegen dem Ansinnen Mélenchons, eine gemeinsame Fraktion zu bilden, wollen die in Nupes vertretenen Sozialdemokraten, Grünen und KP-Mitglieder über eigene Fraktionen verfügen. Dann würde der neofaschistische Rassemblement National (Nationale Sammlung, RN) mit 89 Sitzen die stärkste einzelne Oppositionsfraktion stellen.

Erstmals seit 1988 und der Wiedereinführung des – nur 1986 vorübergehend durch das Verhältniswahlrecht ersetzten – Mehrheitswahlrechts kann die extreme Rechte damit eine Fraktion bilden. Bei der mittlerweile erreichten Stärke der extremen Rechten stellt das Mehrheitswahlrecht aber kein Hindernis mehr dar. In mehreren französischen Bezirken wie dem von Perpignan, der vier Abgeordnete stellt, holte der RN sämtliche Wahlkreise.

Künftig könnte also mit wechselnden Mehrheiten regiert werden, wie zuletzt von 1988 bis 1991. Der Blick des Macron-Lagers richtet sich derzeit erkennbar nach rechts. Zwar würde ein Bündnis mit den Konservativen in Gestalt von Les Républicains (LR) genügen, um dem Präsidenten eine parlamentarische Mehrheit zu sichern. Doch die Republikaner sind gespalten in einen zur ex­tremen Rechten neigenden Flügel – dessen Vertreter Éric Ciotti erhielt im vorigen Dezember bei einer innerparteilichen Abstimmung über die Präsidentschaftskandidatur 39 Prozent der Stimmen –, einen nun verstärkt von den Anhängern Macrons umworbenen gemäßigt konservativen Flügel und eine unentschlossene Mitte. Ein Teil des ­Regierungslagers schlussfolgert daraus offenkundig, dass man bei einer Mehrheitsfindung zu seiner Rechten auch nicht vor dem RN Halt machen sollte.

Mehrfach forderte Justizminister Éric Dupond-Moretti am Wahlabend anwesende Vertreter des RN in den Fernsehstudios dazu auf, ihre Partei solle sich nun »konstruktiv« zeigen und den Entwürfen sowie den Budgets für den ­Ausbau der Justiz zustimmen, während er Mélenchon einen Polizeifeind schimpfte. Gerne würde die extreme Rechte eine Stärkung der Justiz unterstützen, sofern es um Strafjustiz geht. Allerdings unterstützt sie nicht den Ausbau der Arbeitsgerichte und erst recht nicht erleichterte Verwaltungsgerichtsverfahren im Ausländerrecht, die sie mitsamt den geltenden Widerspruchsrechten am liebsten kassieren würde.

In der Nacht zum Dienstag erklärte überdies eine Abgeordnete des Regierungslagers, Céline Calvez, man werde ab jetzt eben »die Stimmen des RN in der Nationalversammlung holen«. Das führte zu einem Aufschrei von linker Seite. In nicht kleinen Kreisen der Öffentlichkeit hat es der RN hingegen ­geschafft, als »normal« zu gelten. Dem autoritären Neoliberalismus passt dies wiederum grundsätzlich ins Kalkül – auch wenn die von Ensemble und LR geforderte Anhebung des Rentenalters auf 65 Jahre derzeit am Widerstand des RN ebenso wie an dem von Nupes scheitern würde.