Die antisemitischen Entgleisungen auf der Documenta in Kassel und ihre Vorgeschichte

Sorry not sorry

Selbst jene, die die Documenta über viele Monate gegen Antisemitismus­vorwürfe verteidigt hatten, mussten nach der Eröffnung kleinlaut zugeben, dass es ein Problem gibt. Über die Normalisierung antisemitischer Ideen im Kunst- und Kultur­betrieb soll jedoch immer noch nicht geredet werden, wie auch einige Entschuldigungsschreiben der Verantwortlichen zeigen.

»Allen Beteiligten, das möchte ich nochmal ausdrücklich betonen, tat und tut es außerordentlich leid, Grenzen überschritten und Gefühle verletzt zu ­haben«, ließ Sabine Schormann, die Generaldirektorin der Documenta, am 21. Juni in einer Presseerklärung wissen. Grenzen überschritten und Gefühle verletzt (als wäre das das Problem) wurden ihr zufolge durch das riesige Banner »People’s Justice« des ­indonesischen Künstlerkollektivs Taring Padi. Auf dem Bild, das an die Ikonographie des »Jüngsten Gerichts« angelehnt ist und das erst ab dem 18. Juni und nicht schon zur Pressebesichtigung ab dem 15. Juni zu betrachten war (angeblich wegen notwendiger Restaurationsarbeiten), waren mehrere antisemitische Figuren zu sehen: Eine mit angedeuteter Kippa und Schläfenlocken, blutunterlaufenen Augen, krummer Nase und Fangzähnen, auf der Stirn prangt der Schriftzug »SS«; eine andere mit Schweinegesicht, auf der Stirn war »Mossad« zu lesen, der Name des israelischen Auslandsgeheimdiensts. Erst wurde es mit schwarzem Tuch abgehängt, dann am 21. Juni ganz abmontiert.

Beeindruckend ist, dass es erst ein solch absolut eindeutiges, geradezu grotesk plumpes Bild brauchte, damit Einsicht gezeigt wurde, obwohl die gesamte Ideologie dahinter (welche das Bündnis gegen Antisemitismus Kassel in Bezug auf die Documenta bereits vor ­Monaten kritisiert hatte, siehe »Das bisschen Hitler«), die in solchen antisemitischen Karikaturen von Profiteuren, Unterdrückern und Ausbeutern kulminiert, nicht nur auf der diesjährigen Documenta, sondern auch seit Jahrzehnten im Kunst- und Kulturbetrieb gang und gäbe ist.

Dass gerade der Kulturbereich Israel dämonisiert, hat mit der derzeitigen kulturindustriellen Dynamik zu tun, die einem abverlangt, sich andauernd zu »positionieren«, um im Konkurrenzkampf aufzufallen.

Es überrascht auch, dass die schon vorher bekannte und in den Medien diskutierte Arbeit »Harvesters Resting – Jean-François Millet (1850)« von ­Mohammed al-Hawajiri aus seiner Serie »Guernica Gaza« nicht schon für den großen Eklat sorgte. Al-Hawajiri hat in das Gemälde von Millet Soldaten der israelischen Armee hineinretuschiert, die sich ausruhende Bauern bedrohen – das Bild inklusive seiner Titelung sagt also dasselbe wie die dann abgebauten Karikaturen: Israelis, beziehungsweise Juden, sind die neuen Nazis.

Dass das Antisemitismus ist, konnten Kuratoren und Ausstellungsmacherinnen auf der ganzen Welt spätestens seit 2016 wissen: In jenem Jahr hat die ­International Holocaust Remembrance Alliance (IHRA) ihre »Arbeitsdefinition Antisemitismus« veröffentlicht, in der unter anderem »Vergleiche der aktuellen israelischen Politik mit der Politik der Nationalsozialisten« als eine Erscheinungsform von Antisemitismus ausgewiesen wurden. Aber anstatt das zur Kenntnis zu nehmen, haben Akademiker und Künstler seit Jahren mit Unterstützung der anti­israelischen BDS-Bewegung gegen die IHRA und ihre Antisemitismusdefi­nition gekämpft.

Ein Beispiel: Erst vor kurzem, nämlich im Mai 2021, erschien ein gegen das Museum of Modern Art (Moma) in New York City gerichteter offener Brief mit dem Titel »Free Palestine/Strike MoMA: A Call to Action«. In ihm wird angeprangert, dass mehrere Vorstandsmitglieder des Museums Geld an Organi­sationen gespendet hätten, die mit Israel zusammenarbeiten und beispielsweise einen kulturellen Austausch mit dem Land ermöglichen. Die entsprechenden Mitglieder werden in den dunkelsten Farben gemalt, am stärksten aber wird Ronald Lauder angegriffen, der Ehrenvorsitzende des Moma und Präsident des Jüdischen Weltkongresses. Ihm wird vorgeworfen, Lobbyarbeit für die Implementierung der IHRA-Definition gemacht zu haben, die, so die Briefschreiber, Kritik am Staat Israel mit Antisemitismus »verschmelzen« würde.

Nach den Standards der IHRA, die immerhin von zahlreichen Staaten und Organisationen unterstützt und implementiert werden, ist der Brief eine antisemitische Schmähschrift. Nicht nur werden jüdische US-Amerikaner für die Politik Israels in Kollektivhaftung genommen, auch wird in eindeutig denunziatorischer Weise über den ­israelisch-palästinensischen Konflikt geschrieben. Das Pamphlet liest sich geradezu wie eine praktische Übung für den vom israelischen Ministerium für soziale Fragen herausgegebenen »3D-Test für Antisemitismus«, Dämonisierung, Delegitimierung und doppelte Standards in Bezug auf Israel lassen sich hier überall finden: Israel sei ein Apartheidsystem und ein Projekt des Siedlerkolonialismus, dann wird auch noch die dreiste Lüge verbreitet, Israel habe während der damals nur wenige Wochen zurückliegenden Konfrontation »Flächenbombardements« auf Gaza verübt.

Die »Obsessionen«, die Saba-Nur Cheema, die Beraterin der Bundesregierung zum Thema »antimuslimischer Rassismus«, noch am 14. Juni in der Zeit auf allen Seiten der deutschen Debatte über Antisemitismus zu entdecken meinte, lassen sich tatsächlich ausschließlich bei den vorgeblichen Palästina-Freunden finden, die man am 15. Juni beispielsweise prominent in der »Tagesschau« bewundern konnte: Zu den Jubelausstellungsbesuchern, die bei der Pressekonferenz zur Documenta das Kuratorenteam Ruangrupa frenetisch beklatschten, gehörten – Über­raschung! – mehrere, die klar sichtbar die Kufiya, das sogenannte Palästinensertuch, um den Hals trugen. Mitglieder von Ruangrupa winkten in ihre Richtung und warfen ihnen Kusshände zu.

Lara Khaldi, die dem künstlerischen Team der diesjährigen Documenta angehört, hat den Brief gegen das Moma, in dem von »Flächenbombardements« die Rede war, übrigens unterzeichnet, ebenso wie 300 andere Einzelpersonen und Institutionen aus dem Geisteswissenschafts- und Kulturbetrieb, beispielsweise die Mitbegründerin des Postkolonialismus, Gayatri Chakravorty Spivak, die Fotografin Nan Goldin oder die Künstlerin Hannah Black, die auch an einem Panel bei »Hijacking Memory« teilnahm, jener Konferenz im Berliner Haus der Kulturen der Welt, die vor ein paar Wochen wegen auf ihr vorgetragener wüster antiisraelischen Positionen starke Kritik hervorrief.

Und das ist nicht der einzige Brief: Auch den von mehreren Kunst- und Kulturmagazinen verbreiteten »Letter against Apartheid« von 2021 (in dem Israel neben »ethnischen Säuberungen« und einem »Massaker in Gaza« noch weitere frei erfundene Verbrechen vorgeworfen werden) haben aberhunderte Personen unterzeichnet, darunter fünf Mitglieder des Documenta-Kuratorenkollektivs Ruangrupa. Der Brief ist ex­trem gerissen verfasst, klingt er doch den Forderungen nach wie einer der BDS-Bewegung (unter anderem wird gefordert, Handels- und Kulturbeziehungen mit Israel abzubrechen), ohne aber das Wort »Boykott« zu verwenden. Die angeblich Karrieren beendende BDS-Nähe kann man den Unterzeichnenden also rein formal nicht vorwerfen.

Es drängt sich fast der Eindruck auf, dass Künstler nichts anderes mehr tun, als Briefe gegen Israel zu schreiben oder zu unterschreiben. Dass gerade viele Menschen aus dem Kulturbereich Israel so gerne dämonisieren, hat nicht nur einfach mit antisemitischen Einstellungen, sondern auch mit der derzeitigen kulturindustriellen Dynamik zu tun, die einem abverlangt, sich andauernd zu »positionieren«, um im ­rabiaten Konkurrenzkampf des Kunstmarkts irgendwie aufzufallen. Gleichzeitig soll es wohl die gefühlte Sinnlosigkeit der eigenen Tätigkeit aufwerten, obwohl doch gerade in der Sinnlosigkeit der Kunst ihre Schönheit besteht.

Sich gegen Unrecht allgemein auszusprechen, reicht da nicht. Es muss schon die ganz große Nummer sein, die eben, wie der Protest gegen Israel, auch ein wenig verrucht ist, so dass man sich in vermeintlichem Nonkonformismus gefallen kann. Und dann gibt es noch diejenigen, die eben ihre »Perspektiven« verteidigen müssen, die sie sich jahrelang zusammenphantasiert haben und an denen Forschungsgelder, Stipendien und Ausstellungs­beteiligungen hängen. Die dominante »Perspektive« im Kulturbereich ist derzeit die postkoloniale, und die hat, ­gespeist aus ihrer antiimperialistischen linken Geschichte, eine antisemitische, antizionistische Grundlage, wie man, um nur einen ihrer wichtigen Vertreter zu nennen, an Äußerungen von Edward Said nachprüfen kann.

Dass diese »Perspektiven« vehement verteidigt werden, zeigt die »Entschul­digung« Sabine Schormanns, die in einem Interview bei 3Sat sagte: »Es darf auf einer Weltkunstschau wie der Documenta kein Platz für Antisemitismus sein, selbst bei allem Verständnis für die Belange des Globalen Südens.« Aber was sind die Belange des Globalen Südens, und warum sollen sie Feindschaft gegen Juden oder Israel besonders nahelegen? Das Phantasma eines irgendwie homogenen »Globalen ­Südens« (eine im Übrigen rassistische Idee) geisterte seit Monaten durch die Debatte und wurde immer wieder in Anschlag gebracht, um Kritik an der Documenta und ihren Macherinnen und Machern manchmal subtil, manchmal ganz offen, als rassistisch zu denunzieren.

Zum Beispiel von dem Journalisten Mohamed Amjahid, der noch am 20. Juni (da waren antiisraelische Umtriebe der Kuratoren seit Monaten und »Guernica Gaza« seit Tagen bekannt, seit demselben Morgen waren zudem die antisemitischen Karikaturen zumindest auf Twitter schon verbreitet worden) im RBB sagte: »Dutzende Journalistinnen haben sich aktiv auf die Suche nach antisemitischen Inhalten gemacht, und rein gar nichts gefunden, nichts, nada. Wirklich, ich vermute, dass es hier darum geht, dass viele in Deutschland kritische Stimmen aus dem Globalen Süden einfach nicht aushalten.«

Aber was sagen die angeblich so kritischen Stimmen aus dem »Globalen Süden« auf der Documenta? Nichts Kritisches, zumindest wenn man einen gewissen Maßstab an Kritik legt und bei Ruangrupa und Taring Padi bleibt. Ruangrupa verherrlichen und romantisieren das einfache Landleben mit ­ihrem die Documenta bestimmenden Konzept des Lumbung, das den in In­donesien von Bauern gemeinschaftlich genutzten Reisscheunen entlehnt ist, und auch Taring Padi frönen den ehrlichen Bauern mit ihren Spitzhüten, die als guter Gegenpart zu den antisemitischen und auch rassistischen Karika­turen ihre Zerrbilder bevölkern.

Wenn solcher – vorsichtig ausgedrückt – Kitsch nun in der Kunstwelt und der Presse in den höchsten Tönen gelobt wird (natürlich das abgehängte Bild von Taring Padi ausgenommen), zeigt sich darin nicht nur ein paternalistischer Positivrassismus, der noch jeden Blödsinn aus »dem Globalen Süden« für lobenswert hält (am Samstag sollte beispielsweise Taring Padi ein »javanisches Reinigungsritual zur Austreibung böser Geister« vollziehen), sondern auch ein entweder naives oder gleichwohl bösartiges Missverstehen des Antisemitismus.

Der fängt nämlich nicht erst an, wenn das Monster mit den blutunterlaufenen Augen auf einem Bild die Zähne zeigt, sondern entspringt dem antimodernen, volkstümelnden und esoterischen Weltbild, manichäischem Denken und einer Fetischisierung des Kollektiven. Und das alles zieht sich wie ein roter Faden durch das ganze Ausstellungskonzept sowie im Besonderen durch das abgehängte Bild »People’s ­Justice« (dessen Titel in Anbetracht seines offen zur Schau gestellten Hasses auf »Wucherer« und »Verräter« auch locker »Volksgericht« lauten könnte). Zwar haben Taring Padi in einer Stellungnahme ganze drei Tage nach Abbau ihrer Arbeit die drastische Darstellung mit dem Militärregime Suhartos in Indonesien und ihrer Wut auf dieses zu begründen versucht (das sei nämlich Thema des Bildes), das ändert aber nichts an der Tatsache, dass sie in vielen ihrer Arbeiten, nicht nur in dieser, ein Ressentiment ausagieren, das antisemitisch, xenophob und reaktionär ist.

Auch Ruangrupa haben sich inzwischen entschuldigt, aber wenn man ihre Mitteilung liest (»Wir entschuldigen uns für die Enttäuschung, Scham, Frustration, den Verrat und den Schock«), wird man das Gefühl nicht los, dass die Gruppe sich hier allein bei ihren Unterstützern entschuldigt, die monatelang die Documenta verteidigt haben, um dann peinlich berührt zugeben zu müssen, dass da was doch nicht stimmt – oder die gehofft hatten, dass die Schau den Hass auf Israel unter dem Deckmantel des Postkolonialismus ein Stück mehr etablieren könnte, nun aber feststellen müssen, dass diesem Ziel aber durch die Karikaturen ein Bärendienst erwiesen wurde.

Manche werden mit dem Verteidigen und Relativieren nicht aufhören, wie Hanno Hauenstein von der Berliner Zeitung, der noch nach Bekanntwerden der Karikaturen konstatierte, dass der Vorwurf des Antisemitismus in Deutschland auf »Schwarze, muslimische und palästinensische Minderheiten abgewälzt« werde. Dabei ist die Bildsprache der antisemitischen Figuren von Taring Padi gar keine, die man Nichtdeutschen in rassistischer Manier unterjubeln und vorwerfen könnte – die ­Figuren sind nicht umsonst in mehreren Zeitungen mit Stürmer-Karika­turen verglichen worden: Sie sind ordinär deutsch.

Das Zerrbild des Juden aus dem Propagandablatt der Nazis hat eine lange Reise hinter sich, von Deutschland nach Indonesien, mit Zwischenstopp im Iran beim Internationalen Holocaust-Karikaturenwettbewerb, und ist jetzt wieder zurück in Kassel auf der Documenta, einer Schau, die, damit rühmte sich die Findungskommission der Großausstellung in ihrem »Entschuldigungsstatement« auch noch, ein Bild einer Welt biete, »die aus ­vielen Welten besteht, ohne Hierarchie oder Universalismus«. Mit einer Ausnahme, möchte man sagen: Der universale Antisemitismus hat hier doch noch seinen Platz gefunden, in Form von pseudoaktivistischer Kunst. Mit l’art pour l’art wäre das alles nicht passiert.