Die Viele-Welten-Theorie ist im Kino angekommen

Das Universum ist nicht genug

Flucht vor dem Finanzamt oder dem Familientherapeuten in neue Dimensionen: Das Kino hat die phantastischen Möglichkeiten des Multiversums entdeckt. Längst reisen nicht nur die Superhelden von Marvel auf dem Ticket der Viele-Welten-Theorie.

Das Multiversum drängt auf die Leinwand. Mit »Spider Man: No Way Home«, »Dr. Strange in the Multi­verse of Madness« und dem Science-Fiction-Drama »Everything Everywhere All at Once« sind in jüngerer Zeit drei wichtige US-amerikanische Filme ins Kino gekommen, in denen sich die Charaktere in einem Multiversum bewegen. Das Multiversum ist das Postulat einer spekula­tiven wissenschaftlichen Theorie, die besagt, dass wir in einer Ansammlung möglicher Welten leben, zwischen denen eigentlich keine Verbindung möglich sein sollte. Diese ­Hypothese ist natürlich gefundenes Fressen für das Genre der Science-Fiction ebenso wie für Superhelden-Comics. Insbesondere aus den Erzählwelten der Marvel-­Comics ist das Multiversum im Blockbuster-Kino angekommen.

Die Faszination des Kinos für fremde Welten ist fast so alt wie das Kino selbst. Dass sich der Film für Paralleluniversen, alternative Zeit­linien und neuerdings für das Multiversum begeistert, liegt da fast schon auf der Hand. Zusätzlich wird das In­teresse der Populärkultur an der Viele-Welten-Theorie nun durch das unter anderem von Mark Zuckerberg propagierte Metaverse befeuert, eine Erweiterung des Internets, die reale und digitale Welt zusammenführen will. Wie im Videospiel »Sims« oder der virtuellen Welt »Second Life« bewegt man sich darin mit einem Avatar.

Gemeinsam sind den Multiversum-Geschichten die Thematisierung von psychischer Gesundheit und Wahnsinn und die Frage nach der eigenen Identität. Alle Figuren scheinen von irgendwas überfordert zu sein; die einen von der Enge der Realität, die anderen von den schier endlosen Weiten des Multiversums.

Auch in der 2020 erschienen Silicon-Valley-Miniserie »Devs« des ­Romanautors und Filmemachers Alex Garland spielt die Viele-Welten-Theorie eine Rolle. Ein mysteriöses Tech­nologieunternehmen bildet die erzählerische Kulisse für die von der Video­plattform Hulu produzierte ­Serie. Sie beginnt mit der Suche nach einem Computerprogramm, das Vergangenheit und Zukunft projizieren kann.

Bereits 2013 startete die Zeichentrickserie »Rick and Morty«. Der mad scientist Rick Sanchez bereist darin mit seinem Enkel Morty verschiedene Universen und erlebt ab­struse Dinge. Den Possen des schlüpf­rigen, verrückten Wissenschaftlers und seines weinerlichen Neffen ­seien alle neueren Multiversum-Geschichten zu verdanken, schreibt der Filmkritiker Eric Kohn in einem Aufsatz in Indiewire. Für Rick und Morty sei das Multiversum ein Portal zu reinem Nihilismus – und auch dessen Gegenmittel. Mit seinen verschiedenen Gadgets und Raumschiffen hat Rick die Macht, zwischen zahllosen Realitäten hin und her zu reisen. Er und seine Familie sind viele Male gestorben, haben sich umgebracht und sind wiederauferstanden. »Aber unabhängig von der Eitelkeit dieser endlosen Showdowns treibt das Multiversum sie voran«, schreibt Kohn.

Gemeinsam sind den Multiversum-Geschichten die Thematisierung von psychischer Gesundheit und Wahnsinn und die Frage nach der eigenen Identität. Alle Figuren scheinen von irgendwas überfordert zu sein; die einen von der Enge der Realität, die anderen von den schier endlosen Weiten des Multiversums. In »Rick and Morty« treten die Genialität und der Wahn von Grandpa Rick offen zutage. In der Folge »Gurken-Rick« verwandelt sich Rick in eine Gurke, um nicht an einer Familientherapiesitzung teilnehmen zu müssen. Über die Ursachen des Wahnsinns erfährt man meist nicht viel. Im Fall von Rick Sanchez reicht wohl das Dasein als genialer, nahezu allmächtig erscheinender Wissenschaftler aus, um das Aus-der-Rolle-Fallen plausibel erscheinen zu lassen.

Der dem Marvel Cinematic Universe (MCU) entsprungene Film »Spider-Man: No Way Home« von Jon Watts (2021) stellt Peter Parker vor gigan­tischen Aufgaben. Eine Intrige hat dazu geführt, dass sein guter Ruf als menschenfreundlicher Spinnenmann zerstört wurde. Mit Hilfe eines Zaubers von Doctor Strange (Benedict Cumberbatch) soll die Welt nun seine wahre Identität vergessen. Diese Manipulation der Realität hat allerdings dramatische Auswirkungen im Multiversum. Schon bald ist Peters schlechter Ruf sein geringstes Problem. Peter muss die Existenz verschiedener Welten auf kluge Weise nutzen, um den Plot schließlich zu einem Happy End zu bringen. »No Way Home« ist die Fortsetzung von »Spider-Man: Far From Home« aus dem Jahr 2019 und Abschluss der »Homecoming-Trilogie« des MCU.

Damit ist man der Frage, warum Film, Fernsehen und nicht zuletzt das Unternehmen Marvel vom Multiversum so besessen sind, schon auf der Spur. Nicht nur bietet das Multiversum großartige erzählerische Möglichkeiten, es ermöglicht es den Drehbuchautoren auch, frühere filmischen Inkarnationen derselben Figur sowie Charaktere aus anderen Serien und sogar aus Spin-offs, die noch gar nicht existieren, zu importieren.

Marvel baut auf den Grundfesten der Viele-Welten-Theorie sein ökonomisch mächtiges Filmimperium aus. Jüngstes Beispiel ist der Marvel-Fantasy-Action-Film »Doctor Strange in the Multiverse of Madness« (2022), der die Ausflüge der Titelfigur in die Weiten des Multiversums schildert. Dabei verbündet sich Superheld Stephen Strange (Benedict Cumberbatch) mit einer Teenagerin, um gegen verschiedene Bedrohungen zu kämpfen, darunter Versionen von ihm selbst aus andern Universen (eine Idee, die bereits in »Rick and Morty« ausgiebig genutzt wurde). Doctor Strange kann bei seinem Trip durch Raum und Zeit bereits auf Erfahrungen aus der »Spider-Man«-Welt bauen.

Aber auch jenseits von Marvel existiert das Kino-Multiversum: In Dan Kwans und Daniel Scheinerts ­Science-Fiction-Abenteuer »Every­thing Everywhere All at Once« (2022) hat die Waschsalonbesitzerin Evelyn Wang (Michelle Yeoh) Ärger mit dem Finanzamt. Evelyn muss sich um ihre Tochter, ihren Mann und ihren Vater kümmern und zugleich noch das Familienunternehmen leiten, was sie an den Rand der psychischen Überforderung bringt. Als sie vor einer strengen Finanzbeamtin (Jamie Lee Curtis) sitzt, schweifen ihre Gedanken ab. Was so harmlos beginnt, mündet in ein Megaspektakel, bei dem es um nicht weniger als die Rettung des Multiversums geht. Das Universum ist eben längst nicht mehr genug.