Michel Leiris wird als Kronzeuge der Beutekunstdebatte wiederentdeckt

Verstrickt in die Verstrickung

Im Zuge des Ethno-Booms in den achtziger Jahren wurde die deutsche Über­setzung von »L’Afrique fantôme« des französischen Schriftstellers und ­Ethnographen Michel Leiris rege rezipiert. Das Logbuch einer Forschungsreise quer durch den afrikanischen Kontinent erscheint nun in einer erweiterten Neuausgabe, die die Widersprüche des Kolonialismus zwischen Gier nach Besitz und Sehnsucht nach vermeintlich von der Zivilisation unverdorbener Kultur dokumentiert. »Phantom Afrika« gilt als Auftakt der Auseinandersetzung mit Raubkunst, Kolonialismus und Eurozentrismus.

Kommen die Ethnologen, dann verlassen die Geister die Insel«, heißt es in einem haitianischen Sprichwort. Dass die ethnologische Feldforschung keine neutrale Beobachtung darstellt, sondern enge Verbindungen zum Kolonialismus unterhält, hat Michel ­Leiris (1901 bis 1990) schon früh für seine Zunft festgestellt und dabei auch die eigene Beteiligung an kolonialen Herrschaftspraktiken und Methoden offengelegt. Sein Aufsatz »Ethnographie und Kolonialismus« (1950) ist eine der ersten Auseinandersetzungen mit den Verstrickungen seines Fachs in die ausbeuterische Praxis des Kolo­nialismus. Freilich war es ein langer Weg, den Leiris, der gleichzeitig Dichter, autobiographischer Schriftsteller und Ethnologe war, von der Afrikabegeisterung der Pariser Avantgarde über die Arbeit als Forschungsreisender bis zur Solidari­sierung mit den Autoren der Négritude zurückgelegt hat.

In den zwanziger Jahren bewegte sich Leiris im Kreis der Surrealisten um André Breton. Mit ihnen stritt er für die kulturelle und politische ­Revolution. Zu seinen Freunden zählten Pablo Picasso, Max Jacob und Georges Bataille, dessen dem Surrealismus abtrünnige Zeitschrift Documents er später unterstützte. Nach seinem Studium der Ethnologie (1933 bis 1938) arbeitete er im Musée de l’Homme in Paris, daneben verfasste er Essays, Lyrik und Tagebücher. Sein Roman »L’Âge d’homme« (Mannesalter) sowie das vierbändige Werk »La Règle du Jeu« (Die Spielregel) gelten als Meilensteine des autobiographischen Genres.

Die Forschungsreise mutet nach wissenschaftlichen Kriterien merkwürdig an, denn eine Sammlungs­systematik lässt sich nicht
erkennen. Die Gruppe Weißer kauft und rafft zusammen, was sie bekommen kann. Ständig werden die Bewohner in Interviews, die Verhören gleichen, zu ihren Gewohnheiten befragt.

Im Zuge seiner Wiederentdeckung erscheinen Leiris’ Bücher seit einiger Zeit in erweiterten Neuauflagen im Verlag Matthes & Seitz. Dort ist jetzt auch sein wegweisendes Buch »L’Afrique fantôme« (1934) in der Neuübersetzung von Rolf Wintermeyer und Tim Trzaskalik erschienen, ergänzt durch zahlreiche Materialien. Ausführliche Fußnoten erläutern die politischen Umstände und heute nicht mehr bekannte Zusammenhänge. Zum anderen lassen Leiris’ spätere Kommentare seine Neubewertung des einst Erlebten deutlich werden. Das unterstützen zudem die dem Tagebuch beigefügten Briefe, insbesondere an seine Ehefrau. Die Kritik an Rassismus und Kolonialismus, die Leiris in seinem 1950 veröffentlichten Buch ausführt, ist im Forschungsbericht des damals jungen Ethnologen bereits vorgezeichnet. In Deutschland erschien »Phantom Afrika« erstmals 1980 beziehungsweise 1984 in zwei Bänden im Syndikat-Verlag und galt in den achtziger Jahren im Zuge des Ethno-Booms als Kultbuch. 1978 hatte der Ethnologe Hans Peter Duerr seine vielgelesene Abhandlung »Traumzeit. Über die Grenze zwischen Wildnis und Zivilisation« veröffentlicht. Auch die von ihm herausgegebene Zeitschrift Unterm Pflaster liegt der Strand befeuerte das Interesse an Schamanismus, Hexerei und Naturreligionen.

»Phantom Afrika« ist ein Bericht von der französischen Forschungsmission »Dakar à Djibouti« (1931 bis 1933), an der Leiris als Sekretär, Inventarist und Interviewer teilnahm. Die Ethnologengruppe reiste im Auftrag der französischen Regierung und des Ethnologischen Museums Paris quer durch Afrika und sammelte im großen Stil Artefakte. Das von der Ethnologie wie vom Surrealismus und der Psychoanalyse inspirierte Buch ist sowohl Anklage und  Logbuch als auch Schuldbekenntnis. Nicht zuletzt offenbart es die Verstrickungen Leiris in die Machenschaften der ethnographischen ­Forschung.

Die Aufzeichnungen beginnen mit der Abfahrt im Hafen von Bordeaux am 19. Mai 1931 und enden mit dem Einlaufen in Marseille am 16. Februar 1933. Leiris protokolliert nicht nur die wichtigsten Stationen der Ex­pedition, sondern notiert Alltagsbetrachtungen ebenso wie eigene Empfindungen. Ein Hang zur Selbstbespiegelung, etwa wenn er über trübsinnige Momente und Enttäuschungen schreibt, ist Leiris durchaus eigen: »Das Leben, das wir hier führen, ist im Grunde sehr monoton, dem der Zirkusleute vergleichbar, die zwar ständig auf Achse sind, aber doch immer wieder die gleiche ­Vorstellung haben.«

Das Buch ist auch das Porträt eines Künstlers auf dem Selbstfindungstrip, der in der Fremde ein Abenteuer sucht, um zu sich selbst und auch zu einer Art neuer Poesie zu finden. In manchen Passagen ist unklar, ob Leiris lediglich seine eigene Haltung wiedergibt oder die seiner Kollegen kritisiert. Etwa wenn er die Reise lakonisch als »fade Tätigkeit, sich zu Schwarzen zu begeben, die im Grunde auch nicht interessanter sind als Leute aus der Auvergne oder irgendeinem anderen Provinznest« qualifiziert. Das »Spektakel der Weißen« ekele ihn genauso an wie »das der von ihnen verdorbenen Schwarzen.«

Vor seinen Forschungskollegen hatte er offenbar keinen Respekt: »Bislang haben wir niemand seine sämtlichen Kleider abgekauft und ihn oder sie nackt an der Straße stehen lassen, aber das kommt bestimmt noch.« Diese Verachtung hatte nicht zuletzt mit dem »Kono-Diebstahl«, wie Leiris den Vorfall nannte, zu tun. An ihm zeigt sich, dass Kolonialismus nicht allein mit brutaler Waffengewalt ausgeübt werden muss, sondern die Machtverhältnisse subtiler sind. Am 6. September 1931 erreichte die Ethnologengruppe einen kleinen Ort in Mali. Dort entdeckten sie eine Kulthütte, in der eine riesige Tiermaske ihre Neugier weckte. Der Leiter der Expedition, Marcel Griaule, verlangte die Herausgabe des »Kono« genannten Fetischs und setzte den Dorfältesten unter Druck, drohte den Bewohnern sogar mit der Polizei. Am Ende mehrstündiger Verhandlungen griffen sich die Forscher die Maske und und hinterließen etwas Geld als Entschädigung, um das eigene Gewissen zu beruhigen. Leiris nennt den Vorgang eine »entsetzliche Erpressung«, spricht von »Bluff, Machtmissbrauch, Betrug« und war gleichwohl selbst daran beteiligt.

Viele Einsichten erschüttern ihn im Nachhinein selbst, zum Beispiel, »dass man sich doch schon ganz selbstsicher fühlt, wenn man ein Weißer ist und ein Messer in der Hand hält.« »An meiner eigenen Ungeduld mit den Schwarzen, die mich ärgern, ermesse ich, welchen Grad an Bestialität diejenigen er­reichen mögen, die in ihrem Umgang mit den Eingeborenen von ­keiner Ideologie gebremst werden.« Leiris hat ein feines Gespür für sprachliche Diskriminierung, er korrigiert sich in Kommentaren, etwa wenn er den Begriff »primitiv« gebraucht, den er eigentlich ablehnt. Aber er benutzt konsequent das ­N-Wort und beweist damit, wie selbstverständlich dieses einmal gewesen sein muss.

Die Forschungsreise mutet nach wissenschaftlichen Kriterien merkwürdig an, denn eine Sammlungssystematik lässt sich nicht erkennen. Die Gruppe Weißer kauft und rafft zusammen, was sie bekommen kann. Ständig werden die Bewohner in ­Interviews, die Verhören gleichen, zu ihren Gewohnheiten befragt. Dann geht die Reise weiter, die eigene Neugier treibt die Gruppe an den nächsten Ort. Was später die Wissenschaftstheorie und Wissenssoziologie über Forschung im Allgemeinen festhalten, deutet sich hier an: Ein harter Begriff von Neutrali­tät geht fehl, weil jedes Vorhaben auch mit subjektiver Motivation betrieben wird. Das unterstreicht zusätzlich die Fülle an scharfen und direkten Selbstbeobachtungen in ­Leiris’ Notizen, die auch seine Libido nicht auslassen. Er betrachtet sich und den Alltag auch mit den Augen des angehenden Ethnologen, beschreibt sie, wenn man so will, unterm selben Brennglas. Damit ist »Phantom Afrika« nicht nur eine erschreckende kolonialismuskritische Lektüre, sondern wertvoll auch als früher Versuch dessen, was man später Ethnologie des Eigenen nennen wird.

Michel Leiris, Irene Albers (Hg.): Phantom Afrika. Aus dem Französischen von Rolf Wintermeyer und Tim Trzaskalik. Matthes & Seitz, Berlin 2022, 968 Seiten, 68 Euro