Jihadisten und Militär­regierungen in der Sahelzone

Terrorbekämpfung ohne Frankreich

Vor zehn Jahren eroberten Jihadisten weite Teile Nordmalis. Trotz internationaler Militärinterventionen haben sie ihr Operationsgebiet auf andere Staaten der Region ausgedehnt. Der Terror und Konflikte darüber, wie er zu bekämpfen sei, verstärkten innenpolitische und zwischenstaatliche Spannungen. Einige Regierungen in der Region haben sich von der traditionellen Schutzmacht Frankreich abgewandt.

Es begann mit einem Aufstand und einer Invasion. Bewaffnete malische ­Islamisten, ausländische Kämpfer global operierender jihadistischer Organisationen und libysche Söldner verbündeten sich mit separatistischen Tuareg und brachten 2012 einen Teil Nordmalis unter ihre Kontrolle. Die schwache malische Armee musste zurückweichen, zunächst griffen französische, später multinationale Truppen ein – doch der Erfolg war dürftig. Ein dauerhaftes Emirat zu gründen, gelang den Jihadisten zwar nicht, doch dehnen sie ihre Operationsgebiete in der Region immer weiter aus.

Zudem verschärfte diese Bedrohung die innenpolitischen Spannungen in den schwach institutionalisierten Staaten der Region und behinderte den ­Demokratisierungsprozess. Machtübernahmen des Militärs, zuletzt in Guinea, Mali und Burkina Faso, waren die Folge. Auch die Kritik an der ehemaligen Kolonialmacht Frankreich nahm zu, manche Regierungen suchen neue Bündnispartner. Zu diesen zählt die Militärregierung Malis. Sie bemüht sich derzeit, die volle Kontrolle über ihr Staatsgebiet wiederzuerlangen – ohne französische Hilfe.

Die zweitägige Versammlung der malischen Tuareg-Organisationen in Kidal beschloss faktisch eine Wiederannäherung an ebenfalls in Nordmali operierende jihadistische Bewegungen.

Die Nordhälfte des Staatsgebiets hatte sich 2012 abgespalten, eine Koalition aus Tuareg-Sezessionisten und jihadistischen Gruppen rief dort am 6. April 2012 einen »unabhängigen Staat« unter der Bezeichnung Azawad aus, den mit Ausnahme der Taliban jedoch bis zu seinem Untergang einige Monate später niemand anerkannte. Dies und der im Januar 2013 begonnene Einsatz der französischen Armee in Nordmali zeigte, dass die Zentralregierung in Bamako die Kontrolle über das Staatsgebiet verloren hatte. Neuneinhalb Jahre später soll nun die französische Armee »vor Ende des Sommers« abziehen, mit der bevorstehenden Räumung der Militärbasis in Gao als letzter Etappe. Zuletzt hatten die französischen Soldaten am 13. Juni Ménaka verlassen, zuvor bereits die Basen in Kidal, Timbuktu und Tessalit.

Um die Tuareg-Sezessionisten einzubinden, deren taktisches Bündnis mit den jihadistischen Organisationen schnell zerfallen war, schloss die malische Zentralregierung 2015 unter ­algerischer Schirmherrschaft das Abkommen von Algier ab. Dieses sieht eine Dezentralisierung der Verwaltungsstrukturen in Mali sowie die Schaffung zweier neuer Regionen vor. In der Praxis ermöglichte das vor allem, öffentliche Stellen und Pfründe für eine von der Staatsmacht kooptierte neue Führungsschicht aus den betroffenen Landesteilen zu schaffen, darunter auch die Tuareg-Regionen. Doch die Militärjunta habe das Abkommen in den vergangenen Wochen außer Kraft gesetzt, behauptet jedenfalls die Koordination der Bewegungen von Azawad (CMA), so der gegenwärtige Name der früheren Nationalen Befreiungsbewegung von Azawad (MNLA).

Die Organisation, die die Tuareg-­Sezessionisten repräsentiert, veröffentlichte am 17. Juli nach einem zweitägigen Treffen ein entsprechendes Kommuniqué, das beklagt, die von Offizieren geführte Übergangsregierung in Bamako habe das Abkommen »auf­gegeben«. Ob wegen des mangelnden Willens der malischen Regierung, Macht und Pfründe zu teilen, oder aus anderen Beweggründen, bleibt offen. Nun droht eine Erneuerung des Bündnisses zwischen Tuareg-Separatisten und Jihadisten.

Die zweitägige Versammlung in Kidal beschloss faktisch, sich den ebenfalls in Nordmali operierenden jihadistischen Bewegungen wiederanzunähern. Als neuer Führer der CMA wurde aus diesem Anlass Alghabass Ag Intalla eingesetzt, der Iyad Ag Ghali nahestehen soll. Dieser ist der Anführer der Gruppe zur Unterstützung des Islam und der Muslime (GSIM) in Mali, des regionalen Ablegers von al-Qaida. Beide Männer stammen aus alteingesessenen Tuareg-Herrscherfamilien.

Aus Mali ausgereist sind bis zum 29. Juni – also noch vor Abschluss des französischen Rückzugs – auch alle ­europäischen Kontingente der Task Force Takuba (benannt nach einer ­unter anderem bei Tuareg verbreiteten Art von Säbel), die in den vergangenen beiden Jahren als Militärkontingent der EU der französischen Armee hatte Entlastung verschaffen sollen.

Unklar ist derzeit der weitere Verbleib der Mission der Vereinten Nationen zur Stabilisierung Malis (Minusma). Die malische Regierung scheint ihre Arbeit erschweren zu wollen. Acht Angehörige der deutschen Bundeswehr, die bei der im April 2013 eingerichteten und insgesamt gut 11 000 Soldaten und Polizeiangehörige sowie über 1 000 Zivilangestellte zählenden UN-Truppe Dienst verrichteten, wurden am 14. Juli von den malischen Behörden an der Ausreise gehindert. Ihren zuvor bei einem zivilen Luftfahrtunternehmen gebuchten Flug konnten sie nicht antreten. Angeblich ging es dabei nur um fehlende Unterlagen. Gleichzeitig ordneten die in Mali Regierenden allerdings an, dass Minusma-Personal nicht mehr ausgetauscht werden dürfe, wohl um so die UN-Präsenz zu untergraben. Ägypten zog daraufhin sein Kontingent zurück.

Regionale Rivalitäten
Als vorläufig letzte Eskalationsstufe wies die malische Regierung Mitte ­voriger Woche den Sprecher der Minusma aus, den französisch-belgischen Staatsbürger Olivier Salgado. Er erhielt 72 Stunden Zeit, um das Land zu ver­lassen. In einem Kommuniqué warf ihm das malische Außenministeriums »tendenziöse und unakzeptable« schriftliche Äußerungen vor.

Gemeint war Salgados Stellungnahme zur Festnahme von 49 ivorischen Soldaten, die derzeit in den Räumlichkeiten einer Bildungsanstalt der malischen Gendarmerie – einer Art Militärpolizei, die dem Verteidigungsministerium untersteht – festgehalten werden. Sie waren am zweiten Julisonntag festgesetzt worden, die Regierung deutete an, sie seien zum Zweck der Destabilisierung des Staats, also für einen eventuellen Putschversuch in Mali eingereist.

Nach Regierungsangaben waren die Sicherheitsbehörden am Flughafen in Bamako aufmerksam geworden, weil die Soldatinnen und Soldaten aus dem Nachbarland mit falschen Berufszeichnungen – Kellnerin, Sicherheitsmann, Mechaniker – eingereist seien. Am folgenden Tag, dem 11. Juli, äußerte sich Salgado auf Twitter: Die 49 seien zwar nicht Teil der Minusma, aber »seit Jahren im Rahmen einer logistischen Unterstützung für eines unserer Kontingente in Mali« tätig gewesen. Eine Erklärung, die sich nicht unbedingt durch ein Übermaß an Klarheit auszeichnet.

Die Regierungen in Mali und dem südlich angrenzenden Nachbarland Côte d’Ivoire, der nach Nigeria zweitgrößten Nationalökonomie Westafrikas, stehen in einem notorisch angespannten Verhältnis zueinander. Seit den Tagen des von der Unabhängigkeit 1960 bis zu seinem Tod im Dezember 1993 ununterbrochen regierenden Patriarchen und Präsidenten Félix Houphouët-Boigny ist das politische Establishment der Côte d’Ivoire ein enger Verbündeter der post- oder neokolonialen Macht Frankreich wie auch der wirtschaftlichen Mächtigen in der gesamten Region.

Eine gelinde Veränderung hatte hier nur die Regierungszeit des als Linksnationalist auftretenden Präsidenten Laurent Gbagbo (2000 bis 2011) gebracht, der sich jedoch auch mit evangelikalen Kräften – vertreten durch seine Ehefrau Simone Gbagbo – verbündete. Er kündigte zwar keine Wirtschaftsbeziehungen auf, war aber um größere Distanz zu Frankreich bemüht und suchte stärkere ökonomische Anbindung an China. Nach einem mehrjährigen Bürgerkrieg und einer umstrittenen Wahl Ende 2010, bei der sich Gbagbo und sein Gegenkandidat Alassane Ouattara jeweils zu Siegern erklärt hatten, nahmen ihn im April 2011 französische Soldaten in Abidjan fest.

Dagegen zählt Mali neben dem Nachbarland Guinea zu jenen Staaten, in denen seit 2020/2021 jüngere Offiziere die Macht übernahmen – anders als in früheren Jahrzehnten ohne zuvor die Zustimmung Frankreichs eingeholt zu haben. Vielmehr wenden sich die Putschisten eher gegen französische Interessen. Unklar ist in dieser Hinsicht die Position Burkina Fasos, wo im Januar ebenfalls ein Putsch stattfand.

Aufgrund ihrer ökonomischen Bedeutung und ihrer Vormachtstellung gibt die Côte d’Ivoire in der 15 Staaten umfassenden westafrikanischen Wirtschaftsgemeinschaft Ecowas wesentlich den Ton an, muss aber auch mit den englischsprachigen Staaten Ghana und Nigeria, ebenfalls Regionalmacht, auskommen. Die Ecowas hatte wegen der Militärputsche seit Jahresbeginn poli­tische und ökonomische Sanktionen gegen Guinea, Mali und Burkina Faso verhängt. Am stärksten trafen diese Mali, sie schlossen das Land aus dem ­regionalen Zahlungssystem des westafrikanischen CFA-Franc aus.

Doch am 3. Juli hob die Ecowas auf ihrem Gipfel in Accra fast alle Sanktionen gegen Mali auf. Es blieben lediglich individuelle Sanktionen gegen Mitglieder der Militärregierung – vor ­allem gegen ihren Anführer Assimi Goïta – sowie der Entzug des Stimmrechts in den Gremien der Wirtschaftsgemeinschaft übrig. Diese Maßnahmen haben einen weitgehend symbolischen Charakter und sollen in Kraft bleiben, bis eine geordnete Übergabe der Macht an eine gewählte Regierung erfolgt.

Hintergrund dieser Entwicklung war, dass Länder wie Senegal und Togo, ­deren Hafenstädte Dakar und Lomé große ökonomische Bedeutung haben, beklagt hatten, die Handelssanktionen gegen Binnenländer wie Mali schädigten ihre eigene Ökonomie – zumal Mali die Häfen von Dakar und Lomé durch Exporte über Guinea und Mauretanien umging.

Restaurative Tendenzen
Nun scheint eine Art Versöhnung ehemaliger Feinde stattzufinden. Der Machthaber in der Côte d’Ivoire, der im Oktober 2020 auf umstrittene Weise wiedergewählte Präsident Alassane Ouattara, traf am 14. Juli seine beiden Amtsvorgänger Laurent Gbagbo und Henri Konan Bédié. Zweck der Übung ist es wohl, die innenpolitische Lage zu beruhigen. Gbagbo war zuvor vom Internationalen Strafgerichtshof in Den Haag, wohin Frankreich und Ouattara ihn als angeblichen Haupt- oder gar Alleinverantwortlichen für Kriegsverbrechen in der Côte d’Ivoire übersandt hatten, freigesprochen worden.

Ouattara trug aber auch maßgeblich dazu bei, dass der im Oktober 2014 nach 27jähriger Präsidentschaft von der Bevölkerung gestürzte burkinische ­Autokrat Blaise Compaoré am 7. Juli aus seinem ivorischen Exil zu einer mehr­tägigen Konferenz in sein Herkunftsland einreisen konnte. Das schien umso überraschender, als ein burkinisches Militärgericht Compaoré am 6. April wegen seiner Beteiligung an der Ermordung seines linksorientierten Amtsvorgängers Thomas Sankara im Jahr 1987 in Abwesenheit zu lebenslanger Haft verurteilt hatte. Doch vor der Konferenz waren offenkundig Garantien für ihn ausgehandelt worden; der burkinischen Militärregierung dürfte es darum gegangen sein, ihre Bereitschaft zur ­Unterstützung restaurativer Tendenzen, einer Rückkehr zu Verhältnissen wie unter Compaoré, unter Beweis zu stellen.

Eine »neue Militärstrategie« in Afrika und insbesondere im Sahel haben Regierungskreise in Paris vor allem zum diesjährigen National­feiertag am 14. Juli angekündigt. Bislang bleibt jedoch vieles im Dunklen.

Frühere Feindschaften zu vergessen, könnte der regionalen Blockbildung dienen, möglicherweise auch dazu, insgesamt auf größere Distanz zu Frankreich zu gehen. Dessen Regierung wird nun eine neue diplomatische Strategie für die Region entwickeln müssen. Eine »neue Militärstrategie« in Afrika und insbesondere im Sahel haben ­Regierungskreise in Paris vor allem zum diesjährigen Nationalfeiertag am 14. Juli angekündigt. Bislang bleibt jedoch vieles im Dunklen.

Es dürfte jedoch feststehen, dass die Reise von Präsident Emmanuel Ma­cron, der sich diese Woche zu Staatsbesuchen unter anderem in Kamerun sowie Benin aufhielt, in engem Zusammenhang damit steht. Begleitet wurde Macron von Verteidigungsminister Sébastien Lecornu, Außenministerin ­Catherine Colonna und Außenhandelsminister Olivier Becht.

Vor allem das westafrikanische Benin, das im Norden an die Sahelzone grenzt, soll verstärkt in eine französische Strategie eingebunden werden. Benin verzeichnete in den vergangenen Jahren verstärkt jihadistische Aktivitäten in den nördliche Randgebieten seines Territoriums, zwischen Ende November vorigen und Ende Juni dieses Jahres fanden 20 bewaffnete Attacken statt.

Innenpolitisch wurden die Verhältnisse in Benin insbesondere im Zusammenhang mit der Präsidentschaftswahl 2021 autoritärer, unter anderem wurden Opponenten des Präsidenten Patrice Talon inhaftiert. Deswegen nahm Frankreich Benin 2020 von der Liste der Länder, die bei Asylverfahren als sichere Herkunftsstaaten gelten. Da Frankreich nach einer Entscheidung Macrons im vorigen Jahr in der Kolonialzeit geraubte Kunstgegenstände zurückgab, besserten sich die Beziehungen mit Benin, überdies gewann man Sympathien in der Zivilgesellschaft.

Benin zählt traditionell nicht zu den Stationierungsländern der französischen Armee, in den Jahrzehnten nach der Unabhängigkeit von 1960 bis zur Auflösung des Warschauer Pakts war das Land außenpolitisch mit der Sowjetunion liiert. Eine am Donnerstag voriger Woche publizierte Meldung der Nachrichtenagentur AFP spricht davon, Benin ersuche Frankreich um Luftunterstützung, Nachrichtentechnik und Ausrüstung.

Umgruppierung der Interventionstruppen
Frankreichs vorläufig »letzter Alliierter im Sahel«, so das französische Wochenmagazin L’Obs, ist Benins nördlicher Nachbar Niger. Dorthin reisten am 15. Juli Außenministerin Colonna und Verteidigungsminister Lecornu. Rund 1 000 französische Soldaten sind dort derzeit stationiert. Während die französischen Truppen der Operation Barkhane aus Mali gedrängt werden, gruppieren sie sich L’Obs zufolge »rund um die Hauptstadt Niamey neu«. Nach Angaben von Le Monde werden derzeit 5 000 Container per Luftfracht von den bisherigen französischen Armeebasen in Mali in das Nachbarland transportiert. Zugleich spricht die Zeitung unter der Überschrift »Niger, Laboratorium von Barkhane« davon, die »Anklage des Neokolonialismus«, die sich in den vergangenen Jahren in Mali in der öffentlichen Meinung verbreitet habe – in der jüngsten Zeit verstärkt durch russische Agitation –, erklinge »bereits auch in den Straßen von Niger«.

Die Kommandoebene soll allerdings erheblich umstrukturiert werden; formal soll, wie der in Niamey stationierte französische Oberst Tugdual Barbarin Le Monde sagte, die nigrische Armee das Oberkommando übernehmen und die französische ihr untergeordnet werden, im Unterschied zu allen bisherigen Einsätzen in der Sahelzone seit 2013. In Anbetracht der Kräfteverhältnisse dürfte in der Realität allerdings kaum der Schwanz mit dem Hund wedeln.

Die gegen die französischen Interventionstruppen erhobenen Vorwürfe – etwa dass sie afrikanische Truppen bei jihadistischen Angriffen im Stich ließen – sind schwer verifizierbar. Zweifellos aber fehlt in Frankreich und an­deren Interventionsstaaten eine kritische Bilanz der nunmehr seit zehn Jahren andauernden Militäreinsätze. Trotzdem ist nicht ersichtlich, wie die Terrorbekämpfung ohne französische und multinationale Truppen erfolgreicher sein könnte. Der Konflikt um die Autonomie der Tuareg-Regionen in Mali zeigt zudem, dass grundlegende innenpolitische Probleme der westafrikanischen Staaten ungelöst bleiben.

Bislang gibt es keine Anzeichen dafür, dass die neuen Militärherrscher – anders als etwa Sankara in den achtziger Jahren – zu grundlegenden Reformen bereit wären. Der Vormarsch der Jihadisten geht unterdessen weiter. Am Freitag voriger Woche attackierte die vorwiegend in Zentralmali operierende jihadistische Kampftruppe Katiba ­Macina das Militärcamp von Kati, nur etwa 15 Kilometer nordwestlich der Hauptstadt Bamako. Ihr Angriff wurde zurückgeschlagen, doch hat sie mit ihm unter Beweis gestellt, dass sie in der Lage ist, den Sitz der Macht mit Waffen zu attackieren.