Ein Gespräch mit Mukaddas Mijit und Jessica Batke über die Unterdrückung der Uiguren

»Ein System der allgegenwärtigen Überwachung«

Interview Von David Demes

Interniert im »Ausbildungszentrum«. Mukaddas Mijit und Jessica Batke sprechen über das interaktive Theaterstück »Everybody Is Gone« über die Unterdrückung von Uigurinnen und Uiguren in China.

In der »Alten Münze« in Berlin-Mitte findet noch bis zum 2. August das interaktive Live-Event »Everybody Is Gone« über die Situation der Uigurinnen und Uiguren in China statt. Worum geht es genau bei der Veranstaltung?

Jessica Batke: Wir möchten den Teilnehmern vermitteln, wie es sich anfühlt, in einem Raum zu sein, der sich ohne ihr Einverständnis ständig verändert, und gleichzeitig Aufmerksamkeit dafür schaffen, wie sich das konkret in der Region der Uiguren manifestiert. Vor allem wollen wir mit den ­Leuten auf einer emotionalen Ebene ins Gespräch kommen.

Mukaddas Mijit: Jeder von uns hat Erfahrungen mit Überwachung. In der Region der Uiguren geht die staatliche Kontrolle aber noch viel weiter. Wir wollen die Erfahrungen aus dem Alltag der Zuschauer nutzen, um ihnen das Schicksal der Uiguren besser begreifbar zu machen. In Wahrheit besitzen sie alle Werkzeuge, die man braucht, um zu verstehen, was dort geschieht.

JB: Es geht nicht nur um die Menschen, die im Rachen des Sicherheitsapparats verschwinden, sondern auch um die Erfahrungen in der Diaspora. Für die Verwandten und Freunde im Ausland fühlt es sich tatsächlich so an, als ­wären alle verschwunden. Man ist komplett von seinen Angehörigen abgeschnitten. Selbst wenn Uiguren nicht in ein Lager, eine Fabrik oder ein Gefängnis gesteckt wurden, müssen sie extrem vorsichtig sein und sich in ­jeder sozialen Interaktion neu orientieren. Diese Erfahrungen verändern ­einen ganz grundlegend. In einem gewissen Sinn verschwindet also auch ein Teil von dir.

MM: Die Zuschauer werden sich vermutlich unwohl fühlen und die Erfahrung wird bei einigen von ihnen vielleicht auch eigene Traumata triggern. Wir haben Mitarbeiter vor Ort, die das Publikum betreuen können. Besonders ­sorgen wir uns natürlich um die uigurischen Zuschauer und haben jemanden, der sich speziell um sie kümmert.

JB: Es ist auf jeden Fall ein Balanceakt. Unser Projekt ist einzigartig, da es immersiv und interaktiv ist. Wir wollen also, dass die Zuschauer aktiv daran teilnehmen, anstatt nur passiv zuzuschauen. Das ist eine Spannung, die in vielen Kunstwerken existiert. Nicht jede Kunst löst nur positive Gefühle im Betrachter aus. In diesem Sinne ist unser Projekt also nichts Unorthodoxes. Es ist einfach eine interaktive Erfahrung.

Sie sagen, dass Sie auf die emotionalen Reaktionen vor allem uigurischer Zuschauer vorbereitet sind. Haben Sie denn auch Vorkehrungen für die möglichen Reaktionen Han-chinesischer Zuschauer getroffen?

MM: Wir gehen natürlich davon aus, dass auch chinesische Zuschauer teilnehmen und das Einzelne versuchen könnten, die Veranstaltung zu stören. Wir wissen zwar noch nicht genau, wie das konkret aussehen könnte, aber wir versuchen, so viel wie möglich zu anti­zipieren, um zu verhindern, dass irgendetwas schiefläuft. Immerhin haben wir auch eine Verantwortung gegenüber unseren Künstlern und den Schauspielern. Wie können wir zum Beispiel mit Gewalt aus dem Publikum umgehen? Das sind alles Fragen, über die wir in unserer Gruppe gesprochen haben.

Sie bezeichnen Ihr Projekt als »immersive journalism«. Was ist das genau?

JB: Alle Elemente, die im Rahmen des Projekts präsentiert werden, basieren auf Berichten aus der Region. In vielen Fällen konnten wir einfach Beiträge der chinesischen Behörden in sozialen Medien ins Englische übersetzen, ohne dass wir aus dramaturgischen Gründen irgendwelche Änderungen vornehmen mussten. Der Grund dafür, dass wir es als Journalismus bezeichnen, liegt darin, dass das Stück so gut recherchiert ist und wir alle Quellen für die Zuschauer bereitstellen. Wir haben unser Bestes getan, um die Situation in Xinjiang auf Grundlage von verifizierten Primärquellen zu rekonstruieren.

Sie arbeiten bereits seit drei Jahren an »Everybody Is Gone«. Wie kam es dazu?

MM: Ich habe seit Anfang 2018 auf verschiedene Art und Weise versucht, mit Kunst, Tanz, Musik und Gedichten ein Bewusstsein für die Situation der Uiguren zu schaffen. Vorher war ich überhaupt nicht politisch aktiv und habe nicht darüber gesprochen, was passiert ist. Aber es gab einen Punkt, an dem ich nicht weiter still sein konnte.

Was war das für ein Schlüsselmoment, der Sie so politisiert hat?

MM: Anfang 2017 ist der Kontakt zu meinen Freunden in der Region plötzlich abgebrochen. Leute haben mich von ihrem Wechat (chinesischer Messenger-Dienst, Anm. d. Red.) gelöscht und selbst meine besten Freunde waren nicht mehr erreichbar. Eigentlich wollte ich daraufhin die Region besuchen, aber eine Freundin schickte mir eine Nachricht, um mich zu warnen. Sie schrieb: »Komm besser nicht. Dieser Sommer ist sehr kalt.« Kurz darauf begannen wir, von den Lagern und dem Verschwinden von Personen zu hören. Auch einige meiner Freunde verschwanden. Wie viele andere Uiguren im Ausland war ich schockiert und wusste nicht, wie ich damit umgehen sollte. Meine erste Aktion war dann eine Tanzperformance auf der New Yorker Brooklyn Bridge. Das war eine Form des künstlerischen Widerstands. Während meines Tanzes liefen die Menschen teilnahmslos an mir vorbei. Für mich war das sehr symbolisch dafür, wie die Welt auf die Geschehnisse in der Region der Uiguren reagiert.Viele meiner Freunde können sich nicht öffentlich äußern, weil ihre Familien noch in China sind. Meine Eltern und Geschwister sind in Sicherheit, deshalb ist es meine Pflicht, mich zu äußern. Trotzdem würde ich nicht sagen, dass ich politisch aktiv bin. Ich bin Künstlerin und nutze jede Möglichkeit, mich künstlerisch zur Situation der Uiguren auszudrücken.

Warum haben Sie für Ihre Premiere Berlin gewählt?

JB: Es gibt ganz offensichtliche historische Parallelen zur Geschichte Berlins und autoritären Systemen im Allgemeinen. Sie schränken Leute in ihren Handlungsmöglichkeiten, ihrer Redefreiheit und politischen Aktivitäten ein und schaffen ein System der allgegenwärtigen Überwachung. Es ist einfach, die Situation der Uiguren im Kontext eines Hightech- und Hochglanz-Überwachungsstaats mit Gesichtserkennung et cetera zu sehen. Das ist natürlich richtig. Was unterschätzt wird und eng mit den Erfahrungen der Deutschen verbunden ist, sind die Überwachung und Bespitzelung zwischen Nachbarn, Familienmitgliedern und Freunden. Wir sind sehr froh, dass wir mit der »Alten Münze« einen Veranstaltungsort in Ostberlin gefunden haben. Also einen Ort, an dem die Menschen einem ähnlichen Überwachungsstaat ausgesetzt waren.

MM: Eine unserer Schauspielerinnen aus Berlin hat erzählt, wie lebendig diese Erinnerungen in der älteren Generation noch heute sind. Dass Leute, die an der Show teilnehmen, wirklich verstehen, was passiert, und es mit ihrer eigenen Geschichte verbinden können.

Wie würden Sie die derzeitige Situation in Xinjiang beschreiben? Die chinesische Regierung beteuert, dass die meisten Uiguren die so­genannten Ausbildungszentren bereits verlassen hätten.

JB: Zum einen sind die Möglichkeiten für Journalisten, aus der Region zu berichten, durch die Pandemie noch geringer worden, zum anderen hat die chinesische Regierung ihre Bemühungen intensiviert, das internationale Narrativ über die Lage in der Region in ihrem Sinne zu beeinflussen. Soweit wir wissen, wurden einige der Lager geschlossen oder teilweise umfunktioniert. Aber das bedeutet nicht, dass alle Menschen, die dort interniert waren, jetzt frei sind. Viele von ihnen werden in das offizielle Gefängnissystem überführt. Andere werden in Fabriken zur Arbeit gezwungen. Und selbst diejenigen, die entlassen werden, sind im Netz des Überwachungsstaats gefangen. Auch sie sind also nicht frei, ihr Leben zu leben. Sie können nicht gehen, wohin sie wollen, und werden sozial isoliert. Es ist also nicht nur der Tod der Bewegungsfreiheit, sondern auch ein sozialer Tod, der die Betroffenen sehr hart trifft.

Die Pandemie hat es den Behörden noch leichter gemacht, Journalisten den Zugang zur Region zu verwehren. Das entstehende Informationsvakuum haben die Behörden mit ihrem eigenen Narrativ über die Situation vor Ort gefüllt. Einige dieser Versuche sind erfolgreicher und professioneller als andere, aber es passiert, und das ständig. Ich hoffe, dass sich die Menschen dieser Propaganda bewusst sind und ihr kein Gehör schenken.

MM: Eines ist doch klar: Wir haben bis heute keine Möglichkeit, ungehindert mit unseren Freunden und Familien in China zu kommunizieren. Uiguren können nicht einfach das Land verlassen, können nicht reisen.

 

Mukaddas Mijit

Mukaddas Mijit ist eine uigurische Ethnomusikologin, Filmemacherin, Tänzerin und Aktivistin. Sie wurde im Mai 1982 in Ürümqi (Urumtschi), der Hauptstadt des Uigurischen Autonomen Gebietes Xinjiang in der Volksrepublik China, geboren und lebt ­derzeit in Frankreich.

 

Jessica Batke
 
Jessica Batke ist leitende Redakteurin der Website China File und Expertin für Innen­politik und Gesellschaft Chinas. Sie ist die Urheberin des Projekts »Everybody Is Gone«, das sich als interaktives Theaterstück mit der Unterdrückung der Uigurinnen und Uiguren in China beschäftigt. Beide sind Mitglieder des Künstlerkollektivs »The New Wild«, das journalistische ­Elemente mit Schauspiel und Exponaten verbindet.